Als ich ein Mädchen war, da war ich Atréju. Ich war auch Mio und Jonathan Löwenherz. Ich war alle Jungs der Hohlbein-Bücher, ich war Peter Shaw und Krabat. Wenn ich sage, das war ich, dann meine ich das wirklich genau so.
Ein heutiges Mädchen, fast acht Jahre, liest gerade Harry Potter. Ich frage sie, welche der Figuren sie beim Lesen ist, und sie sagt: Ich bin alle.
Lesen, das ist eine Grenzen sprengende Kraft. Man kann nicht nur in unterschiedliche Rollen schlüpfen, also alt sein oder jung, weiblich oder männlich. Man kann sie auch gleichzeitig sein. Geliebter und Geliebte. Tot und lebendig. Einer und viele. Ein gutes Buch zu beenden, schmerzt nicht deshalb, weil man die Protagonisten als „gute Freunde“ verliert; es schmerzt, weil man Teile von sich selbst zurücklässt.
Viele Journalisten und Forscher haben in den vergangenen Jahren immer wieder kritisiert, dass Kinderbücher traditionelle Rollenmuster fortschreiben. Jungs sind in Geschichten abenteuerlustiger, mutiger, weinen weniger, gehen auf Reisen und sind meist die Helden. Mädchen dagegen sind eher Nebenfiguren, langweiliger, vernünftiger, häuslicher, außerdem verlieben sie sich ständig.
Eine verbreitete Idee ist, und sie versteht sich als progressiv, dass Kinderbücher deshalb Werkzeuge sein können und sollten, um die Gesellschaft zu verändern, um modernere Rollen aufzuzeigen, um allen Kindern eine Identifikation in Büchern zu ermöglichen.
Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie hat in ihrem berühmten Ted Talk 2009 beschrieben, was passieren kann, wenn alle Bücher, die ein schwarzes Kind liest, britisch und amerikanisch sind: Adichie dachte sich als Kind nur Geschichten über weiße Kinder mit blauen Augen aus. Denn sie wusste nicht, „dass Menschen wie ich in der Literatur existieren können“.
Immer noch die Prinzessin
Mittlerweile gibt es viele Bücher für Mädchen und über Mädchen. Sie sind jetzt oft die Heldinnen. Sie lösen Fälle wie die „drei ???“. Sie gehen auf Zauberschulen wie Harry Potter oder reiten Wildpferde wie Winnetou. In manchen Fällen ganz bezaubernd neu und eigenartig. In vielen Fällen aber auf dieselbe Art wie eh und je: Es läuft in ihren Geschichten auf das Finden eines Gefährten hinaus. Das kann ein Pferd sein, ein Einhorn, ein Fuchs, ein Hund, eine Freundin oder auch ein Junge. Jemand, der das Mädchen versteht und mit dem es vollständig wird (und erst mit ihm dann seine magischen Kräfte entwickeln kann).
Es ist die uralte Rolle der Prinzessin, die eigentlich nur eine Aufgabe hat: den Prinzen zu finden. Manchmal erlebt sie dabei Abenteuer, ist mutig und wild, listig und auch brutal. Aber eben nur, um am Ende mit dem Gefährten vereint zu sein. Das ist kein Fortschritt. Das ist Blendwerk. Und es ist sicherlich nicht die Intention derer, die auf eine modernere Gesellschaft aus sind.
Aber es zeigt, dass Kinderbücher eben keine Werkzeuge gegen, sondern Spiegel von Machtverhältnissen sind. Wer nur funktional auf das Lesen blickt, wer Genuss schabloniert und instrumentalisiert, der versteht das Leseerlebnis nicht.
Weit wichtiger als Bücher mit der richtigen Jungs- und Mädchenquote sind gute Bücher. Geschichten, die komplexe und vielschichtige Charaktere zeigen, in die sich Kinder hineinversetzen, von denen sie lernen können. Ein Mädchen kann dann Harry sein oder Hermine oder beide gleichzeitig – völlig egal. Hauptsache, sie sucht sich nicht selbst im Buch, sondern ist so frei, ein anderer zu werden.
Source: faz.net