Dieser Text erscheint in einer Reihe namens „Dispatches from LA“,
die ZEIT ONLINE gemeinsam mit dem Thomas Mann House in Los Angeles
gestaltet. Vor und nach der US-Präsidentschaftswahl am 5. November 2024
berichten aktuelle und ehemalige Fellows des Thomas Mann House für ZEIT
ONLINE über die Gegenwart der USA.
Die Zukunft gehört in Kalifornien mehr zur Gegenwart als in Deutschland. Sie wird als etwas betrachtet, das man selbst in der Hand hat, selbst formen kann. Das merke ich hier im Alltag an ganz unterschiedlichen Stellen. Es geht dynamischer zu als in Deutschland, prickelnder, sprudeliger. Kulturelle Vielfalt, eine hohe Dichte an Talenten und die Interaktion zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und ja, auch dem Militär, all das schafft eine Kultur des Experimentierens und des Fortschritts.
Vom Silicon Valley aus werden die neuesten technischen und technologischen Entwicklungen
in die Welt getragen. Wir Deutschen hingegen neigen oft dazu, die Zukunft vor
uns herzuschieben wie ein lästiges Paket, dessen Inhalt wir nicht kennen und
das uns deshalb bedrohlich vorkommt. Im Vergleich dazu empfängt man das
Päckchen in Kalifornien mit Vorfreude, weil man sich bereits vorher Gedanken
darüber gemacht hat, was wohl darin sein könnte – und was man darin haben möchte.
Zukunft ist hier etwas, das wir aktiv mitgestalten können. In Deutschland wird
das oft ausgeblendet.
Tatsächlich
ist Zukunft nicht gleich Zukunft. Im Französischen gibt es dafür sogar zwei
Begriffe: le future
und l’avenir. Avenir ist die Zukunft, die unweigerlich auf uns zukommt, le
future die ferne, ungewisse Zukunft. In der Zukunftsforschung spricht man von
gesellschaftlichen Megatrends. Diese globalen Trends entwickeln sich zwar
langsam, aber stetig über Jahrzehnte hinweg. Es sind Lawinen in Zeitlupe, die
uns alle erfassen, wirtschaftlich, politisch und kulturell.
Das macht Megatrends zu großen
Herausforderungen, nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für unsere
Demokratie. Ob aus dieser Herausforderung aber ein echtes Problem wird oder
vielleicht sogar eine Chance, ist nicht vorherbestimmt: Wie genau uns die Megatrends
erfassen und welche Konsequenzen sie haben, können wir selbst gestalten – genau
das meint auch das französische future. Durch visionäre Politik können
wir die großen Herausforderungen unserer Zeit nicht umkehren, aber ihre Auswirkungen
aktiv mitbestimmen. Dass wir dies gemeinsam tun, macht die Demokratie zur
Demokratie.
Mein temporärer Arbeitsplatz in Los Angeles hat mich dazu animiert, mir einmal genau anzusehen, wie Kalifornien
diesen Herausforderungen für die Demokratie begegnet und welche Lösungen es
hier schon gibt, exemplarisch am Beispiel zweier zentraler Themen unserer Zeit:
Migration und Digitalisierung.
Die USA und Deutschland sind Einwanderungsländer
Migration steht auf beiden Seiten
des Atlantiks so hoch oben auf der Tagesordnung wie kaum ein anderes Thema. In
Deutschland haben inzwischen über 43 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren
einen Migrationshintergrund, in Kalifornien sind es sogar 50 Prozent, und jeden
Tag wollen neue Menschen ins Land – hier wie dort. In Europa wird deshalb über Grenzschließungen
diskutiert, in den USA über Zäune zwischen den südlichen US-Staaten und Mexiko.
In beiden Fällen geht es um die Kontrolle und Steuerung von Migration.
Deutschland und die USA nehmen
dabei eine ähnliche Rolle ein, denn beide Länder sind historisch gesehen
Einwanderungsländer. Deutschland war schon zu Zeiten des Kaiserreichs eines, hat dies aber systematisch
negiert: Nach 1871 kamen überwiegend Staatsangehörige des Zarenreichs und
der Habsburgermonarchie, die qua Sprache und Tradition polnischer Herkunft waren.
Die moderne Geschichte der USA beginnt gar mit Einwanderern, den Siedlern aus
England im 16. Jahrhundert. Bis heute zieht das Versprechen vom Land der
Neuanfänge nach wie vor Menschen aus aller Welt an.
In Kalifornien ist das besonders
extrem. Hier lebten 2023 über 10 Millionen Einwanderer, fast ein Drittel der kalifornischen
Bevölkerung ist im Ausland geboren. Das ist der höchste Anteil aller
Bundesstaaten. Auch wenn Einwanderung national geregelt wird, erlauben
Regulierungsfreiräume auch eigene bundesstaatliche Lösungen und Akzente. In Kalifornien
gibt es eine Reihe von Gesetzen, die es erleichtern, Einwanderer zu integrieren
und die dazu beitragen sollen, die Rechte der Immigranten besser zu schützen. Unter
besonderem Schutz stehen etwa die geschätzten zwei bis drei Millionen Menschen,
die ohne Papiere ins Land gekommen sind.
In Kalifornien gibt es keine Leitkultur-Debatten
Kalifornien hat sich zum sanctuary
state für die sogenannten undocumented immigrants erklärt, also zum Ort der Zuflucht. Städte wie Los Angeles und San Francisco bieten diesen
Menschen Schutz vor Abschiebung. Für junge Einwanderer ohne Papiere hat Kalifornien
sogar eigene Stipendien und Studienhilfeprogramme geschaffen. Jeder soll hier die
gleichen Chancen haben, sein Glück zu finden, nicht
zuletzt deswegen heißt diese Bevölkerungsgruppe auch dreamers.
Politisch überwiegt in Kalifornien
das Nutzen-Argument in Hinblick auf Migration, nur so kann der
Arbeitskräftemangel gelöst werden.
Gleichzeitig binden Arbeitgeber Immigranten oft ganz selbstverständlich in die
Unternehmen ein, die deutsche Diskussion um „Integration“ und „Leitkultur“ gibt
es daher in Kalifornien so nicht.
In Deutschland ist Migration ein
ungleich größeres Skandal- und Streitthema, die Abwehrbewegung ungleich stärker – wobei die meisten
Einwanderer in Kalifornien auch nicht aus einem anderen religiösen Kontext
kommen als die Einheimischen. Das ist in Deutschland anders. Dennoch: Es ist in
den USA grundsätzlich viel eher auch für Einwanderer möglich, die neue nationale
Identität in Anspruch zu nehmen. Es spielt aber nicht nur die politische
Steuerung, es spielen auch Narrative und Mythen eine zentrale Rolle beim Umgang
mit Migration.
Dieser Text erscheint in einer Reihe namens „Dispatches from LA“,
die ZEIT ONLINE gemeinsam mit dem Thomas Mann House in Los Angeles
gestaltet. Vor und nach der US-Präsidentschaftswahl am 5. November 2024
berichten aktuelle und ehemalige Fellows des Thomas Mann House für ZEIT
ONLINE über die Gegenwart der USA.
Die Zukunft gehört in Kalifornien mehr zur Gegenwart als in Deutschland. Sie wird als etwas betrachtet, das man selbst in der Hand hat, selbst formen kann. Das merke ich hier im Alltag an ganz unterschiedlichen Stellen. Es geht dynamischer zu als in Deutschland, prickelnder, sprudeliger. Kulturelle Vielfalt, eine hohe Dichte an Talenten und die Interaktion zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und ja, auch dem Militär, all das schafft eine Kultur des Experimentierens und des Fortschritts.