Klaus Hommels: „Ukraine kann zum Zentrum neuer Verteidigungsindustrie werden“

Klaus Hommels: „Ukraine kann zum Zentrum neuer Verteidigungsindustrie werden“

Herr Hommels, Sie sind seit 2023 Aufsichtsratschef des NATO Innovation Fund, der Investitionen in die Resilienz der NATO-Staaten tätigen soll. Warum haben Sie die Stelle angenommen?

Europa steht an einem Wendepunkt. Ich glaube, gute Wagniskapitalinvestoren jagen nicht einfach dem Geld nach, sondern wollen aus Überzeugung bestimmte Probleme lösen. Durch Investitionen in das Raumfahrt-Start-up Isar Aerospace oder das Drohnen-Start-up Auterion ist mir wieder klar geworden, wie groß der Einfluss einer einzelnen Technologie auf die Souveränität eines Landes oder eines ganzen Kontinents sein kann. Wenn das Satellitennetzwerk Starlink von Elon Musk mal komplett ausgerollt ist und er eine Kooperation mit Apple eingeht, brauchen Sie die gesamte europäische Telekommunikationsindustrie nicht mehr. Wir haben aber kein eigenes Starlink. Wir haben den enorm wichtigen Wirtschafts- und Souveränitätsraum Weltall komplett outgesourct und andere systemrelevante Plattform-Technologien unterpriorisiert. Genau diese Themen hat auch die NATO auf der Agenda, und so haben wir zusammengefunden.

Der NATO Innovation Fund investiert ja nicht nur in direkte Rüstungs-Start-ups, sondern beispielsweise auch in Raumfahrtunternehmen wie Isar Aerospace. Welche Überlegungen stecken dahinter?

Der NATO Innovation Fund hat wenig mit Rüstung im klassischen Verständnis zu tun. Ziel ist, in Technologien zu investieren, die die Verteidigungsfähigkeit der NATO-Mitgliederstaaten verbessern, und sie den Streitkräften zugänglich zu machen. Und es soll sichergestellt werden, dass diese Technologien eine Standardisierung und Interoperabilität innerhalb der Mitgliederstaaten haben und gewährleisten.

Was verstehen Sie denn genau unter so einer modernen Verteidigungsfähigkeit?

Wir haben in der Ukraine gesehen, wie Drohnen und unbemannte Systeme einen gewaltigen Unterschied in der Verteidigung machen. In vielen Bereichen führt dies zu sehr asymmetrischen Situationen. Was ich damit meine, ist, dass es Sinn gemacht hat, mit einer teuren Boden-Luft-Rakete ballistische Angriffe abzuwehren. Aber eine 200.000 Euro teure Abwehrrakete gegen eine 25.000 Euro teure Angriffsdrohne einzusetzen, ist ökonomisch für Länder nicht tragfähig. Diese Situation sehen wir auch im maritimen Bereich. Dort hat ein Start-up, das unbemannte Speedboote einsetzt, Flotten derart zugesetzt, dass dadurch die Exportfähigkeit, sprich die Lieferung von Getreide, aufrechterhalten werden konnte. Wenn wir über moderne Verteidigungsfähigkeit sprechen, dann geht es um unbemannte Systeme, um Drohnen, um Sensoren. Diese Technik sollte schnellstmöglich unseren Soldaten zugänglich sein und diese unterstützen.

„Brutale Kräfte“: Klaus Hommels sieht die Ukraine als Kern einer europäischen Verteidigungsindustrie.
„Brutale Kräfte“: Klaus Hommels sieht die Ukraine als Kern einer europäischen Verteidigungsindustrie.Picture Alliance

Aktuell geht es in der politischen Diskussion aber meist um Investitionen in klassische Rüstungsgüter, in Munition, in Panzer, in Kampfjets. Verschlafen wir moderne Wehrtechnik?

Wir müssen massiv aufrüsten, um uns wenn nötig verteidigen zu können. Die klassischen Rüstungsgüter brauchen alle so eine lange Vorlaufzeit, dass eine Aufrüstung alleine darüber sehr lange dauert. Neuartige Technologien sind wesentlich flexibler und günstiger. Und Ökonomie spielt eine wichtige Rolle, damit sich Staaten wie die Ukraine möglichst effizient aufrüsten können.

Woher sollen diese neuartigen Technologien in Europa kommen?

Europa hat heute schon Hoffnungsträger in dem Bereich. Allerdings funktioniert die Beschaffung ganz anders im Falle von Firmen, die Wagniskapital aufgenommen haben. Bisher haben die Verteidigungsministerien immer einen Bedarf identifiziert und sind damit zu den Produzenten gegangen, die dann für die Auftragsproduktion bezahlt wurden. Da sind dann erst mal alle Beteiligten zufrieden. Das sorgt dafür, dass von den Verteidigungsministerien kaum Druck ausgeübt wurde. Wenn es länger gedauert hat, hat es länger gedauert oder ist eben teurer geworden. Durch die Finanzierung mit Wagniskapital widmen sich Gründer vermehrt dem Thema Defense Tech – das beobachten wir bei unseren Investments. Es ist ein Ökosystem entstanden, das sich rasend schnell entwickelt. Es gibt tolle Firmen – wie Helsing –, die als Leitfigur für das ganze europäische Ökosystem dienen und vielen Gründern Vorbild sind. Um das Potential dieser Technologien auszuschöpfen, ist jedoch ein Umdenken in der Beschaffung und der Förderung erforderlich – die Vergabe und Finanzierung muss schneller, flexibler erfolgen.

Inwiefern läuft das bei Start-ups anders?

Gründer haben einfach gesagt eine Idee, die womöglich helfen könnte. Dann holen sie sich Kapital dafür, entwickeln die Technik, stellen diese vor und verkaufen dann das fertige Produkt. Das ist ein ziemlicher Unterschied in der Herangehensweise. Hätten Sie 1910 die Mobilitätsbranche gefragt, welche Innovation es braucht, hätten diese wahrscheinlich geantwortet: schnellere Pferde und gefederte Kutschen. Sprunginnovationen wie damals das Auto kommen heute von wagniskapitalfinanzierten Gründern.

Woher soll das Geld dafür kommen?

Das kann schon zum Teil von ganz normalen Wagniskapitalinvestoren kommen. Investitionen in die Rüstungstechnik der Zukunft können sich unfassbar lohnen. Wir haben das bei Lakestar mal durchgerechnet. Würde der europäische Teil der NATO die Rüstungsinvestitionen etwa auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anheben, lägen die Rüstungsinvestitionen der europäischen NATO-Staaten bei 613 Milliarden Euro statt bei 350 Milliarden Euro heute. Wenn davon zehn Prozent in neue Technologien fließen, dann bringt das plötzlich gut 60 Milliarden Euro an Nachfrage. Bei einem Maßstab von Umsatz zu Unternehmenswert von eins zu vier sprechen wir dann von einer Marktkapitalisierung von bis zu 240 Milliarden im Jahr für die nächsten zehn Jahre. Das rechtfertigt für Investoren absolut einen Einstieg in die Branche.

Als Politiker wie Robert Habeck von den Grünen oder Friedrich Merz und Markus Söder von der Union diese 3,5 Prozent zuletzt gefordert haben, gab es scharfe Kritik. Im Kern geht es um die Frage: Wie sollen die 3,5 Prozent finanziert werden?

Die zusätzlichen Investitionen in die Verteidigung lohnen sich ja auch gesamtwirtschaftlich, jedenfalls wenn sie zu einem guten Teil lokal investiert werden: Zusätzliche Rüstungsinvestitionen schlagen sich erfahrungsgemäß mit 80 bis 120 Prozent auf das Bruttoinlandsprodukt nieder. Ungefähr ein Viertel der Investitionen holen die Staaten wieder über zusätzliche Steuereinnahmen rein. Und die Haushaltseinkommen steigen auch um 40 bis 60 Prozent der zusätzlichen Investitionen. Das einbezogen, läuft es mittelfristig auf folgende Frage hinaus: Will ich als Deutschland mich nicht verteidigen können und mit 63 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet sein? Oder will ich mich verteidigen können und mit 68 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet sein?

Sie plädieren also für eine höhere Verschuldung?

Temporär. Ohne neue Verschuldung werden wir unsere Verteidigungsfähigkeit nicht darstellen können, daher: Ja, ich plädiere für eine zielgerichtete Verschuldung für die Verteidigung, für soziale Transferleistungen absolut nicht. Wir können uns das leisten. Alle anderen sind noch viel schlimmer als Deutschland verschuldet. Wir müssen da eine Führungsrolle in Europa übernehmen.

Braucht es dafür in Zukunft dann die klassischen Rüstungskonzerne noch?

Die klassischen Rüstungskonzerne haben einen festen Platz im Defense-Ökosystem. Die eigentliche Frage ist: Wer von den Start-ups kann ein eigener Branchen-Primus werden, und wie sieht der Markt für die kleineren Firmen aus? In der Pharmaindustrie nehmen die großen Konzerne wie Novartis eine katalysierende Rolle ein. Sie sind sehr stark im Bereich Regulatorik und Distribution, etwa in der Zulassung. Die Innovation wird oft dergestalt gelöst, dass man konstant Start-ups kauft, denen man dann bei Regulatorik und Distribution hilft. Diese Firmen haben oftmals viele Spezialisten für die formalen Beschaffungsprozesse, die unter anderem die Zulassung vorantreiben, und lang reichende Vertriebsbeziehungen, um die neue Technologie in den Markt zu bringen. Es kann schon sein, dass die ­Zukunft des Rüstungsmarkts auch so aussieht: dass die Lockheeds, die Rheinmetalls, die Airbusse dieser Welt hauptsächlich Technologie-Start-ups zukaufen und in ihre Vertriebsmechanismen integrieren.

Davon sind wir sicherlich noch ein gutes Stück entfernt. Wie weit ist das deutsche Defense-Tech-Ökosystem?

Wenn wir über die deutsche Verteidigungsfähigkeit sprechen, müssen wir immer auch über Europa sprechen. Vor zwei Jahren musste man das Ökosystem noch komplett neu entwickeln, da hat fast gar keiner in Rüstung investiert – auch weil viele im Sinne der ESG-Taxonomie dem Thema ablehnend gegenüberstanden. Das hat sich geändert. Viele Unternehmer erhalten inzwischen Kapital für Rüstungsideen. Viele haben diesen Patriotismus, den es dafür braucht. Und mit dem Münchener Rüstungs-KI-Start-up Helsing oder Auterion haben wir auch die ersten europäischen Beispiele, die zeigen, dass das ökonomisch erfolgreich sein kann. Wir müssen nur aufpassen, dass wir genügend europäisches Kapital für diese Unternehmen zusammenbekommen. In dem Moment, in dem das Geld hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten kommt, werden oft auch die Zentralen der Start-ups und in der Folge die Governance exportiert.

Und was können wir dagegen unternehmen?

Der Wettbewerb mit amerikanischen Investoren wird sehr kompliziert, da müssen wir ehrlich sein. Es wird im Bereich Defense Tech künftig auch um Tickets einzelner Investoren von mehr als 100 Millionen Euro in ein Unternehmen gehen. Dann haben die Top-Gründer die Wahl zwischen amerikanischen Investoren mit 100 Millionen Euro im Portemonnaie, mit einem großen Namen und hilfreichen, erfahrenen Leuten. Um da in Europa mitzuhalten, brauchen wir individuelle Investoren, die 100 Millionen Euro investieren können und von den Unternehmern im Defense- und Deeptech-Bereich ernst genommen werden. Da wird es in Europa dünn.

Könnte Helsing zum Vorbild werden? Dort hat Spotify-Gründer Daniel Ek früh viel Geld investiert.

Ja, Helsing ist bereits zum Vorbild geworden und eines der effizienten Modelle, von denen ich spreche. Ich arbeite ja seit 2008 sehr eng mit Daniel Ek zusammen. Die Involvierung von Daniel zu einem frühen Zeitpunkt hat sicherlich sehr wertvolle Akzente gesetzt. Aber solche Unternehmer mit der Kombination aus internationaler Erfahrung und Liquidität sind rar gesät, obwohl wir gerade diese in solchen Zeiten in Europa brauchen. Auch deswegen habe ich mich dazu bereit erklärt, persönlich mit bis zu 100 Millionen Euro den Defense-Tech-Bereich in Europa weiterzuentwickeln und zu stärken.

Rüstungs-Start-ups brauchen auch Kundschaft. Inwiefern ist das bei der Bundeswehr und anderswo schon auf dem Schirm?

Die Beschaffung ist natürlich ein ganz zentraler Punkt. Das sind eingeschworene Systeme, in dieser Industrie kennen sich alle. Bislang haben klassische Rüstungsaufträge fünf bis acht Jahre gedauert, da musste man sich auch seitens der Bundeswehr nicht wahnsinnig beeilen. Wenn die Bundeswehr aber jetzt zum Beispiel auch neue Software in den Einsatz bringen will, geht das theoretisch auch in drei Wochen. Deshalb setzen wir uns als NATO Innovation Fund auch für schnelle Beschaffungsverfahren ein. Ich stehe dabei mit den Verteidigungsministerien im engen Austausch.

Haben Sie eigentlich mal die Ukraine besucht?

Ja, ich war vor Kurzem eine Woche da – eine meiner eindrücklichsten Erfahrungen seit Langem. Es setzt brutale Kräfte frei, wenn Leute Angst haben, dass man ihnen die Heimat wegnimmt. Ich habe dort eine 23-jährige Ukrainerin kennengelernt. Die hatte sich an eine amerikanische Eliteuni gekämpft, hat danach bei Morgan Stanley gearbeitet. Ein halbes Jahr später ist sie als Sanitäterin an die Front zurückgekehrt. Da tragen viele junge Leute eine enorme Verantwortung; jenseits jeder Bürokratie werden schnelle, effiziente und patriotische Wege gefunden, um innovative Verteidigungstechnologien zu kreieren. Das kann auch zur Chance für Europa werden.

Was meinen Sie?

Sobald es Frieden in der Ukraine gibt, finden sich dort beispielsweise zig Drohnenunternehmen, die viel besser als die meisten ihrer Konkurrenten außerhalb der Ukraine sind – weil sie ihre Produkte im echten Krieg getestet haben. Die ­Ukraine kann zum Zentrum einer neuen Verteidigungsindustrie werden. Dies wäre ein weiterer wichtiger Baustein für die technologische Souveränität Europas.

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