Katholiken gegen Protestanten, Republikaner gegen Unionisten, Iren gegen Briten. Der Kinofilm „Kneecap“ erzählt anhand eines Rapper-Trios ein Stück irischer Geschichte. Nun geht er für das Land ins Oscar-Rennen
„Jedes gesprochene Wort Irisch ist eine Kugel für die Freiheit Irlands!“
Foto: Ryan Kernaghan/Courtesy of Sony Picture Classics
Zum Jahresanfang ereilt die deutschen Kinos gleich eine ganze Schwemme an Musiker-Biopics. Filme, die das Leben bekannter Stars zwischen Fakt und Fiktion nacherzählen. Ästhetisch hielt das zuletzt durchaus Überraschungen bereit: Robbie Williams wurde in Better Man zum computeranimierten Affen, Pharrell Williams in Piece by Piece zur Lego-Figur. Demnächst gesellen sich Angelina Jolie als Maria Callas in Maria und Timothée Chalamet als Bob Dylan in A Complete Unknown hinzu. Und dann gibt es da noch diesen etwas weniger hochkarätigen, aber umso frecheren, rotzigeren Film aus Irland: Kneecap.
Der erzählt den fiktionalisierten Werdegang des Rapper-Trios Kneecap aus Belfast. Es ist die Geschichte dreier Provokateure, die 2017 ihre erste Single veröffentlichten. Im Film spielen sich die Musiker selbst. Mo Chara, Móglí Bap und DJ Próvaí lauten ihre Künstlernamen. Ihre Texte: betont vulgär, ausschweifend, antiautoritär, gegen Polizeigewalt und Spießigkeit. Vor allem auch: ein Plädoyer für die bedrohte irisch-gälische Sprache. Eine Auflehnung gegen die Dominanz der englischen.
Kneecap zeigt das als Dauer-Exzess, gerade was den Drogengebrauch angeht. Substanzen werden in Großaufnahmen in Körperöffnungen gesaugt. Es wird gesoffen, gefeiert, gesungen. Schnelle Schnitte, grelle Lichter, fetzige, treibende Beats. Alles ist enthemmt. Ein einziger Dauerrausch, in dem die Arbeit an der Kunst zur Party wird und umgekehrt. Vergleiche mit Danny Boyles Trainspotting ließen in internationalen Kritiken nicht lang auf sich warten.
Vielleicht ist dieses Biopic, das 2024 beim Sundance Film Festival uraufgeführt wurde, damit gar nicht so revolutionär, obwohl es mit dem eigenen Medium und den Erwartungen des Publikums gewitzt spielt, indem es schon am Beginn die immergleichen Krawall- und Demo-Montagen der Unruhen in Belfast durchkreuzt. Der Drogenrausch, dessen Beflügelung der Kunst, aber auch die Eskalation und der Kontrollverlust der Protagonisten haben im Kino schon lange eine gewisse Berechenbarkeit und Gleichförmigkeit erhalten. Da kann sich dieser hin und wieder charmant formverspielte Film noch so viel Mühe geben, die Kamera an ungewöhnlichen Orten zu platzieren, sie wild taumeln zu lassen oder Menschen während eines Trips in animierte Knetfiguren zu verwandeln.
Lust am Exzess
Zum Glück strickt Kneecap aus seiner gespiegelten Lust am Exzess keine moralische Lehrstunde, wie das andere Biopics gern versuchen. Oft sollen Überschwang und Hedonismus mit Elendsnarrativen, Vereinsamung, dem ultimativen Absturz und der ach so schlimmen Bürde des Ruhms gezähmt werden. Ikonen will man in die Durchschnittlichkeit und Sittsamkeit einhegen, doch nicht so in Kneecap! Dieser Film, der aktuell für Irland ins Oscar-Rennen geht, bleibt laut, roh, aufmüpfig.
Ohnehin geht es ihm um mehr als eine bloße Drogen- und Künstlererzählung. Der Film von Rich Peppiatt erzählt ein Stück irischer Geschichte. Er will das Porträt einer desillusionierten, aufgebrachten Generation zeichnen, die in den Nachwehen des Nordirlandkonflikts aufwächst, dessen Aggressionen weiterhin brodeln. Katholiken gegen Protestanten, Republikaner gegen Unionisten, Iren gegen Briten. Man streitet gewaltsam um Nordirlands Vereinigung, die eigene kulturelle Identität und Zugehörigkeit.
Das zerfasert im Verlauf des Films deutlich zwischen Coming-of-Age-Motiven, Familiendramen, Kämpfen gegen die Behörden und den politischen Streitpunkten, die die gesamte Gesellschaft durchziehen. Das Drehbuch gleicht einer Theke, an der sich jeder nach Belieben eine erzählerische Facette, eine Haltung zum Stoff herauspicken kann: die progressiven und die konservativeren Töne, ganz gleich, wie man zu den drei Hauptfiguren steht. Dass Kneecap dennoch nicht vollends zerfällt und so energiegeladen bleibt, liegt auch an fesselnden Auftritten wie dem von Michael Fassbender als charismatischer Vaterfigur in einer Nebenrolle. Er spielt einen untergetauchten IRA-Terroristen, ähnlich wie einst in Steve McQueens meisterhaftem Knastdrama Hunger von 2008. Arló, so heißt die Figur, ist es auch, der den pathetischen Leitspruch des Films über die Lippen bringt, der vom Kampf um eine Sprache, die eigene Autonomie und gegen die Anpassung erzählen will: „Jedes gesprochene Wort Irisch ist eine Kugel für die Freiheit Irlands!“
Kneecap Rich Peppiatt Irland/Großbritannien 2024, 105 Minuten
Kneecap Rich Peppiatt Irland/Großbritannien 2024, 105 Minuten