Rainer Maria Rilke spricht in einem seiner schönsten Gedichte, das den programmatischen Titel Der Leser (1918) trägt, vom Flow des Lesens: „Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht / wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, / das nur das schnelle Wenden voller Seiten / manchmal gewaltsam unterbricht? / … / mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend / anstießen an die fertig-volle Welt: / …“ Lesen entrückt uns im besten Fall der Welt und ermöglicht eine Erfahrung: die Erfahrung des Glücks, sich selbst und die Zeit, in der man lebt, zu vergessen und sich in den Worten zu verlieren.
Rilkes Texte erfüllen diese Versprechen: Rilke ist Kult. Jeder kennt Rilkes Panther: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so müd geworden, daß er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“ Jeder, der etwas über den Horror einer Schulstunde und der strukturellen Gewalt in Bildungsinstitutionen erfahren möchte, lese bitte Rilkes Evergreen Die Turnstunde (1899/1902).
Im Rilke-Jahr 2025 (der 4. Dezember 2025 ist Rilkes 150. Geburtstag) sind gleich zwei neue Biografien erschienen, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen und sich auch an unterschiedliche Leser*innen wenden: Rilke – Dichter der Angst von Manfred Koch und Rainer Maria Rilke oder Das Offene Leben von Sandra Richter. Beiden Autor*innen geht es um die Aktualität Rilkes, also darum, was seine Texte uns jenseits ihrer Musealisierung in Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft noch zu sagen haben.
Die Moderne ist nicht nur Fortschritt
Beide Biografien sind erkennbar literaturwissenschaftlich geprägt, schließlich sind beide Literaturwissenschaftler*innen – Manfred Koch in der Schweiz und Sandra Richter an der Universität Stuttgart. Die Stuttgarter Professorin ist auch Direktorin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach und hat in dieser Funktion Zugriff auf den dort verwahrten Nachlass Rilkes.
Manfred Koch stellt seine Biografie, die nicht nur eine Lebensrekonstruktion ist, sondern in exemplarischen Textanalysen Rilkes Leben über seine Texte vermittelt, unter den programmatischen Titel Dichter der Angst. Angst ist, spätestens seit Kierkegaard und Heidegger, ein Grundgefühl moderner Existenz und gleichzeitig ein Modus in der Erfahrung von Moderne, deren Dichter Rilke auf verschlungene Art und Weise ist: Moderne ist nicht nur Fortschritt, sondern eben auch Verlust von Verbindlichkeit, von Sinnhaftigkeit, von Gemeinschaft. Der Dichter Rilke gibt uns damit eine Literatur an die Hand, die uns die Erfahrung von Verlust vermittelt, aber gleichzeitig auch zeigt, dass der Gang in die Kunst und eine umgreifende Ästhetisierung des Lebens Erlösung bieten kann.
Wie heißt es doch in den Duineser Elegien (auch so ein Evergreen): „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang“. In Kochs Biografie stellt Rilkes einziger Roman, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von 1910, so etwas wie den roten Faden dar. Koch kommt immer wieder auf diesen wichtigen, nicht ganz einfach zu lesenden Roman zurück, der als der erste veritable Großstadtroman der deutschen Literatur gilt.
Rilke war auch ein Netzwerker
Er erzählt von einem jungen dänischen Schriftsteller, der im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in der hypernervösen, kalten und von Verelendung geprägten Großstadt, sich und sein Werk zu finden sucht. Kochs Werk adressiert erkennbar die literaturwissenschaftliche Gemeinde. Sandra Richters Buch hingegen ist leicht und publikumsorientiert geschrieben. Es liest sich auch für literaturwissenschaftliche Laien sehr gut.
Richter zeichnet Rilkes Leben und Wirken weniger düster nach. Ihr Anliegen ist es, das Bild des einsamen, nur mit sich selbst beschäftigten Schriftstellers Rainer Maria Rilke ein wenig zurechtzurücken. Rilkes Image ist das des einsamen Dichters, dem nur in der Abwesenheit des Sozialen die Dichtung gelingt. Richter stellt aber den Netzwerker und den in den aktuellen Diskursen seiner Gegenwart intervenierenden Dichter vor. Sie widerspricht damit dem gängigen Urteil, Rilke sei ein Dichter der Einsamkeit gewesen.
Rilke war engagiert in Fragen der Bildungs- und der Schulpolitik, hat sich bisweilen auch zu ökologischen Fragen geäußert. Richter stellt auch mehr noch als Koch die intellektuellen Netzwerke, in denen sich Rilke bewegte, in den Mittelpunkt. In ihrem programmatischen Nachwort bezeichnet sie Rilke als Vertreter eines „restaurativen Modernismus“.
So gesehen thematisiert Rilkes Schreiben nach Richters Auffassung jene Form von Modernisierung, die vergessen hat, dass Modernisierung als große Fortschrittserzählung immer schon ihre andere Seite produziert: nämlich den Verlust. Was das betrifft, kann man nicht nur als Rilke-Leser*in mit großem Gewinn Andreas Reckwitz’ Verlust. Ein Grundproblem der Moderne (Suhrkamp 2024) lesen.
Geschenke an die Leser*innen
Was in beiden Rilke-Biografien fehlt, ist die wichtige Rolle der bildenden Kunst für dessen Verse und Prosa. Sicher, beide erzählen vom Aufenthalt als Sekretär bei Auguste Rodin und schildern auch die Begegnung mit Paul Cézannes Werk. Malte Laurids Brigges Satz „Ich lerne sehen“ bedeutet, dass das Sehen als Wahrnehmungsakt ein produktiver Akt ist, der Wirklichkeit erst erschafft, sie präsent werden lässt. Das ist ja genau das, was wir auf Cézannes Bildern, wie etwa dem berühmten Mont Sainte-Victoire, sehen. Wir sehen nur Farben, die das Material der Darstellung bilden. Der Berg entsteht aus den Farben, aus ihrer Wahrnehmung und ihrem Spiel.
Die Wirklichkeit der Literatur, so kann man mit Rilke sagen, ist nicht einfach da, sie muss erst gleichsam durch das Material der Sprache hindurchgetrieben werden. Davon kann die Gegenwartsliteratur in ihrem teilweise naiven Realismus einiges lernen. Der Schriftsteller Clemens J. Setz zitiert in seinem Büchlein Rilke. 100 Seiten W. H. Auden, der Rilke etwas ironisch als „Santa Claus of loneliness“ bezeichnet hat. Rilkes Verse der Einsamkeit, seine Prosa der Erschütterungen poetischer Gewissheiten und die Intermedialität seiner Sprachkunst sind auch noch heute Geschenke an die Leser*innen.
Rilke. Dichter der Angst – Eine Biographie Manfred Koch C.H. Beck 2025, 560 S., 34 €
Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben Sandra Richter Suhrkamp 2025, 478 S., 28 €
Rainer Maria Rilke. 100 Seiten Clemens J. Setz Reclam 2025, 100 S., 12 €