Julie Andrews wird 90: Die zwei Gesichter des Ruhms

Am Anfang von Blake Edwards’ „Darling Lili“ von 1970 taucht ihr Gesicht aus dem Dunkel auf wie eine Erscheinung aus einem Traum. Dann beginnt sie ein Lied von Hen­ry Mancini zu singen, „Whistling Away the Dark“, während die Kamera sich um sie dreht, bis die Bewegung des Films ihren Körper erfasst und die Gesangsnummer in einen zauberischen Tanz verwandelt. Es ist eine der kaum bekannten großen Szenen der Kinogeschichte, und wenn man sich fragt, warum Julie Andrews damit nicht unsterblich wurde, muss die Antwort lauten: Weil sie es schon war.

In ihrer Autobiographie „Home“ hat Andrews erzählt, wie sie, das Kind einer außerehelichen Affäre ihrer Mutter, aufgewachsen mit einem übergriffigen Stiefvater in ärmlichen Verhältnissen, als Zwölfjährige zum ersten Mal auf einer großen Londoner Bühne stand. Sie sang die Arie der Philine aus der Oper „Mignon“, und am Schluss traf sie mühelos das dreigestrichene F. „Es gab ein Raunen, und dann drehte das Publikum durch. Die Leute erhoben sich und hörten nicht auf zu klatschen. Mein Song hielt die Aufführung buchstäblich an.“

„Cinderella“ vor hundert Millionen Zuschauern

Dass ihre Stimme, obwohl zu dünn für eine Karriere als Opernsängerin, vier Oktaven umfasste, öffnete ihr danach alle Türen. Mit zwanzig sang und spielte sie die Eliza Doolittle in der Broadway-Fassung von „My Fair Lady“, mit einundzwanzig gab sie vor mehr als hundert Millionen Fernsehzuschauern das Aschenputtel in der Live-Ausstrahlung des Rodgers-und-Hammerstein-Musicals „Cinderella“, und mit vierundzwanzig stand sie mit Richard Burton in „Camelot“ auf der Bühne. Die Hauptrolle in der Hollywood-Verfilmung von „My Fair Lady“ wäre der logische nächste Schritt gewesen, aber weil Andrews noch kein bekanntes Kinogesicht war, ging der Part an Audrey Hepburn.

Vom Himmel herab: Julie Andrews in „Mary Poppins“ (1964)Allstar/Walt Disney Productions

Stattdessen spielte Andrews das fliegende Kindermädchen in Walt Disneys „Mary Poppins“. Von heute aus fällt es schwer, sich vorzustellen, was der Film in der Mitte der Sechzigerjahre bedeutete. Seine Melodien, von „A Spoonful of Sugar“ bis „Chim-chim-cheree“, waren überall, im Radio, im Fernsehen, auf der Straße, seine Dekorationen lösten eine Kinderzimmermode aus. Die fünf Oscars von 1965, darunter einer für Julie Andrews, waren der pflichtschuldige Dank der Filmindustrie. Und Julie Andrews, die anschließend mit Hitchcock („Der zerrissene Vorhang“) und George Roy Hill („Modern Millie“) dreht und in „The Sound of Music“ mit ihren Liedern die Alpen zum Glühen brachte, war jetzt ein Star.

Liebe unter Spionen: Andrews mit Paul Newman in Alfred Hitchcocks „Der zerrissene Vorhang“ (1966)picture alliance / COLLECTION CHRISTOPHEL/ RnB

Sie blieb es auch nach „Darling Lili“, obwohl der Film ein Flop war. Seinen Regisseur hatte sie nach dem Ende der Dreharbeiten geheiratet, und danach drehte sie noch sechs weitere Filme mit Blake Edwards, der ihr Rollen gab, die ihrer quecksilbrigen, aus kühler Eleganz und burschikoser Erotik gemischten Ausstrahlung entgegenkamen. Die schönste war die der Verwandlungskünstlerin aus „Victor/Victoria“, die ihre Travestie nicht aufgeben will, weil sie nur so das Leben von beiden Seiten kennenlerne, wie sie ihrem Geliebten James Garner erklärt. So kannte Andrews an der Seite des Hollywood-Außenseiters Edwards beide Seiten des Ruhms.

Nach dem Tod des Regisseurs im Jahr 2010 hat sie nur noch wenige Filme gedreht. In den meisten von ihnen tritt sie nicht als Person, sondern nur noch mit ihrer Stimme auf. Diese reicht schon längst nicht mehr über vier Oktaven, aber wer sie einmal gehört hat, behält sie im Ohr. Heute wird Julie Andrews neunzig Jahre alt.

Source: faz.net