Jobs z. Hd. Geflüchtete: Die Syrer wie Vorbild z. Hd. die Ukrainer?

Daniel Terzenbach liebt Grafiken, vor allem zwei davon haben es ihm angetan. Der 43-Jährige sitzt in seinem Vorstandsbüro in der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit, er amtiert seit dem vorigen Oktober als „Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten“, wie der offizielle Titel lautet. Die eine Kurve, die er auf dem Bildschirm der Videokonferenz aufploppen lässt, zeigt den Anteil der Arbeitslosen, die pro Monat eine Beschäftigung aufnehmen. Der Wert ist historisch niedrig, niedriger sogar als in der Wirtschaftskrise, die 2009 auf den Zusammenbruch der Finanzmärkte folgte. Die andere Grafik zeigt, wie diese Zahl bei den Geflüchteten aussieht. Sie liegt höher als im Durchschnitt der Bevölkerung.

Die Botschaft ist klar: Ganz so schlecht, wie manche in diesen Tagen behaupten, läuft es mit der Arbeitsmarktintegration der Geflüchteten aus der Ukraine gar nicht – jedenfalls wenn man es an der mauen Konjunkturlage in Deutschland misst. Mag sein, dass die Hoffnungen größer waren, als Arbeitsminister Hubertus Heil den Nürnberger Agenturvorstand vor einem Dreivierteljahr zum Flüchtlingsbeauftragten machte. Aber die Wachstumsprognosen haben sich seitdem ja auch beträchtlich eingetrübt.

„Die Rahmenbedingungen haben sich verschlechtert. Vorigen Herbst wurden noch 1,3 Prozent Wachstum für 2024 erwartet, jetzt sind wir nahe null Prozent. Die Nachfrage nach Arbeitskräften ist historisch niedrig“, sagt Terzenbach. „Und trotzdem haben wir es im Juni geschafft, fast doppelt so viele Ukrainerinnen und Ukrainer in den Arbeitsmarkt zu integrieren wie im Vorjahr, während die Arbeitslosigkeit insgesamt gestiegen ist.“

Am vorigen Wochenende hatte der CSU-Politiker Alexander Dobrindt sogar vorgeschlagen, Ukrainerinnen und Ukrainer wieder zurückzuschicken, wenn sie für ihren Lebensunterhalt in Deutschland nicht selbst aufkommen könnten. Das dürfte in der vergleichsweise sicheren Westukraine freilich schon an der Unterbringung scheitern. Schließlich belegen in Städten wie dem transkarpatischen Uschgorod schon jetzt ukrainische Binnenflüchtlinge jeden verfügbaren Wohnraum.

Bessere Quote als in der Gesamtbevölkerung

Erstaunlich ist die Entwicklung schon. Als 2015/16 die Flüchtlinge in großer Zahl aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan kamen, war die Integrationsskepsis in der Bevölkerung groß. Nicht jeder Syrer sei ein Arzt, hieß es damals – und das war keineswegs als neutrale Feststellung gemeint. Die dringend benötigten Fachkräfte, so der Subtext, seien unter den Neuankömmlingen eben kaum zu finden.

Als vor gut zwei Jahren die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine eintrafen, lief es genau umgekehrt. Kritik gab es anfangs kaum, auch viele Skeptiker von 2015 taten sich 2022 nicht mit öffentlichen Einwänden hervor. Von einer größeren kulturellen Nähe war die Rede und von einem höheren Qualifikationsniveau, beides Faktoren, die doch angeblich die Integration erleichtern sollten.

Inzwischen ist angesichts der allgemeinen Krisenstimmung nicht nur in Teilen der Bevölkerung die Laune gekippt. Auch die nackten Zahlen ergeben ein erstaunlich umgedrehtes Bild, das zumindest auf den ersten Blick für die Flüchtlinge von 2022 erheblich ungünstiger ausfällt als für ihre Vorgänger von 2015.

Arbeit wichtiger als Qualifikation

Unter den erwerbsfähigen Männern, die 2015/16 kamen, gehen nach einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) 86 Prozent einer Beschäftigung nach, in den meisten Fällen einem sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob. Die Quote liegt sogar höher als in der Gesamtbevölkerung, wo sie nur 81 Prozent beträgt – eine Differenz, die sich vor allem aus dem jüngeren Altersschnitt erklärt.

Mehr noch: Deutschland ist hier auch erfolgreicher als viele andere Länder, die seinerzeit viele Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen haben wie etwa Österreich, Schweden oder die Niederlande. „Bei der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen, die 2015/16 gekommen sind, steht Deutschland um zehn bis 15 Prozentpunkte besser da als die meisten anderen europäischen Länder“, sagt IAB-Forscher Herbert Brücker. „Ein paar Dinge müssen wir also richtig gemacht haben.“

Anders sieht es, so das verbreitete Bild, mit den Ukrainerinnen und Ukra­inern aus: Nur 27 Prozent von ihnen sind nach jüngsten Zahlen im Job – nicht nur viel weniger als unter den Syrern, sondern auch weniger als in anderen europäischen Ländern – allerdings nur zu Einzelnen. „Was die Ukrainer betrifft, sind wir im europäischen Mittelfeld“, sagt Brücker. „Die hohen Beschäftigungsquoten in einigen mittelosteuropäischen Ländern, Dänemark oder den Niederlanden sind auch damit erkauft, dass Leute weit unterhalb ihrer Qualifikation arbeiten. Das wird sich langfristig nicht auszahlen.“

Work-First-Strategie nennt sich die Methode, die Niederländer oder Dänen anwenden: Hauptsache, die Geflüchteten bekommen schnell einen Job, auch wenn sie ihre Fähigkeiten dort gar nicht einbringen können. In den Niederlanden, der Hochburg der Zeitarbeit, sind das oft On-Call-Jobs, bei denen die Arbeitskräfte stundenweise abgerufen werden können – und in der Statistik trotzdem als Beschäftigte gezählt werden. In Deutschland wäre das schon rechtlich gar nicht möglich.

Ein vermeintlicher Vorteil verwandelt sich in einen Nachteil

Deutsche Arbeitsmarktexperten bezweifeln jedoch, ob man sich etwa als Lagerarbeiter oder als Tellerwäscher in der Gastronomie hocharbeiten kann. Sie bevorzugen zumindest qualifikationsnahe Tätigkeiten. Terzenbach nennt das Beispiel einer ukrainischen Pharmazeutin, die zumindest Hilfsjobs in einer Apotheke verrichtet, bis ihr Abschluss offiziell anerkannt ist.

Daran hakt die Sache aber gewaltig: Ausgerechnet das Land, das am meisten Wert auf qualifizierte Beschäftigung legt, tut sich mit der Anerkennung dieser Qualifikationen besonders schwer. „Wir haben in Deutschland zwischen 700 und 1.200 Ämter, die für die Anerkennung ausländischer Abschlüsse zuständig sind, so ganz genau weiß das niemand“, klagt Terzenbach. „Das beschreibt den Dschungel. Wenn wir das als Experten schon nicht wissen, wie sollen sich dann die geflüchteten Menschen zurechtfinden?“

So verwandelt sich ein vermeintlicher Vorteil in einen Nachteil. Viele Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak bekamen relativ schnell einen Job, in dem sie Pakete ausfuhren oder Betten in Hotels bezogen. Leuten mit höheren Bildungsabschlüssen hätten sich dazu wohl nicht so leicht herabgelassen.

Extrem sprachfixierter Arbeitsmarkt

Eine große Rolle spielt dabei auch das Geschlechterverhältnis. 2015 kamen zu zwei Dritteln Männer, 2022 zu zwei Dritteln Frauen, oft mit Kindern. Auch fehlende Kitaplätz in Deutschland tragen also ihren Teil dazu bei, dass die Erwerbsquote niedriger ausfällt als in anderen Ländern. Das gilt schon für Jobs mit geregelten Arbeitszeiten. In vielen Mangelberufen müssen die Beschäftigten aber auch abends oder nachts arbeiten – ob das nun die erwähnte Paketbranche ist oder ob es sich um Krankenhäuser, Pflegeheime, Verkehrsbetriebe oder Restaurants handelt.

Hinzu kommt das Sprachproblem. „Ein großes Problem ist die Sprache. Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist schon extrem sprachfixiert, stärker als in anderen Ländern“, sagt Terzenbach. „Hinzu kommt, Polnisch oder Tschechisch sind dem Ukrainischen relativ nah, in den Niederlanden oder in Skandinavien kommen Sie mit Englisch viel besser durch als bei uns.“ Die Berliner Innenstadtbezirke, wo schon für die Bestellung im Café Englischkenntnisse nützlicher sind als ein flüssiges Deutsch, lassen sich eben nicht aufs ganze Land übertragen. Trotzdem setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die Neuankömmlinge nicht eine endlose Kette von Sprachkursen besuchen sollten, bevor sie den ersten Job antreten. Grundkenntnisse sollten allerdings schon sein, finden die Jobcenter nach wie vor.

Eine Rolle spielt daneben die Frage, ob die Flüchtlinge dauerhaft in Deutschland bleiben wollen. Bei den Neuankömmlingen aus Ländern wie Syrien, dem Irak oder Afghanistan war das von Anfang an der Fall, zu aussichtslos erschien die Lage im jeweiligen Herkunftsland. Bei den Ukrainern war das anders. Eine große Mehrheit unter ihnen gab anfangs an, auf jeden Fall zurückkehren zu wollen oder über die Bleibeperspektive zumindest unsicher zu sein.

Die Zahlen gehen inzwischen zwar leicht zurück, und Migrationsforscher nehmen aus früherer Erfahrung an, dass viele bleiben werden wie etwa nach den Jugoslawienkriegen der Neunzigerjahre. Aber die Neigung, sich dauerhaft auf ein Leben in Deutschland einzurichten, erhöht eine solche Existenz auf gepackten Koffern nicht – ein bisschen wie bei den sogenannten Gastarbeitern der ersten Generation, die während der Sechzigerjahre in die alte Bundesrepublik kamen.

Bei den Transferleistungen im Mittelfeld

Bleibt die Frage, die zuletzt fast so heiß debattiert wurde wie Dobrindts Rückkehr-Vorschlag: Machen möglicherweise hohe Sozialleistungen, also das Bürgergeld für alle Flüchtlinge, die Arbeitsaufnahme aus Sicht der Betroffenen weniger dringlich? Nein, sagt Arbeitsmarktforscher Brücker. „Deutschland liegt bei den Transferleistungen, wenn man sie am jeweiligen Durchschnittseinkommen misst, im europäischen Mittelfeld. Einen klaren Zusammenhang zu den Beschäftigungsquoten gibt es nicht.“ Seine Kollegen am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden dazu bald eine Studie mit konkreteren Zahlen vorlegen.

Ursprünglich war die Entscheidung, den Ukrainerinnen und Ukrainern vom ersten Tag an Bürgergeld zu Zahlen und nicht die geringeren Leistungen für Asylbewerber, sogar vom entgegengesetzten Motiv getrieben: Sie sollten von Anfang an Zugang zu Jobcenter, Sprachkursen und Arbeitsvermittlung haben, und es hatte für die Bundesländer den angenehmen Nebeneffekt, dass der Bund sämtliche Kosten übernahm. Bisher haben sich diese Job-Hoffnungen allerdings noch nicht in dem erwünschten Umfang erfüllt. Zwei Jahre nach dem Flüchtlingswinter von 2015/16 sahen die Zahlen für Syrer & Co. allerdings auch noch nicht so gut aus wie heute. Von daher besteht Hoffnung. Und wenigstens ein kleines bisschen besser werden die Zahlen wohl im Oktober schon sein, wenn Terzenbach und sein Turbo ihre Einjahresbilanz ziehen.

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