Wer noch ein Weihnachtsgeschenk sucht, das Gutes bewirkt und nicht viel kostet, sollte über eine Handybox nachdenken. Die Box ist kein neues Gadget, mit dem man Musik oder Podcasts hören kann, sondern ein Gefängnis für das Handy. Das Ziel: Bildschirmzeit und Podcasthören verhindern. Man schließt sein Gerät in der Box ein, programmiert eine Zeitschaltuhr und bekommt es erst dann zurück, wenn die Zeit abgelaufen ist. Es sei denn, man zerschmettert die Box vorher, weil man es nicht mehr aushält.
Die Box zu zerstören, ist kein unwahrscheinliches Szenario, wenn man sich ansieht, wie abhängig die Deutschen von ihren Endgeräten sind. Je nach Umfrage hängen Jugendliche im Schnitt jeden Tag zwei bis dreieinhalb Stunden am Handy. Sie surfen, nutzen soziale Medien, schauen Videos und Fernsehen. „Die Jugend von heute…“ Erwachsene sollten sich allerdings nicht über die Jüngeren empören, denn sie verbringen fast genauso viel Zeit mit Handy und Fernseher.
Es ist keine Frage mehr, ob der ständige Blick auf den Bildschirm schädlich ist. Die Frage ist nur noch, wie schädlich. Von E-Mails unterbrochen zu werden, während man eigentlich an etwas anderem arbeitet, sei schlimmer als Kiffen, sagte der britische Autor Johann Hari kürzlich der „Wirtschaftswoche“. Nach einer Ablenkung wieder das ursprüngliche Konzentrationsniveau zu erreichen, dauere 23 Minuten. Ein Desaster – wer schafft es heute überhaupt noch, sich so lange ununterbrochen auf eine Sache zu konzentrieren?
„Papa, was machst du die ganze Zeit?“
Die Abhängigkeit fängt früh an. Wer kleine Kinder hat, weiß, welches Suchtpotential schnell geschnittene Videoformate wie „Paw Patrol“ oder „Bluey“ schon bei Zweijährigen haben und wie früh sie ihre auf dem Handy rumwischenden Eltern imitieren. „Papa, was machst du die ganze Zeit?“ Ja, was eigentlich?
So einfach diese Muster zu durchschauen sind, so schwierig sind die Folgen der Dauerberieselung zu beziffern. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, dass Menschen sehr unterschiedlich auf den Handy- und Videokonsum reagieren und pauschale Tipps für eine bestimmte Bildschirmzeit nicht zielgenau sind. Das jedenfalls legt eine Studie amerikanischer Forscher nahe.
Die Ökonomin Carolina Caetano (University of Georgia) und ihre Ko-Autoren haben in einem ersten Schritt erfasst, wie viel Zeit amerikanische Schulkinder im Alter von sechs bis achtzehn Jahren mit Videoschauen verbringen, egal ob am Handy, Tablet oder Fernseher. Dafür nutzten sie sogenannte Zeittagebücher, die Tausende US-Schüler über längere Zeiträume selbst angefertigt haben. Der erste Mythos, den sie ausräumen: Dass ständig der Fernseher läuft oder das Handy gezückt wird, sei vor allem in bildungsferneren Schichten weit verbreitet. Diese pauschale Behauptung ist so nicht haltbar. Die neunjährige Tochter wohlhabender Eltern schaut zwar weniger Videos als der dreizehnjährige Einwanderer mit arbeitslosen Eltern. Die Unterschiede sind aber überschaubar. Insgesamt konsumieren US-Schüler unter der Woche 1,5 Stunden Videomaterial, am Wochenende sogar 2,7 Stunden. Bildungs- oder Informationsformate werden so gut wie gar nicht geschaut, Unterhaltung und Fiktionales dafür umso mehr.
Um die Folgen zu beziffern, werteten die Forscher den „Behavior Problems Index“ aus. Das ist ein umfassender Fragebogen, in dem Eltern über das Verhalten ihrer Kinder Auskunft geben können.
Depressionen und Angst nehmen zu
Die Daten zeigen den Forschern zufolge, dass jede Stunde Videokonsum den Kindern in sozialer und emotionaler Beziehung nicht guttut. Je mehr Videos sie schauten, desto häufiger neigten sie zu Depressionen und Angstzuständen und desto mehr zögen sie sich von anderen zurück. Aggression und soziale Probleme nähmen zu. Die Forscher erfassten keine riesigen Effekte, aber doch klar erkennbare Zusammenhänge. Was Eltern etwas beruhigen mag: Die Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten waren nicht eindeutig und oft statistisch nicht signifikant. Es gab sogar einen positiven Befund: Kinder, die mehr vor dem Bildschirm hingen, konnten praktische Matheprobleme etwas besser lösen als andere.
Interessant ist, dass diese Erkenntnisse nicht für alle Bevölkerungsgruppen gelten. Kinder mit lateinamerikanischer Abstammung profitierten vom Videokonsum. Sie waren ausgeglichener statt aggressiver, und auch in anderen Fächern als Mathe entdeckten die Forscher einen eher positiven Zusammenhang. Sie erklären das damit, dass der Medienkonsum dieser Bevölkerungsgruppe hilft, ihren Wortschatz und ihre Aussprache zu verfeinern, sich Alltagswissen anzueignen und amerikanische Werte und Verhaltensweisen zu lernen. Wenn die Kinder zum Beispiel besser verstehen, wie man sich in bestimmten sozialen Situationen üblicherweise verhält, reduziere dies das Konfliktpotential.
Schlechte Nachrichten für den Normalverdiener-Nachwuchs
Weniger gute Nachrichten liefert die Studie für Kinder von Normalverdienern. Bei ihnen sind die negativen emotionalen Folgen den Forschern zufolge besonders ausgeprägt. Ihre Begründung: Bei diesen Kindern gehe übermäßiger Videokonsum besonders auf Kosten von Aktivitäten, die ihnen ansonsten guttäten, wie Lesen, Hausaufgaben erledigen, Sport oder Musik. In wohlhabenden Haushalten bekämen die Kinder dagegen trotz vieler Stunden vor dem Bildschirm oft Nachhilfe und Musikunterricht; in einkommensschwachen Haushalten gebe es für solche Angebote ohnehin weniger Möglichkeiten. Oder anders gesagt: Das Videoschauen konkurriert dann eher damit, rumzuhängen und sich die Zeit zu vertreiben.
Der Medienkonsum tut den allermeisten Kindern also nicht gut. Allerdings folgt aus den Erkenntnissen der Ökonomen keine klare Empfehlung für eine tägliche Höchstbildschirmzeit. Es ist vielmehr so, dass jede weitere Stunde Videokonsum ähnlich starke negative Effekte hat. Wer also schon vier Stunden geschaut hat, für den ist die weitere Stunde genauso schlecht wie für jemanden, der erst eine Stunde geschaut hat. Das klassische Narrativ „moderate Bildschirmzeit ist akzeptabel, aber ab einem gewissen Punkt wird es schädlich“ ist von der Studie nicht gedeckt. Es gibt demnach keinen „sicheren Bereich“, in dem Kinder Videos schauen können, ohne davon beeinträchtigt zu werden. Und je mehr sie es tun, desto stärker die Folgen – vor allem für Kinder aus der Mittelschicht.
In Deutschland empfiehlt das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit 30 bis 45 Minuten Bildschirmzeit am Tag für Sechs- bis Neunjährige. Wer das einhält, hat der Studie zufolge mit keinen großen Beeinträchtigungen zu rechnen. So wichtig wie die reine Zeit vor dem Bildschirm ist demnach aber auch, dass die Kinder ansonsten in ihrer Freizeit sinnvolle Angebote bekommen, die negativen Folgen entgegenwirken. Und wenn gut gemeinte Ratschläge im Kinderzimmer folgenlos verhallen, dann wissen Sie ja, was ein passendes Weihnachtsgeschenk wäre.