Besonders symbolträchtige Kunstwerke werden immer wieder Ziel von Übergriffen labiler Gemüter. Am 14. September 1975 ereilte Rembrandts „Nachtwache“ dieses Schicksal. Die Restaurierung gelang und ließ das Gemälde schöner werden denn je.
Vor seinem Angriff hatte der Täter ganz ruhig gewirkt. Wilhelmus de Rijk, ein 38-jähriger arbeitsloser Lehrer aus Haarlem, wartete wie andere Kunstinteressierte am 14. September 1975 vor dem Eingang zum Amsterdamer Rijksmuseum, das – mit Rücksicht auf den wöchentlichen Gottesdienst sonntags immer erst um 13 Uhr öffnete. Kaum war er eingelassen, strebte sofort in den Saal, in dem neben drei anderen Bildern das Ölgemälde „Die Nachtwache“, hing, das bekannteste Meisterwerk des Niederländers Rembrandt van Rijn.
Als de Rijk vor dem 438 mal 359 Zentimeter großen Gemälde stand, zog er plötzlich ein Messer mit Wellenschliff und schrie: „Jesus hat mich gesandt! Ich muss es tun!“ Dann stach er auf die Leinwand ein. Aufgeschreckt durch den Ruf, stürzten sich ein Wachmann und ein Besucher auf den Angreifer. Während des folgenden Handgemenges fügte der Täter dem Bild noch weitere Schnitte zu – insgesamt ein Dutzend, die zwischen 39 und 100 Zentimeter lang waren. Einige Schnitte beschädigten nur den Firnis, andere durchdrangen auch die Farbschicht und die Leinwand. Im Schritt der dunkel gekleideten Figur im Vordergrund schnitt der Angreifer sogar ein dreieckiges Stück von 28 Zentimeter Höhe und bis zu sechs Zentimeter Breite vollständig aus der Leinwand heraus. Ein Akt des Vandalismus.
Auf so traurig spektakuläre Weise rückte eine von Amsterdams Hauptattraktionen in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Das Werk, 1642 gemalt, ist bekannt unter dem Titel „Die Nachtwache“ – doch der tauchte erstmals 1781 auf. Bis dahin nannte man das großformatige Werk spröder, aber treffender „Auszug der Companie des Hauptmanns Frans Banning Coq und seines Leutnants Willem van Tuytenburch“ (es gibt auch Varianten dieser Bezeichnung). Der Künstler selbst gab seinen Gemälden keine Titel.
Der Hauptmann Banninck (oft und auch auf dem Bild selbst „Banning“ geschrieben) hatte das Bild bei Amsterdams damals prominentestem Maler Harmensz Rembrandt van Rijn in Auftrag gegeben, als Erinnerungsbild für das Schützenhaus, das Quartier der Bürgerwehr des zweiten Stadtviertels. Mit den beiden Offizieren teilten sich weitere Schützen in die Kosten, insgesamt 1600 Gulden. Der eine bezahlte etwas mehr, der andere etwas weniger – je nach dem Raum, den sie auf dem Gemälde einnahmen, wie notariell festgehalten wurde.
Im Großen Saal des Kloveniersdoelen (so der historische Name des Schützenhauses) hing es auch die ersten rund 70 Jahre, bis es um 1715 ins Rathaus am Dam-Platz im Stadtzentrum von Amsterdam verlegt wurde, den heutigen Königspalast. Hier befand es sich mit kurzen Unterbrechungen, bis es 1885 ins neu eröffnete Rijksmuseum der Niederlande gebracht wurde. Seither gilt es als nationales Kulturgut erster Kategorie.
Der Maler hatte statt der traditionellen Darstellung einer Gruppe stehender Personen ein dynamisch bewegtes Bild eines Aufbruchs geschaffen, außerdem zu den bezahlenden Modellen noch eine Reihe Fantasiefiguren ergänzt. „Rembrandt lieferte in diesem Bild, das er auf der Höhe seines Ruhmes malte“, beschrieb WELT, „nicht nur ein Mysterium seiner Farben und des unvergleichlichen Hell-Dunkels (das dann allerdings im Laufe der Jahre so eindunkelte, dass das an sich taghelle Bild später zur ,Nachtwache‘ deklariert wurde), sondern auch der Bedeutung.“
Der Angriff 1975 war nicht die erste substanzielle Beschädigung des Werkes. Um im Rathaus aufgehängt werden zu können, war die ursprünglich 510 mal 402 Zentimeter große Leinwand bereits 1715 an allen vier Seiten gekürzt worden – insgesamt gingen dabei 20 Prozent von Rembrandts Werk verloren, darunter drei Figuren. 1911 dann ritzte ein 28-jähriger, arbeitsloser Seemann in der Mitte des Gemäldes mit einem Schustermesser einen Kreis, ohne jedoch die Farbschicht zu beschädigen. Der Täter gab an, er habe sich am niederländischen Staat „rächen“ wollen, indem er dessen Symbol beschädigte. Er erhielt ein Jahr Haft.
Nach dem wesentlich schlimmeren Anschlag von Wilhelmus de Rijk kommentierte WELT: „Die Beschädigung von Rembrandts ,Nachtwache‘ durch einen verrückten holländischen Lehrer, der in einem unbewachten Augenblick mit einem Messer blindlings auf das berühmte Gemälde einstach, ist bekanntlich nicht die erste derartige Attacke auf ein Kunstwerk – und sie wird leider auch nicht die letzte bleiben.“ Die Gründe dafür beschrieb die Redaktion so: „Wie von einem Magneten werden alle möglichen labilen Gemüter von öffentlich ausgestellten Bildern und Plastiken angezogen, und je größer die Bewunderung ist, die den Schaustücken entgegengebracht wird, umso größer ist auch der Hass der labilen Herostraten.“
Der Täter musste nicht vor Gericht. Psychiater, die den Festgenommenen zwei Tage lang intensiv untersuchten, kamen zum Ergebnis, dass er geisteskrank sei und daher schuldunfähig. Er wurde bis auf Weiteres in eine Nervenklinik eingewiesen; hier nahm er sich im April 1976 das Leben.
Die „Nachtwache“ war zu diesem Zeitpunkt bereits restauriert. Zunächst war der alte, nachgedunkelte Firnis abgenommen worden, mit überraschend deutlichem Ergebnis: „Das leuchtende Gelb der Uniform des Leutnants Willem van Ruytenburgh und das Gewand des kleinen Marketendermädchens strahlen wieder“, sagte der Sprecher des Rijksmuseums beim Pressetermin: „Plötzlich kann man erkennen, dass die ,Nachtwache‘ gar keine Nachtwache, sondern eine Tagwache ist, die in die Stadt einzieht.“
Die Spuren der zwölf Messerschnitte waren nicht mehr zu sehen. Sechs Restauratoren hatten sie beseitigt, Hunderte feiner Leinenfäden durch die Leinwand gezogen, die jahrhundertealte Firnisschicht entfernt. Sogar das herausgeschnittene dreieckige Leinwandstück konnte wieder eingenäht werden.
Über den künftigen Schutz des Gemäldes war man sich unsicher. Hochwertiges, bruchsicheres, entspiegeltes und dünnes Schutzglas (heute als Museumsglas bekannt) gab es 1975 noch nicht. Die Idee, vor der „Nachtwache“ eine Art Fallgrube zu installieren, verwarf man – um das Werk wirksam zu schützen, hätte sie etwa zwei Meter tief sein müssen. So blieb es dabei, dass zu jeder Zeit ein Wächter speziell für den Schutz der „Nachtwache“ neben dem Gemälde stand.
Das erwies sich am 6. April 1990 als segensreich. Zwar gelang es einem weiteren „Herostraten“, mit einer Pumpflasche Schwefelsäure auf mehrere Figuren zu sprühen. Doch zwei Wächter konnten ihn nach wenigen Sekunden überwältigen; sie verdünnten zudem richtigerweise die Schwefelsäure mit bereit stehendem Wasser. So wurde nur der neue, dicke Schutzfirnis beschädigt, der bei der Restaurierung 1975/76 aufgebracht worden war; er konnte ohne größere Probleme an den beschädigten Stellen abgenommen und erneuert werden.
Source: welt.de