Die letzte
Frage an Kamala Harris am Donnerstag ist die kniffligste – und die wohl wichtigste.
Gestellt hat sie nicht die Moderatorin des Abends, die Basketball-Legende Dawn
Staley, die neben Harris auf der Bühne sitzt. Sondern eine Zuhörerin im Parkett der Met, des historischen Opernhauses
in Philadelphia. Nicole Alvarez will von der früheren US-Vizepräsidentin wissen:
„Was können die Demokraten jetzt und vor den nächsten Wahlen tun, um sich
zusammenzuschließen und den Erfolg in Zukunft sicherzustellen?“
Harris mäandert ein wenig, spricht vage davon, dass die Demokraten „Prioritäten“ setzen
müssten, und von „drängenden Themen“, die sie angehen müssten. Aber dann
sagt die 60-Jährige einen Satz, der hängenbleibt: „Wir werden keinen Messias
haben. Als Demokraten können wir nicht einfach herumsitzen und auf den Erlöser
warten.“
Dass die US-Demokraten
nach der schweren Wahlniederlage im vergangenen Jahr auf einen Erlöser hoffen mögen,
klingt einleuchtend. Aber nach acht Monaten mit Donald Trump im Weißen Haus werden
die Fragen drängender, aus welcher Richtung eigentlich die Rettung kommen könnte
– und warum da bisher so wenig zu erkennen ist.
Was bezweckt sie mit dem Buch eigentlich?
Auch Kamala Harris, die in Philadelphia ihr Buch 107 Tage über ihren kurzen Präsidentschaftswahlkampf
im vergangenen Jahr vorstellt, kann darauf keine zufriedenstellende Antwort geben.
Sie sagt weder, dass sie selbst noch einmal antreten wird, noch, dass sie es
nicht tut. Zumindest noch nicht. Aber ihre Mahnung, sich auf mehr als auf Personalspekulationen
zu konzentrieren, klingt einleuchtend, wenn auch etwas naiv. Es gebe in der Partei
„viele Stars, die großartige Arbeit leisten und unterschiedliche Bereiche
abdecken“, sagt sie. „Lassen wir uns davon also nicht ablenken.“
Für einen
Neustart, sagt sie weiter, sei es unerlässlich, dass die Partei sich ehrlich
mache „über das, was gut laufe, und das, was nicht“ – und nicht „nostalgisch“
an Dingen festhalte, die nicht funktionierten. Ihr in
dieser Woche erschienenes Buch soll einen Beitrag zu dieser Transparenzinitiative leisten. Das Problem des Genres: Es geht um die Vergangenheit, obwohl doch Zukunftsvisionen dringend gefragt sind.
Auf 300 Seiten rekapituliert Harris
den Wahlkampf-Sprint aus ihrer persönlichen Sicht. Sie berichtet von der Aufbruchsstimmung
nach Joe Bidens Ankündigung in letzter Sekunde, doch nicht mehr anzutreten. Von
der Euphorie der ersten Wochen, als alles zu glücken schien, die Auftritte reibungslos
verliefen. Und von der großen Enttäuschung, als klar wurde, dass es am Ende
nicht gereicht hat. Auch wenn, wie sie auf der Met-Bühne am Donnerstag sagt,
die Wahl so knapp ausgegangen sei wie keine andere im 21. Jahrhundert.
Harris legt ihre
Sicht auf diese dramatischen 15 Wochen dar, ganz offensichtlich getrieben von
dem Wunsch, sich zu rechtfertigen. Dabei schreckt sie nicht davor zurück,
bisher unbekannte Details auszuplaudern. Vor ein paar Tagen wurden Auszüge des
Buches von ausgewählten US-Medien vorab veröffentlicht. Anschließend hat die Debatte darüber
begonnen, was sie damit eigentlich bezweckt.
Ihr Buch sei keine Abrechnung, sagt Harris
Hatte sie im Wahlkampf noch alles
darangesetzt, trotz aller Patzer und Ausfälle des Präsidenten keinen Zweifel an ihrer Loyalität zu Biden aufkommen zu lassen, so
thematisiert sie nun – mit mehr als einem Jahr Verspätung – sein starrsinniges
Festhalten am Amt. Auch kritisiert sie, dass sein Team sie als Vizepräsidentin
„vier Jahre lang versteckt“ habe. Ihre Stabschefin habe darum betteln müssen,
dass man sie bei Auftritten nicht nur „wie eine Topfpflanze“ neben Biden positioniert.
Solche Details sollen den Buchverkauf ankurbeln. Wer interessiert sich nicht
für Interna aus der mächtigsten Regierungszentrale der Welt? Aber sie hinterlassen auch einen schalen Nachgeschmack.
Politstrategen
im ganzen Land beugen sich nun über das Buch und verfolgen Harris‘ Auftritte im Fernsehen
oder bei Events wie dem am Donnerstagabend, um herauszufinden, was sie als Nächstes plant. Ein Indiz für ihren weiter vorhandenen Ehrgeiz könnte sein, dass sie in dem Buch gleich mehrere potenzielle Rivalen anrempelt. Etwa den kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom, der aus seinen
Ambitionen, 2028 anzutreten, keinen Hehl macht. Newsom habe ihr nach Bidens
Rückzug getextet, dass er wandern sei, sich aber rasch melden werde. Danach habe sie
nichts mehr von ihm gehört.
Bei einem
Teil der Partei lösen solche Anekdoten Unverständnis aus: Diese Art der
Lästerei reiße kaum verheilte Wunden auf und sei wenig hilfreich angesichts der vordrängenden Aufgabe, die Partei
zu vereinen und eine gemeinsame Strategie gegen Trump zu finden, heißt es. Sie selbst
sagt am Donnerstag, das sei der Grund, warum sie ursprünglich keine Vorabdrucke haben wollte. Ihr Buch sei keine Abrechnung, sondern der Versuch, ihre Geschichte
selbst zu erzählen. Dazu müsse aber alles am Stück gelesen werden.
„Sie ist wirklich inspirierend“
In der Met
in Philadelphia ist von dem Unmut in der Politikblase nichts zu spüren. Mehrere Zuhörerinnen tragen Harris-T-Shirts. Anders
als am Vorabend in New York stören auch keine israelkritischen Zwischenrufe die Veranstaltung. Zwar sind einige Plätze in den Rängen leer geblieben, aber
das lässt sich vielleicht mit dem Wetter begründen. Wer dem Regen getrotzt
hat, und das sind hauptsächlich Frauen, darunter viele Schwarze, ist gekommen,
um ein Idol zu sehen. Eine, die Glasdecken durchbrochen hat, eine, die weiß,
wie es ist, sich alles immer härter erkämpfen zu müssen als andere. Und eine,
die es gerne noch einmal versuchen darf – wenn sie dafür stark genug ist, wie Lorraine
sagt, die den Auftritt von weit oben unter dem Dach verfolgt. Ihren Nachnamen
will die 60-Jährige nicht in der Zeitung lesen. Ihre Nachbarin
ergänzt, dass Newsom aber wohl bessere Chancen hätte. Die Amerikaner würden
keine schwarze Frau wählen.
Imari
Harris, 22, ist aus Boston angereist. Zusammen mit ihrer Freundin Anessa
Feero, 26, hat sie das ganze Paket gebucht: VIP-Meet-and-Greet-Tickets,
ein Foto mit Harris und ein signiertes Exemplar des Buches. Von dem kurzen
VIP-Treffen vor Beginn der Diskussion ist Imari noch ganz aufgekratzt: „Es war so surreal.
Als ich Kamala Harris die Hand schütteln konnte, kamen mir die Tränen. Wir sind
Jurastudentinnen – und sie war Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten! Sie ist
wirklich inspirierend, vor allem für junge schwarze Frauen in Amerika, die aufwuchsen
und sich nicht repräsentiert fühlten, bis sie auf die politische Bühne trat.“ Ihre
Niederlage habe Harris mit großer Würde getragen, findet Imari – obwohl sie
sich wieder einmal anhören müsse, dass sie nicht gut genug sei.
Glaubt man
den Umfragen, sieht das auch heute noch eine Mehrheit so. Harris
lehnen mehr Wähler ab, als sie gut finden. Zuletzt sind ihre Zustimmungswerte insbesondere
bei Unabhängigen zurückgegangen, und Umfragen legen nahe, dass ihr Rückhalt
innerhalb der Demokratischen Partei abnimmt. Manche Beobachter wie der politische
Journalist Chris Cillizza sind überzeugt, nun stehe endgültig fest, dass sie
schon immer eine schlechte Kandidatin gewesen sei. Aus, der Traum?
Den Namen Trump sagt sie nicht
Harris
selbst bekräftigt zumindest, weiterkämpfen zu wollen. Ihre Partei fordert sie auf,
angesichts „des Mannes, der vorübergehend im Weißen Haus sitzt“ – den Namen
Trump nennt sie nicht –, aggressiver vorzugehen. Denn fast alles sei genauso eingetreten, wie sie prophezeit habe. Was sie allerdings nicht vorhergesehen habe, sei die „Kapitulation“. „Ich habe meine gesamte Karriere im öffentlichen Dienst verbracht und habe naiv geglaubt, dass Führungskräfte aus der Privatwirtschaft, die Titanen der Industrie, im Ernstfall als Schutzwall für unsere Demokratie fungieren würden. Aber man sieht die kraftlose Reaktion auf diese Regierung, wo Universitäten, Medienkonzerne und Anwaltskanzleien einfach zusammenbrechen und vor einem Tyrannen niederknien, und wofür? Weil sie Angst vor Vergeltungsmaßnahmen haben.“ In der TV-Debatte mit Trump 2024 habe sie über Angst und Schmeichelei gesprochen, „denn darauf reagiert dieser Mann“. Und jetzt wollten ihm manche den Friedensnobelpreis verleihen, ruft sie ungläubig. „Worüber machen die sich Sorgen?“ Das alles gehe auf Kosten der Demokratie und dem verfassungsmäßigen Recht auf freie Meinungsäußerung.
Die Demokraten neigten dazu,
Regeln zu befolgen, sagt Harris weiter. „Wir glauben, dass es ein gewisses Maß an Anstand geben
sollte.“ Aber jetzt sei die Lage eine ganz andere. „Wir müssen Feuer mit Feuer
bekämpfen“, ruft sie den Zuhörerinnen am Ende zu. Die belohnen das mit standing
ovations.
Draußen vor der Tür hat ein fliegender Händler in der Zwischenzeit einen Klapptisch aufgebaut. Darauf liegen bunte T-Shirts mit Harris‘ Konterfei und Slogans für den Wahlkampf. Dem von 2024.