Karneval und Korruption: Brasiliens Oscar-Hoffnung „The Secret Agent“

Ein weißer Hai spielt auch eine Rolle: In „The Secret Agent“ führt Regisseur Kleber Mendonça Filho den Alltag unter der brasilianischen Militärdiktatur mit einer atmosphärischen Zeitreise ins Frühjahr 1977 vor Augen


Marcelo (Walter Moura) in „The Secret Agent“

Foto: Victor Juca


Die Ruhe des Anfangs täuscht. Eine Tankstelle im Nirgendwo des brasilianischen Nordostens. Die Sonne scheint, es ist heiß. Das Jahr ist 1977, zur Karnevalszeit. Marcelo (Wagner Moura) fährt mit seinem knallgelben VW Käfer, von der Landstraße ab, um aufzutanken. Im Autoradio läuft gutgelaunte Tanzmusik, gemächlich schlurft der Wart aus seinem Häuschen, die Hitze macht dem beleibten Mann zu schaffen. Da fällt Marcelo ein menschlicher Körper auf, der unweit der Zapfsäule im Staub liegt, notdürftig mit ein bisschen Pappkarton bedeckt.

Die Leiche sei da schon ein paar Tage, murmelt der Tankwart und vertreibt ein paar streunende Hunde, die sich gerade daran zu schaffen machen wollen. Kurz darauf taucht ein Polizeiwagen mit Sirene auf. Doch der Tote interessiert die beiden Provinzpolizisten nicht. Der Unbekannte mit seinem Käfer umso mehr. Ohne triftigen Anlass lässt sich einer der beiden die Papiere zeigen, filzt den Wagen, findet aber nichts. Er verlangt Spendengeld, ohne Begründung. Marcelo bietet ihm stattdessen eine angebrochene Schachtel Zigaretten an, die der Beamte schnell einsteckt.

Bereits in diesen ersten Momenten tauchen die Motive und Themen auf, aus denen Kleber Mendonça Filho seinen Politthriller The Secret Agent zusammensetzt, der zwar während der Militärdiktatur und deren Behördenwillkür spielt, dabei aber immer wieder die Gegenwart Brasiliens nach den Jahren des rechtsextremen Bolsonaro-Regimes reflektiert. Marcelo ist Anfang 40 und heißt eigentlich Armando, ein Unidozent und Elektroingenieur aus São Paulo, der in die Küstenstadt Recife zurückkehrt.

Auftragsmörder im Nacken

Einerseits kann er in Recife seinen Sohn wiedersehen, der nach dem Tod der Mutter bei den Großeltern lebt, aber eigentlich ist er da, um mit Hilfe einer oppositionellen Organisation seine Flucht zu organisieren. Es eilt mehr, als er ahnt, hat er sich doch mit einem mächtigen Oligarchen angelegt, der zwei Profi-Killer auf ihn ansetzt. Zur Begrüßung in Recife unternehmen die allerdings erst einmal eine kleine Spritztour mit dem freundschaftlich verbundenen, korrupten Polizeipräsidenten und dessen Söhnen. Die wiederum sind ihrerseits in einen Mordfall verwickelt, in dessen Verlauf ein abgerissenes Bein in einem Tigerhai auftaucht, das noch für Furore sorgen wird.

Kleber Mendonça Filho gehört zu jener Generation brasilianischer Regisseure, die das Kino als politisches Gedächtnis begreifen. Sein Blick ist scharf und zugleich melancholisch. 1968 in Recife geboren, hat er früh gelernt, wie nahe Schönheit und Gewalt beieinanderliegen. Seine Filme, von Von großen und kleinen Haien über Aquariusbis Bacurau, zeichnen Topografien sozialer Spannung nach: Räume, in denen Architektur und Klassenbewusstsein, Erinnerung und Kontrolle ineinandergreifen.

Das Kino wird darin zur Vermessung der Gesellschaft. The Secret Agent führt diese Entwicklung fort. Was als Thriller beginnt, entfaltet sich als moralische Parabel über Anstand in Zeiten der Willkür. Gekonnt spielt Mendonça Filho mit Tonlagen und Genreelementen, sein Film changiert zwischen Groteske, Filmnoir und Körperhorror. Die Zeit des Karnevals, mit ihren Turbulenzen von Musik, Körpern und Farben, erscheint als ekstatische Oberfläche, unter der sich die Geister der Vergangenheit tummeln.

The Secret Agent ist ein heißer Oscar-Kandidat

Bevor er Regisseur wurde, war Mendonça Filho Filmkritiker. Man meint das fast in jeder Einstellung zu spüren. Das kritische Sehen, das Analytische im Poetischen prägt seine Handschrift. Seine Filme sind ein Nachdenken über Form, Raum, Macht und Erinnerung. Dass The Secret Agent nun nach dem Regie- und Darstellerpreis in Cannes für Brasilien ins Oscar-Rennen geht, ist nicht nur eine Auszeichnung für Mendonça Filho und Hauptdarsteller Wagner Moura.

Nachdem Walter Salles‘ Diktaturdrama Für immer hier im letzten Jahr schon den Oscar als bester internationaler Film gewinnen konnte, ist ein Signal für die Lebendigkeit des brasilianischen Kinos. Jahre der politischen Einschüchterung unter Bolsonaro und ständige Sparvorgaben bei der Förderung haben ihm nicht die Stimme geraubt. In einer Zeit, in der Geschichte oft umgedeutet und wieder zur Waffe wird, macht Mendonça Filho in The Secret Agent deutlich, dass Erinnerung selbst ein Akt des Widerstands sein kann.

The Secret Agent, Kleber Mendonça Filho, Brasilien 2025, 158 Min.

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