Kirche qua Wohnhaus: Zwei Zimmer, Kirche, Bad

Roger Bundschuh fährt gerne Fahrrad. Auf einer seiner regelmäßigen Erkundungstouren durch Berlin entdeckte der Architekt vor Jahren eine Lücke in der Blockrandbebauung nahe der Schöneberger Hauptstraße, durch die sich der Blick auf eine frei stehende Kirche öffnete. Die Wurzeln des Gotteshauses reichen weit zurück: Vor gut hundert Jahren ließ sich eine evangelische Gemeinde auf dem Grundstück eine kleine Kirche errichten, die einige Jahrzehnte später beschädigt und in den Fünfzigerjahren wieder aufgebaut wurde. Zuletzt nutzte sie die koreanische Methodistengemeinde.

Architekt Bundschuh hatte nicht die Kirche selbst im Blick, sondern den Parkplatz nebenan. Er fragte bei der Gemeinde an, ob sie die Fläche für einen Anbau zur Verfügung stellen würde. Eine Antwort bekam er nicht. Erst später traf der Architekt ein paar Gläubige, die sich vor dem Gottesdienst versammelten – und ihm erzählten, dass dies ihr letzter Tag in dem Gebäude sein würde. Am nächsten Morgen wollten sie ausziehen. Bundschuh nutzte die Gelegenheit, fand Investoren und wandelte die Kirche in Wohnungen um.

Kirchen bergen oft unbeachtete Raumreserven

Spricht man von Nachverdichtung in Großstädten, geht es mangels Alternativen meist in die Höhe: Wo lässt sich noch aufstocken? Welches Dach wird zur potentiellen Wohnfläche? Doch auch Kirchen bergen Raumreserven, die in der städtischen Diskussion erstaunlich selten bedacht werden. Wer einmal einen Moment innehält und sich den Hall selbst kleiner Gotteshäuser vor Augen führt, spürt das enorme Volumen, das in den Städten schlummert – und meistens auch sehr gut gelegen ist.

Durch den Umbau hat der Sakralbau seine Monumentalität verloren.Laurian Ghinitoiu

Und auch wenn es zuweilen so scheint: Sakralbauten werden nicht erst seit Kurzem umgenutzt. Zwar lässt sich an der schwindenden Bindungskraft des Christentums ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel ablesen, doch begleitet uns die Säkularisierung seit Jahrhunderten – räumlich wie geistig. Ihre Spuren führen von den aufgelösten Klöstern im England des 16. Jahrhunderts über die ikonoklastischen Gesten der Französischen Revolution bis zur Herrschaft Napoleons und den kommunistischen Regimen der vergangenen 100 Jahre. Immer wieder wurden heilige Räume entwidmet, umgedeutet, neu besetzt.

Profanierung nennt man die Weiternutzung eines Sakralbaus zu weltlichen Zwecken. Und die Formen, die sie heute annimmt, sind so vielfältig wie die Städte selbst: Aus einstigen Andachtsräumen werden Büros, Galerien, Bibliotheken, Konzertsäle, Museen oder Hotels. Besonders kleinere Kirchen, deren liturgische Bedeutung geschwunden ist, verwandeln sich immer häufiger in Orte des Wohnens – stille Mikroarchitekturen, die plötzlich wieder Teil des urbanen Alltags werden.

Besonders kleine Kirchen lassen sich leicht umwandeln

Roger Bundschuh und sein Team machten aus dem Kirchengebäude schließlich acht Wohneinheiten; ein benachbarter Neubau umfasst weitere sechs. Der alte Kirchturm bildet heute das Entrée für die Dachgeschosswohnung über dem Kirchenschiff, das die Architekten wiederum in mehrere Segmente teilten. „Dadurch verliert der Ort seine Monumentalität“, sagt Bundschuh, „und fühlt sich mehr nach Wohnraum an.“ Aus der seitlich gelagerten Sakristei entstand ein Schlafzimmer, das dank geöffnetem Dach und neuer Fenster heute ein luftig-leichter Rückzugsort ist.

Dass es manchmal gar nicht die ganz große Geste sein muss, um einem sakralen Raum neues Leben zu schenken, zeigt ein Beispiel aus Düsseldorf. Im Stadtteil Gerresheim bauten die Immobilienentwicklerinnen Ana Vollenbroich und Annelen Schmidt-Vollenbroich aus einer ehemalige Kirche zu einem Einfamilienhaus um. Das Gebäude, das Architekt Hermann Rauch in den Siebzigerjahren für die Neuapostolische Kirche errichtet hatte, entdeckten sie beim abendlichen Stöbern auf einer Immobilienplattform. Wie so oft kam es auch hier zum Verkauf, weil zwei Gemeinden angesichts sinkender Mitgliederzahlen zusammengelegt wurden.

Von außen fällt die Kirche in einer ruhigen Wohnstraße kaum als solche auf. Eingebettet zwischen wilhelminischen Mehrfamilienhäusern, fügt sie sich beinahe bescheiden in die Straßenflucht; kein Turm, kein Kreuz, kein ornamentaler Hinweis ragt über die Nachbardächer. Erst hinter dem schweren Portal erinnert die räumliche Sequenz an die ursprüngliche Nutzung: Zuerst führt eine Treppe nach oben zu einer hölzernen Doppeltür. Hinter der öffnet sich dann der Kirchensaal: ein hoher, unerwartet großzügiger Raum, der sofort spürbar macht, dass hier kein gewöhnliches Zuhause beginnt.

Die Neuapostolische Kirche aus den Siebzigern ist kein gewöhnliches Zuhause.Piet-Albert Goethals

Zwar stand das Gebäude nicht unter Denkmalschutz, und für den Umbau galten keine besonderen Auflagen. Dennoch gingen die Gründerinnen des Immobilienunternehmens Nidus behutsam mit den baulichen Eigenheiten um – mit der großzügigen Empore etwa oder den Buntglasfenstern. Gerade die Unkategorisierbarkeit faszinierte sie: „Einerseits ist es eine Kirche mit klassischen sakralen Elementen. Andererseits ein Bau der Siebzigerjahre mit brutalistischen Bezügen mitten in der Blockrandbebauung“, sagt Ana Vollenbroich. „Aus dieser Mischung den eigentlichen Charakter herauszuschälen, war das wirklich Besondere und Herausfordernde hier.“

Behutsame Eingriffe in einer Kirche aus den Siebzigern

Der Kirchenraum im ersten Obergeschoss blieb, anders als in Berlin, in seiner Form erhalten. Auch weil das Gebäude deutlich kleiner ist. Auf diese Weise konnten auch die Buntglasfenster bewahrt werden. In der ehemaligen Sakristei befinden sich nun Gästebad und Wirtschaftsküche; auf der Empore, wo früher der Chor sang, steht heute eine kleine Bibliothek. Die Raumaufteilung, erläutern die beiden, sei durchaus ungewöhnlich: Im Erdgeschoss befindet sich das Schlafzimmer, darüber ein Wohnraum, der sich über zwei Ebenen spannt. „Auch die Buntglasfenster sind speziell, da man keinen direkten Bezug nach draußen hat“, sagt Vollenbroich.

Ob ein Kirchensaal tatsächlich ein Ort zum Wohnen ist, hängt vor allem von den Menschen ab, die einziehen. „Die künftigen Bewohner müssen zur Immobilie passen und offen dafür sein, sich auf eine andere Art des Wohnens einzulassen – auch wenn es zunächst ungewohnt ist“, sagen die Nidus-Gründerinnen. Für Planer Roger Bundschuh hat die Umnutzung selbst sogar etwas Befreiendes: Anders als im Sakralbau gehe es beim Wohnen nicht um Unterwerfung, sondern um den einzelnen Menschen – darum, dass jede Bewohnerin und jeder Bewohner ihre eigene Geschichte im Haus fortschreiben kann.

„In einer Kirche dreht sich alles um Religion, um Verehrung, um Anbetung“, sagt der Architekt. „Jede räumliche Situation ist darauf ausgerichtet.“ In einem Wohnhaus rückt der Alltag in den Mittelpunkt. Das Persönliche, das Private. Eine Kirche in Wohnraum zu verwandeln, sei immer ein radikaler Schritt, der viel Respekt erfordere – vor dem Gebäude, seiner Bedeutung und seiner Geschichte. „An die Stelle strenger Achsen und formaler Repräsentation treten lebendige Räume, die Offenheit und Austausch ermöglichen.“ Es sei weniger ein Umbau, eher ein Weiterbau.

„Der Gedanke, so offen und unkonventionell zu wohnen, hat schon etwas“, sagen auch die Nidus-Gründerinnen. Sie planten zuerst, selbst in die entwidmete Kirche einzuziehen. Dann fanden sie einen anderen Rohdiamanten in Düsseldorf, an dem sie gerade noch arbeiten: eine alte Glasmalerei. Dies wiederum war Glück für ein Paar Mitte 40, das nun in die ehemalige Kirche zieht. Einer kommt aus dem Rheinland, der andere aus Südafrika. Beide lernten sich im Ausland kennen, haben überall auf der Welt gelebt. „Sie sind ganz offen und haben schon viele verschiedene Lebensarten und Baukulturen kennengelernt“, sagt Vollenbroich. „Ich bin gespannt, wie sie die Kirche mit Leben füllen werden.“

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