Kino | Yassss, Queen: Film „Sonne“ über eine Pubertät zwischen Internet und Religion

In ihrem ersten Spielfilm „Sonne“ erzählt Kurwin Ayub von drei Freundinnen mit Migrationshintergrund im Wien von heute

„Oh, mein Gott, neues Profilbild! Yaaas, Queen!“ Yesmin (Melina Benli) albert mit ihren beiden Freundinnen im Schlafzimmer der Eltern herum. Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) probieren gerade schwarze Hijabs von Yesmins Mutter an, Bella sieht sich in der Spiegeltür des Kleiderschranks und sagt in breitestem Wienerisch, sie habe sich „noch nie so schiach und geil zugleich gefühlt“. Mit dem Handy macht Yesmin Fotos, die Mädchen twerken und wälzen sich zu Rummeltechno auf dem Bett, probieren Tiktok-Effekte aus, die ihre Gesichter verzerren oder mit Tierohren versehen.

Irgendwann sitzen sie zu dritt in der Zimmerecke und filmen sich dabei, wie sie zum Song aus dem Smartphone etwas schief schmettern: „That’s me in the corner, that’s me in the spotlight“. Zeilen, die jede*r kennt, weil sie Teil der Popkultur sind, seit Losing My Religion von R. E. M. ein globaler Hit wurde. Wenn ihn die drei Mädchen mit Kopftüchern im Schlafzimmer einer kurdischen Familie in Wien anstimmen, bekommt er plötzlich eine andere, neue Bedeutung. Kulturelle Aneignung, auf den Kopf gestellt.

Das Geschilderte ist der fulminante Beginn von Sonne, dem Spielfilmdebüt der kurdisch-österreichischen Filmemacherin Kurdwin Ayub, 1990 im Irak geboren, in Wien aufgewachsen. Die 32-Jährige schöpft dabei auch aus eigenen Erfahrungen zwischen zwei Kulturen, die sie sehr gegenwärtig und scheinbar beiläufig, mal ironisch und mal derb, verarbeitet und dabei gekonnt Stereotypen über postmigrantische Frauen unterwandert und demaskiert. Im Februar lief ihr Film bei der Berlinale im Parallelwettbewerb Encounters und wurde mit dem Preis für das beste Debüt ausgezeichnet. Nun geht er auch ins Rennen um den Discovery Award bei den Europäischen Filmpreisen, die am 10. Dezember im isländischen Reykjavik verliehen werden.

Im Kern dreht sich die Handlung von Sonne um eine Mädchenfreundschaft im heutigen Wien, um den Alltag zwischen Sinnsuche, Pubertät und Internet, um die Gratwanderung zwischen Abgrenzung und Dazugehörenwollen. Das Video, das Yesmin, Bella und Nati mit ihrer Version von Losing My Religion aufnehmen, geht im Netz viral und die drei werden schnell zu kleinen Berühmtheiten. Doch zumindest in Yesmins Familie sorgt es auch für Kontroversen, vor allem ihre strenge Mutter fühlt sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt und will dem allzu freien Handeln ihrer Tochter einen Riegel vorschieben. Den liberalen Vater dagegen erfüllt der Erfolg seiner „Popstars“ mit Stolz, er fährt die Mädchen liebend gern zu Auftritten auf kurdischen Festen und in Kulturzentren.

Als die Mädchen schließlich sogar für einen Fernsehsender interviewt werden, bestätigen sie gern die unterstellte Motivation, mit ihrem Auftritt den gängigen Klischees unterdrückter Muslima etwas entgegensetzen zu wollen. Wie die drei hopplahopp zu Multikulti-Aushängeschildern avancieren, gehört zu den vielen hochkomischen und doppeldeutigen Momenten von Ayubs Film, in dem sie sehr smart und im besten Sinne unverschämt reflektiert, was es heißt, als junge Muslima in Österreich zu leben, zwischen Mehrheitsgesellschaft und den Ansprüchen der eigenen Community, Selbstbehauptung und Selfiekultur.

Einsame Kopftuchträgerin

Der Culture Clash treibt aber bald auch einen Keil durch das Trio selbst. Yesmin, die als einzige ganz normal Kopftuch trägt, macht sich deutlich mehr Gedanken als Bella und Nati, die sich ihrer Privilegien als Nicht-Muslima erstaunlich wenig bewusst sind. Sorgen bereitet Yesmin auch ihr jüngerer Bruder Kerim (Kerim Dogan) und dessen Macho-Allüren.

Eingebetteter Medieninhalt

Ayub weiß sehr genau, wovon sie erzählt, und spielt dementsprechend souverän mit den Erwartungen, was Identität und Repräsentation angeht, lässt immer wieder Grenzen verschwimmen. Bereits in ihrem unkonventionellen Dokumentarfilm Paradies Paradies hatte sie ihren Vater in dessen irakische Heimat begleitet, in ihrem ersten langen Spielfilm hat sie nun die Elternrollen mit ihren eigenen Eltern besetzt. Und in Yesmin, die immer mehr erkennt, wie die festgefahrenen Rollenbilder ihrer Einwanderereltern sie einengen und die sich davon zu lösen versucht, spiegelt sich auch Ayubs Biografie, nicht eins zu eins, aber als Lebensgefühl.

Soziale Medien und ihre Bildsprache sind völlig selbstverständlich Teil des Alltags dieser Jugendlichen, sie suchen damit nach eigenen Identitäten und Ausdrucksformen, gut vernetzt und zugleich von der Elterngeneration und deren Vorstellungen abgekoppelt. Ayub inszeniert das episodenhaft, mit viel Gespür für deren Lebenswelt und Gehör für den Sprachduktus. Das erfrischend Direkte entstand beim Dreh, die meisten Dialoge waren improvisiert, ein festes Drehbuch gab es nicht. Und die Bilder des formal verspielten Films übernehmen immer wieder die Handyästhetik, wechseln von horizontal zu hochkant, immer ganz nah dran an den Figuren.

Mit 32 Jahren gehört Ayub damit zu einer neuen Generation österreichischer Filmemacher*innen, die sich nicht mehr an den großen Vorbildern wie Michael Haneke und Jessica Hausner abarbeiten, sondern selbstbewusst und vielstimmig ganz eigene Akzente setzen, auch wenn Ayubs Spielfilmdebüt mit Ulrich Seidls Produktionsfirma entstanden ist. Sonne ist nur der Anfang, der erste Teil einer Trilogie über heutige postmigrantische Frauenfiguren, die mit Mond und Sterne weitergehen wird. Im Frühjahr will Kurdwin Ayub in Jordanien drehen, die Geschichte einer Kampfsportlerin, die Personal Trainer wird für eine reiche arabische Familie. Egal in welcher Kultur: Kurdwin Ayub hat uns noch einiges um die Ohren zu hauen.

Sonne Kurdwin Ayub Österreich 2022; 87 Minuten

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