Klimaprotest: „Lützerath hätte nicht passieren dürfen“

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​​Rênas Sahin hat dieser Tage alle Hände voll zu tun. Im Protestcamp in Keyenberg, wenige Kilometer von Lützerath entfernt, kümmert sich der Vorsitzende der Grünen Jugend in NRW um seine Mitglieder. Einige Dutzend von ihnen haben im Schlamm eines ehemaligen Sportplatzes ihr Zelt aufgeschlagen und sich mitten hineinbegeben in den aktiven Klimaprotest. Sahin animiert sie, sich einzubringen in die Community: Teller waschen, Kartoffeln schälen, was eben so anliegt. Sahin selbst kocht zwar gerne, aber im Moment ist er mit Koordination und Aktion beschäftigt. Am Donnerstagmittag wollte er gemeinsam mit Parteifreundin Luisa Neubauer an einer Blockade teilnehmen. Bis zum Protestort kam er erst gar nicht. Er wurde zuvor von der Polizei eingekesselt.

Nun sitzt Sahin in einem Bretterverschlag am Rande des Keyenberger Protestcamps, wo sich Hunderte Menschen versammelt haben, um ihre Solidarität mit den Aktivisten in Lützerath zu demonstrieren. Auf dem Waldweg hinter ihm brennt ein ziviles Polizeifahrzeug, eine Hundertschaft ist angerückt, um den Tatort zu sichern. Offenbar hatte jemand eine Silvesterrakete auf das Auto geschossen.

Für die Grüne Jugend ist es wichtig, Präsenz zu zeigen. Auch dort, wo sich mitunter Aktivisten aufhalten, die es mit dem friedlichen Protest nicht so genau nehmen. Für die Partei geht es spätestens seit der inzwischen fast abgeschlossenen Räumung um sehr viel. Um Image und Glaubwürdigkeit und darum, dass die immensen Fliehkräfte der Klimadebatte die Partei nicht zerreißen.

​​Rênas Sahin

Sahin und seine Grüne Jugend haben derzeit einen schweren Stand. An der Basis der Klimaprotestbewegung sind sie so etwas wie ein Prellbock, der all den Groll der Demonstranten auf die Mutterpartei abbekommt. Sahin hingegen versteht die Rolle der Grünen Jugend anders. Sie wollen nicht den politischen Ausputzer für Berlin und Düsseldorf spielen. „Wir sind weder Scharnier noch Brücke. Wir sind Teil dieser Protestbewegung.“ Er könne verstehen, dass die Menschen enttäuscht und frustriert seien über die Partei, sagt er. „Lützerath hätte nicht passieren dürfen. Die Vereinbarung mit RWE war falsch.“

Dieser Deal kam im vergangenen Oktober zustande. Verhandelt hatten ihn Wirtschaftsminister Robert Habeck und seine nordrhein-westfälische Amtskollegin Mona Neubaur, zwei Grüne also. Der Inhalt: Der Kohleausstieg in NRW kommt 2030 statt 2038, fünf von sechs Dörfern am Tagebaurand von Garzweiler II bleiben erhalten. Lützerath aber blieb Verhandlungsmasse – und wurde letztlich geopfert. Im Sommer noch hatten die Grünen in einem Bundestagsbeschluss einstimmig dafür votiert, Lützerath zu erhalten. 

Vielen Braunkohlegegnern galt der Kompromiss als Hochverrat. Der Weiler in der Nähe von Mönchengladbach hat den Grünen ein nahezu beispielloses Imagedesaster eingebracht. Und das, obwohl die Partei in der Region jahrzehntelang gegen die Braunkohleausbeutung gekämpft hatte.

Wie schon häufiger in der Geschichte der Grünen ist die Partei in zwei Lager gespalten, Realos und Fundis. Erstere akzeptieren eher, dass man als Regierungspartei zu Kompromissen bereit sein muss. Letztere betonen, dass man an erster Stelle den eigenen Grundwerten verpflichtet sei, ganz egal in welcher Koalition. Derzeit stehen sich die beiden Lager beinahe unversöhnlich gegenüber.

„Man wollte uns in Misskredit bringen“

Rênas Sahin ist zwar erst 21 Jahre alt, aber er versteht es bereits, Dinge, die intern brodeln, möglichst diplomatisch zu vermitteln. Von einer Spaltung innerhalb der Partei will der Politikstudent nicht sprechen. Das sei zu hoch gegriffen. „Die Entscheidung zu Lützerath halten wir politisch wie strategisch für falsch. Mit Sicht auf die Klimakrise ist sie unzeitgemäß.“

Lützerath ist nicht nur Symbol für die Klimaprotestbewegung geworden. Am schlammigen Rand des Tagebaus Garzweiler II zeigt sich auch die ganze Zerrissenheit der Grünen in der Frage, wie viel Kompromiss bei diesem Thema akzeptabel ist. Abgeordnete reisen an, um sich solidarisch zu zeigen und gleichzeitig zu rechtfertigen, dass nun mehr als Tausend Polizisten den Ort durchkämmen und Umweltaktivisten aus Bäumen und Häusern ziehen. Willkommen sind sie hier nicht wirklich. Auf ihrem Protestkonzert am Sonntag stimmte die Band AnnenMayKantereit ein Schmählied auf den grünen Wirtschaftsminister an: „Habeck, Habeck, du warst mal ok, doch dann kam RWE.“ Auch die Aktivisten finden deutliche Worte: Verräter, Establishment, Kohlekumpels. Eine sagt: „In der Opposition 1,5-Grad-Politik versprochen. Als Regierungspartei Versprechen gebrochen.“   

„Man wollte uns in Misskredit bringen“

Dass die Wut auf die Grünen radikaler wird, zeigte sich in den vergangenen Tagen an unterschiedlichen Orten. Am Dienstag kippte ein Protestbündnis 250 Kilogramm Braunkohlebriketts vor die Düsseldorfer Parteizentrale, am Mittwoch wurde in Aachen die Fensterscheibe der Kreisgeschäftsstelle eingeschlagen. Am Donnerstag war wieder die Parteizentrale dran. Aktivisten drangen in die Büros ein und besetzten sie bis in die späte Nacht. Ihre Forderung: Ein Moratorium für Lützerath, vorher würden sie nicht gehen. Die Partei nannte es „politische Erpressung“ und holte die Polizei. Umweltaktivisten, die von Beamten aus einer Parteizentrale geholt werden – so etwas hätte man früher nur bei der CDU erwartet. „Man wollte uns in Misskredit bringen. Es ging genau darum, diese Bilder zu erzeugen“, vermutet Verena Schäffer.

Verena Schäffer

Die Fraktionschefin der Grünen im Landtag von NRW war am Donnerstag ebenfalls in Lützerath, am Tag zwei der Räumung. Den Anblick der bereits geräumten Häuser habe sie als beklemmend empfunden. Sie hatte auch einen Blick in die teils zerstörten Gemäuer geworfen. In einem Frühstücksraum brannten noch die Kerzen. „Ich finde es gut, dass so viele grüne Abgeordnete vor Ort in Lützerath ansprechbar sind und den Einsatz begleiten“, sagt sie am Freitagvormittag. Emotional sei das schon anstrengend. „Aber wir müssen im Dialog bleiben. Das ist keine Floskel.“

„Der Druck der Straße wird auch nach Lützerath nicht weniger werden“

Natürlich sei es nicht gut, dass Lützerath nun im großen Braunkohleloch verschwinden wird. Die Kritiker aber, sagt Schäffer, machten es sich zu einfach. „Dass RWE Lützerath abbaggern darf, ist über Gerichte ausgeurteilt. Wir leben in einem Rechtsstaat. Daran war nichts mehr zu ändern.“ Im öffentlichen Bewusstsein sei zudem offenbar untergegangen, dass der Kohleausstieg 2030 vor der Vereinbarung mit RWE im Oktober noch gar nicht verbindlich gewesen sei. Erst Habeck und Neubaur hätten die Pflöcke eingeschlagen. „Erst seitdem haben wir Planungssicherheit und das mitten in einer Energiekrise“ Eine Spaltung oder gar einen Bruch innerhalb der Partei will auch Schäffer nicht erkennen. Die Grünen stünden nach wie vor für eine erfolgreiche Klimapolitik. „Unser Problem ist, dass wir es derzeit nicht schaffen, unsere Erfolge gut genug zu kommunizieren.“

Es wird Zeit brauchen, bis der Bruch zwischen Spitze, Basis, Wählern und Sympathisanten wieder zugewachsen ist. Sahin sagt, dass die Grünen immer dann am stärksten waren, wenn sie Politik Hand in Hand mit der Zivilgesellschaft machten. „Auf unsere Partei wurde die Hoffnung auf 1,5-Grad-Politik projiziert. Dem müssen wir gerecht werden. Denn der Druck der Straße wird auch nach Lützerath nicht weniger werden.“

Der Druck wird am Samstag noch einmal steigen. Aktionsbündnisse haben zu einer Großdemo am Rande von Lützerath gerufen. Stargast: Greta Thunberg. Und es droht schon die nächste Zuspitzung der parteiinternen Konfrontation: Mehr als 2.000 Parteimitglieder fordern in einem offenen Brief einen Räumungsstopp. Das Schreiben an Habeck und Neubaur trägt die Überschrift: „Grüne Grundwerte nicht verraten: Lützerath muss bleiben“. Sie werden aufgefordert, die „Polizeigewalt zu beenden und den Konflikt und die Klimakrise nicht eskalieren zu lassen“. Der Brief endet mit einem Dank an die Aktivistinnen und Aktivisten in Lützerath.

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