Es sind viele unangenehme Situationen, denen uns Ari Aster in seinem neuen Film Eddington aussetzt. Sie wecken Erinnerungen an eine nur leidlich verarbeitete Zeit. Vor allem diese eine Szene ruft einiges wach: Ein älterer Mann will in einem Supermarkt einkaufen, man will ihn aber ohne Nase-Mund-Bedeckung nicht hineinlassen, er weigert sich, eine Maske zu tragen, kommt doch hinein, nur um dann wieder trotz befüllten Einkaufswagens vom Sicherheitspersonal hinausgezerrt zu werden. Die übrigen maskierten Supermarktkunden filmen die Auseinandersetzung mit Smartphones und klatschen, nachdem der Querulant vor die Tür gesetzt wurde.
Die Szene rührt nicht nur an die gelebte Realität in den USA im Frühjahr 2020, sondern auch an die Atmosphäre hierzulande, als im Familien- und Freundeskreis über die Maskenpflicht, Impfungen, Social Distancing gerätselt und gestritten und der Schutz von Immungeschwächten gegen potenzielle wirtschaftliche Schäden abgewägt wurde. Weitaus brachialer noch wurden die scheinbar unüberwindlichen Meinungsverschiedenheiten auf Facebook, Instagram und (damals noch) Twitter ausgetragen. Dort traten gegenseitig als solche beschimpfte „Schwurbler“ gegen „Schlafschafe“ an, im Kampf um die begehrte, aber nie konsensuelle Faktenlage über die Covid-Pandemie.
Na, wer erinnert sich an all das gern zurück? Niemand. Dennoch drückt Eddington den Finger genüsslich in die Wunde und fordert geradezu heraus, dass man sich beim Betrachten beschriebener Supermarktszene reflexhaft auf eine Seite schlägt. Dabei ist es ratsamer, auf die Diagnose zu warten, die dieser Film in seiner knapp zweieinhalbstündigen Laufzeit ausbreitet.
Duell mit Maskenpflicht
Benannt ist Eddington nach einer fiktiven Kleinstadt in New Mexico, die laut Ortsschild gerade mal 2.435 Einwohner beherbergt. Für Ari Aster markiert diese düster-realistische Gesellschaftssatire eine spürbare Abwendung von den introspektiven Horrorfilmen (Hereditary, Midsommar), mit denen er berühmt wurde, stellt aber zugleich eine Art Heimkehr dar: Aster ist selbst in New Mexico aufgewachsen und begab sich während des Lockdowns 2020 dorthin zurück, um seinen dritten Spielfilm Beau Is Afraid weiter vorzubereiten. Doch die aufgeladene Atmosphäre in seiner Heimatstadt ließ ihm keine Ruhe und so schrieb er das Skript seines bereits Jahre zuvor verfassten Neo-Westerns dahingehend um.
Western-typische, kernige (Anti-)Helden sucht man in Eddington allerdings vergeblich. Der Film beginnt mit einem nächtlichen Heranschleichen an die staubige Kleinstadt im Mai 2020 und stellt zwei Rivalen vor: Joe Cross (Joaquin Phoenix) ist der Stetson-tragende Sheriff von Eddington, sein breitbeiniger Gang mag an John Wayne erinnern, wird aber von seinem zögerlichen Genuschel konterkariert.
Mit Verweis auf sein Asthma verweigert auch Joe sich der Maskenvorschrift und hilft besagtem älteren Mann, nachdem dieser aus dem Supermarkt geschmissen wurde. Als der im Anschluss um ein gemeinsames Selfie bittet und ihn auf Instagram als anständigen Gesetzeshüter feiert, trifft Joe eine spontane Entscheidung: Er will als Bürgermeister kandidieren.
Die Corona-Politik polarisiert, wo vorher schon Spannungen waren
Äußerst ungern hört das der amtierende und sich um Wiederwahl bemühende Bürgermeister Ted Garcia (Pedro Pascal). Mit seiner jovialen Art, einem seriösen Auftreten und einem Strahlelächeln gilt er als liberal und progressiv. Doch während Teds Corona-Vorschriften die um ihre Gesundheit besorgten Bürger beruhigen, bringen sie einige Unternehmer der Kleinstadt gegen ihn auf. Hinzu kommt, dass er die Errichtung eines umstrittenen KI-Datenzentrums am Rande von Eddington vorantreiben will, gegen das es in der dürregeplagten Region zunehmenden Widerstand gibt.
Das erste Face-off von Joe und Ted auf offener Straße – unter Einhaltung des vorgeschriebenen körperlichen Abstands – offenbart, dass es bei der Rivalität dieser beiden Männer nicht nur um Sinn und Unsinn der Pandemie-Auflagen geht. Ihrer Feindschaft liegen tief verwurzelte persönliche Animositäten zugrunde. Joe ist mit Louise (Emma Stone) verheiratet, die vor etlichen Jahren mit Ted ausgegangen ist und einige Monate später einen Schwangerschaftsabbruch durchführen ließ. Für Joe liegt klar auf der Hand, dass Ted sie sexuell genötigt hat, was auch als Erklärung dafür herhalten muss, dass Louise vor seinen eigenen körperlichen Avancen zurückschreckt und daher Joes Kinderwunsch unerfüllt bleibt.
Doch gerade wenn man sich in Eddington auf einen Pandemie-Western über das Duell zweier im Persönlichen wie Politischen verkeilter Männer einrichtet – begleitet von einem großartigen Score von Bobby Krlic und Daniel Pemberton –, wird dieser Film völlig unberechenbar. Das Chaos der verschiedenen Proteste, die im Frühjahr 2020 über die US-Gesellschaft hereinbrachen, sucht auch Eddington und seine Bewohner heim: Joes tief im Sumpf von abstrusesten Verschwörungserzählungen versunkene Schwiegermutter Dawn (Deirdre O’Connell) nimmt ihre Tochter mit zu einer Veranstaltung von Vernon Jefferson Peak (Austin Butler), der an QAnon gemahnende Theorien zu systematischem, von Eliten gesteuertem Kinderhandel verbreitet. Louise, die offenbar selbst Opfer sexualisierter Gewalt in ihrer Jugend wurde, verlässt sogar den in den Wahlkampf gezogenen Joe für Vernon.
Von QAnon bis zu Black Lives Matter und „Critical Whiteness“
Derweil versammelt sich eine Gruppe vornehmlich weißer Teenager auf der Hauptstraße Eddingtons, um im Kontext von George Floyds Tod gegen Polizeigewalt zu demonstrieren. Angeführt wird diese sich zu Black Lives Matter zählende Protestbewegung von der blonden Teenie-Influencerin Sarah (Amélie Hoeferle), die die ebenso lautstarken Demonstranten über das Gebot der Zurückhaltung im Rahmen von „Critical Whiteness“ belehrt. Dass Sarahs glühendem Aktivismus eine gescheiterte Beziehung mit Joes schwarzem Hilfssheriff Michael (Micheal Ward) vorausgegangen ist, ist im Film ein weiteres Beispiel für die Verbindung vorpandemischer Verletzung mit einer scheinidealistischen, kopflosen Flucht nach vorn.
An Asters Austeilen nach allen überzeichneten Seiten hin störten sich einige Kritiker nach der Premiere von Eddington bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes. Selbstgefälligkeit, Zynismus und fehlende Aussagekraft warfen sie dem Regisseur vor, während andere sein Werk als Film der Stunde feierten. Eddington polarisierte also – vielleicht gerade, weil dieser Film nicht etwa den ausufernden Kampf zwischen rechts und links, sondern die zugrunde liegenden Polarisierungsmechanismen zu seinem zentralen Thema auserkoren hat.
Der „High Noon“ der Lockdown-Phase
Während Alex Garlands ebenfalls gemischt aufgenommene Kriegsdystopie Civil War 2024 auf die potenziellen Folgen zunehmender gesellschaftlicher Fragmentierung verwies, spürt Eddington mit der Einkreisung der Lockdown-Phase in einer amerikanischen Kleinstadt dem entscheidenden Wendepunkt, dem „High Noon“ der Polarisierung nach.
Zugleich macht Eddington aus den Ursachen keinen Hehl. Diese, so erläuterte Aster in diversen Interviews, sind im algorithmisch gesteuerten Datenstrom zu sehen, dem sich die Figuren von Eddington nonstop aussetzen, ihn durch ihre eigenen Uploads weiter feintunen und sich damit selbst von jeglicher Zugänglichkeit in einer Echokammer abschotten. Im Gespräch mit dem britischen Doku-Filmer Adam Curtis für den Guardian erläuterte Aster, welche Schlüsselerfahrung in New Mexico während des Lockdowns für ihn ausschlaggebend war: „Ich befand mich in einer Situation, in der viele der Menschen, die mir am nächsten standen, in völlig unterschiedlichen Algorithmen steckten. Wir konnten einander nicht erreichen.“
So sieht man die in Eddington durchweg mit sich selbst beschäftigten, aber niemals introspektiven Figuren aneinander vorbeireden, agitieren statt argumentieren und munter alles aufsaugen und einander entgegenschleudern, was ihre Feeds gerade hergeben. Einige Morde später bricht eine der abstrusesten paranoischen Vorstellungen von einer ordnenden Macht über die Kleinstadt herein und bringt diesen Film in einem surrealen Horror-Finale an sein Ende. Wahre Helden gehen nicht daraus hervor, aber ein hell erleuchteter Sieger: das frisch errichtete KI-Datenzentrum, das sich nun ans Mining machen kann, nachdem der Widerstand im Chaos verebbt ist. „Man kann sich Technologie nicht wegwünschen“, erklärt Ted Garcia zu Beginn von Eddington. Zum Ende dieses Films und zur Mitte dieses verheerenden Jahrzehnts dürfte uns das klarer sein denn je.
Eddington Ari Aster USA 2025, 148 Minuten