In den Neunzigern, als die Sowjetunion zerplatzt und nur noch ein Vakuum von ihr übrig war, trieben Trümmer durch die Ukraine. Da gab es vom Glauben abgefallene Minister mit alten Freunden aus der Parteijugend. Da drifteten staatliche Stahlwerke, denen die Kohle fehlte, dort dümpelten volkseigene Kohlegruben, deren Kohle keiner wollte. An den Bushaltestellen baten Sowjetathleten in Adidas-Hosen um Zigaretten. Es gab Polizisten ohne Gehalt und Richter ohne goldene Wasserhähne.
Dann fügten sich die Trümmer zusammen. Minister verkauften Gruben für einen Moskwitsch und ein Ei an gute Freunde. Die Freunde kauften von anderen Freunden noch ein Hüttenwerk dazu, verschifften den Stahl in die Welt und teilte den Erlös mit den Ministern. Mit dem Rest erwarben sie weitere Moskwitschs für die Adidas-Männer und Cherokee-Jeeps für ein paar Polizeichefs. Die bewachten dann die Stahlwerke und die Gruben vor dem Teil der Freunde, der leer ausgegangen war.
Es entstanden die Gebiete der Clans. Wer seine Karten gut spielte, besaß bald genug Mittel, um ein paar Hundert verarmten Polizisten samt Frau und Kind regelmäßig bescheidene Spenden zukommen zu lassen. Zusammen mit den Wachleuten der Gruben ergaben die dann eine kleine Armee.
Die brauchte man auch, denn in der Ukraine tobte ein Bandenkrieg. Zuerst ging es um Spielhallen und Prostitutionsreviere, dann um Fußballclubs, Sender und Kokereien, zuletzt um Gouverneursposten. Der Industriekapitän und Donezker Vizegouverneur Oleksandr Momot verblutete mit sechs Kugeln im Leib, der Abgeordnete Jewhen Schtscherban wurde von Männern in Polizeikostümen niedergemäht, und der Fleischhauer Achat Bragin, Chef des Donezker Fußballclubs „Schachtjar“, wurde samt Stadiontribüne von einer Bombe zerfetzt.
Man starb durch Staublunge oder Grubenbrände
Um die Jahrhundertwende setzten sich dann „Autoritäten“ durch. Man folgte der „Ponjattia“, dem Gangsterkodex der Gefängnisse. In Donezk herrschte Rinat Achmetow, ein Freund des zerfetzten Bragin, in Teilen von Dnipropetrowsk Ihor Kolomojskyj, in Winnyzja Petro Poroschenko. Um nur einige zu nennen.
Von unten betrachtet sah das so aus: Man malochte im Bergwerk und lebte nur kurz. Man starb durch Staublunge oder Grubenbrände, und wer mit einem Café erfolgreich war, zahlte Tribut an die Sanitärinspektoren. Die gaben dem Oligarchen seinen Pflichtanteil. Anwälte glänzten nicht durch geschliffene Rechtsauslegung, sondern durch die Kunst, Sporttaschen voller Dollars diskret zu Richtern zu bringen.
Um Staatsaufgaben kümmerte die Obrigkeit sich nur noch nebenbei. Als bewaffnete prorussische Milizen im Donbass Straßensperren errichteten, räumten Polizisten die Barrikaden nicht etwa weg, sondern widmeten sich gleich daneben der Profilkontrolle an Autoreifen. Paramilitärs zahlen schließlich kein Schmiergeld.
Allerdings sorgten die Oligarchen auch für ihre Schäfchen. Wenn ein arbeitsloser Bergmann mit starken Fäusten und einer Spitzhacke ein illegales Kleinbergwerk betrieb, bekam der „Smotrjaschij“, der Aufseher des Oligarchen, ein Trinkgeld und bat dafür den Revierpolizisten, ein Auge zuzudrücken. Und wenn ein Reporter beim Fernsehsender des Chefs mit seinem Hungerlohn nicht auskam, bekam er eine Tüte steuerfreier Hrywnia-Scheine extra.
In diesen frühen Jahren hatten viele Verständnis für Korruption. Sie wussten, dass ein Arzt und Familienvater im staatlichen Gesundheitssystem umgerechnet nur 70 Euro im Monat verdiente und dass der Krankenwagen nicht kommen würde, wenn der Fahrer die Reifen nicht aus eigener Tasche bezahlt hätte. Es galt als normal, dass der dann vor der Abfahrt die Gattin des komatösen Patienten in die Küche bat und dort einen Umschlag empfing.
Bald griffen die Bosse nach dem Parlament. Sie gründeten Parteien, schmiedeten Mehrheiten, und neue Einkommensquellen entstanden. Abgeordnete waren immun vor Strafverfolgung, also bezahlten Gangster viel Geld für Listenplätze. Weil aber die Investition sich auch lohnen musste, waren sie danach vor wichtigen Abstimmungen empfänglich für gefüllte Sporttaschen.
Mehrere Typen der Staatsplünderung
Die regionalen Clans installierten Regierungschefs und Präsidenten. Ministerpräsident Pawlo Lasarenko kam von den „Dnipropetrowskern“ und entging nur knapp einem Bombenanschlag. Die „Donezker“ zogen nach und machten Viktor Janukowitsch zum Präsidenten, einen Mann mit Gefängniserfahrung aus Jugendzeiten.
Bis zum Amtsantritt des heutigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Jahr 2019 hatten sich mehrere Typen der Staatsplünderung etabliert. Für Typ eins, Privatisierung von Staatseigentum zu Schleuderpreisen, stand die Zeit Präsident Leonid Kutschmas. Damals verkaufte der Staat das Stahlwerk Krywyj Rih, das größte der Ukraine, für ein Sechstel seines Wertes an zwei Milliardäre, von denen einer gerade die Tochter des Präsidenten geehelicht hatte.
Für Typ zwei, den Kauf überteuerter Güter durch den Staat, steht die Präsidentschaft des Multimillionärs Petro Poroschenko. Damals belieferten private Werften und Automobilhersteller, die früher im Einflusskreis des Präsidenten gestanden hatten, die Streitkräfte mit Schiffen und Fahrzeugen zweifelhafter Qualität.
Für Typ drei, die Einschaltung korrupter Zwischenhändler, stehen die Präsidentenjahre Viktor Juschtschenkos. Damals leitete eine Schweizer Schachtelfirma Milliardengewinne aus dem staatlich kontrollierten russisch-ukrainischen Gashandel in verzweigte Kanäle, aus denen dann auch Verwandte des Präsidenten schöpften.
Vor der Maidan-Revolution von 2014, in den Jahren unter Präsident Janukowitsch, veränderte das System seinen Charakter. Bis dahin hatte es mehrere konkurrierende Clans gegeben. Anders als im Russland Wladimir Putins war in der Ukraine keine „Machtvertikale“ entstanden. Es herrschte ein Pluralismus der Oligarchen, und Janukowitsch wollte das ändern. Er griff für die „Donezker“ nach der ganzen Macht, kaperte das Verfassungsgericht und warf seine Dnipropetrowsker Konkurrentin Julia Timoschenko ins Gefängnis.
Als die Ukraine dann die Fußball-Europameisterschaft 2012 ausrichtete, wurde für die „Donezker“ das ganze Land zur Beute. Quer durch die ganze Ukraine mussten Autobahnen, Flugplätze, Stadien gebaut werden, und fast alle Aufträge gingen an die Freunde des Präsidenten.
Dann kam der Maidan
Janukowitsch wollte noch mehr. Zuerst hatte er als Handpuppe des Stahlbarons Achmetow gegolten, nun wollte er selbst die Macht. Seine Richter und Staatsanwälte begannen, auch dem eigenen Clan Angst zu machen. Gestandene Milliardäre trauten sich nicht mehr, in ihren eigenen Bürotürmen offen zu reden.
Um seine Herrschaft zu sichern, näherte Janukowitsch sich außerdem Putin an und setzte Fachleute aus Russland auf wichtige Positionen in Armee und Geheimdienst. Zugleich baute er seinen Sohn Olexandr zum Nachfolger auf. Der gründete ein Unternehmen mit Porphyrsäulen am Tor und zählte bald zu den hundert reichsten Männern des Landes. Die plurale Oligarchie der Ukraine drohte zur Erbdiktatur zu werden.
Der Bürgeraufstand des Maidan stoppte diese Entwicklung. Anders als in Russland hatte sich in der Ukraine nämlich trotz aller Korruption auch eine starke Demokratiebewegung entwickelt. Getragen von einem urbanen Mittelstand, der die Tributforderungen parasitärer Beamter nicht mehr ertragen wollte, profitierte sie von der Konkurrenz der Clans.
Weil jeder Oligarch sein eigenes Medienimperium hatte, blieb Pressevielfalt erhalten. Weil manche Milliardäre Interesse daran hatten, die Mauscheleien der anderen bekannt zu machen, kamen Skandale an den Tag. Investigativjournalisten wurden zu Helden der Nation. Manche wurden ermordet, aber genug blieben am Leben.
Die Demokratiebewegung konnte aber auch deshalb wachsen, weil die Oligarchen Unterstützung aus dem Westen brauchten, um nicht unter Putins Knute zu geraten. Sie wollten ein Assoziierungsabkommen mit der EU und mussten deshalb ein Minimum an Rechtsstaatlichkeit wahren. Die Demokratiebewegung konnten deshalb immer auf Hilfe aus Europa und den USA zählen.
Demokraten und Oligarchen wurden wider Willen zu Verbündeten
Die Zivilgesellschaft konnte so nicht nur überleben, sondern sich auch als unentbehrlicher Bündnispartner im Machtspiel der Oligarchen etablieren. Zweimal gelang es ihr im Bunde mit dem jeweils oppositionellen Clan-Konglomerat, die gerade herrschende Seilschaft zu stürzen: 2004, als sie sich in der „Orangenen Revolution“ mit der gewesenen Gas-Milliardärin Timoschenko verbündete, und 2014, als sie in einem blutigen Straßenaufstand Janukowitsch vertrieb.
Diese Revolution hatte die Oligarchen eigentlich endgültig loswerden wollen. Die Leute waren zornig, und an den Barrikaden von Kiew rissen Damen mit gepflegten Fingernägeln Unterhemden in Streifen, um sie als Zündpfropfen in Molotowcocktails zu stecken.
Dann aber nutzte Putin den Moment der Schwäche. Nach dem Sturz seines Schützlings Janukowitsch besetzte er die Krim, rückte im Donbass vor und drohte das ganze Land zu schlucken. Demokraten und Oligarchen wurden damals wider Willen zu Verbündeten.
Ihor Kolomojskyj von den „Dnipropetrowskern“ schickte selbst finanzierte Freiwilligenbataillone gegen die Russen ins Feld, und Juri Luzenko, einer der Führer des Maidan, sagte damals, die Revolution sei von ihrer „antioligarchischen“ in die „antikoloniale“ Phase getreten: alle gegen den Eindringling. Zum neuen Gesicht dieser „Demoligarchie“ wurde der Millionär Petro Poroschenko.
Mit dem Amtsantritt seines Nachfolgers Wolodymyr Selenskyj schien diese Phase zu Ende zu gehen. Am Anfang wirkte er noch wie eine Marionette des mächtigen Kolomojskyj, der ihn im Wahlkampf massiv unterstützt hatte, aber dann begann sich einiges zu bewegen, und von Jahr zu Jahr schnitt die Ukraine in der weltweiten Korruptions-Rangliste von Transparency International ein wenig besser ab. Zwischen 2019 und 2023 rückte sie von Platz 126, noch hinter Gabun und Malawi, auf Platz 104 vor, gleich hinter Albanien.
Der russische Großüberfall schien diese Entwicklung zunächst zu beschleunigen. Das Land versammelte sich hinter Selenskyj. Sein Ruf als Führer der Nation erlaubte ihm, die Oligarchen in den Hintergrund zu drängen. Sein früher Förderer Kolomojskyj wurde verhaftet, ebenso wie Viktor Medwedschuk, dessen Tochter ein Patenkind Wladimir Putins ist.
Achmetow, der Mächtigste der Mächtigen, schrumpfte durch den Krieg. Viele seiner Gruben und Hütten liegen in den russisch besetzten Teilen der Ukraine, seine Machtbasis ist verloren.
Die Methoden scheinen vertraut
Jetzt aber, mitten im Krieg und mitten in Selenskyjs engstem Kreis, ist das alte Übel plötzlich wieder da. Die Dimensionen sind bei Weitem nicht die von früher. Während unter Janukowitsch nach Rechnungen von Transparency International etwa 34 Milliarden Euro gestohlen wurden, geht es im jüngsten Skandal um den Kernkraftkonzern Energoatom um 86 Millionen.
Aber die Methoden scheinen vertraut: Gelder, die eigentlich dem Schutz staatlicher Kraftwerke vor russischen Bomben dienen sollten, sind nach Ansicht von Ermittlern veruntreut worden, und Leute aus dem engsten Kreis des Präsidenten gelten als Mittäter. Persönlichkeiten der Bürgerbewegung werden durch Haussuchungen bedrängt, ermittelnde Beamte verhaftet.
Im Juli kam es dann zum Showdown: Selenskyjs Mehrheit im Parlament entmachtete per Handstreich die hocheffektive Antikorruptionspolizei NABU, und erst eine Welle von Demonstrationen sowie Druck aus der EU konnten bewirken, dass das Knebelungsgesetz schnell wieder kassiert wurde. In einem Bericht der EU-Kommission hieß es danach, das alles wecke „Zweifel an der Entschlossenheit der Ukraine bei der Verwirklichung ihrer Antikorruptionsagenda“.
Zu den Gründen dieses Rückschritts gehört, dass die Oligarchen viel Macht verloren haben, aber ihr System sich Rückzugsräume bewahrt hat. Ein solcher Raum ist das Parlament, das jetzt in seinem siebten Jahr steht, weil das Kriegsrecht Wahlen verbietet.
Dort ist Selenskyj wegen der Unzuverlässigkeit seiner eigenen Fraktion auf Kräfte aus den Zeiten Janukowitschs und Poroschenkos angewiesen – und damit auf Stimmen, die nur für Geld zu haben sind. Vieles deutet darauf hin, dass deshalb die alte Sitte der gefüllten Taschen weiter praktiziert wird – vor allem, wenn der Krieg dringend Entscheidungen fordert.
Außerdem sind Fälle beschrieben worden, in denen kriegswichtige Schritte durch korrupte Methoden schneller erreicht werden können als auf dem Dienstweg. Die „New York Times“ berichtete von einer Situation gleich nach dem russischen Großüberfall, in dem dringend benötigte Waffen entweder von dubiosen Mittelsmännern erworben werden konnten oder gar nicht.
Dem amerikanischen Präsidenten scheint Korruption egal zu sein
Da „gar nicht“ keine Option war, entschloss man sich für die Mittelsmänner. Und da man glaubte, auf die zwielichtigen Methoden der alten Zeit nicht verzichten zu können, musste man an der Spitze des Staates Leute haben, die sich im Zwielicht auskennen. Viele von ihnen, auch der mächtige Präsidialamtschef Andrij Jermak, stammen aus der Zeit, als Selenskyjs alte Film-Produktionsfirma Kwartal 95 noch mit dem Imperium des gefallenen Kolomojskyj verflochten war.
Diese Leute haben in Selenskyjs Umgebung auch deshalb immer mehr Einfluss gewonnen, weil sie kaum noch jemand kontrollieren kann. Durch das Kriegsrecht sind Präsidenten- und Parlamentswahlen ausgesetzt. Viele Aktivisten der Bürgerbewegung kämpfen an der Front, und anders als früher scheint dem amerikanischen Präsidenten Korruption egal zu sein.
Ein zentralisierter Führungsstil mit einer unscharfen Grenze zum Zwielicht, der Missbrauch des Inlandsgeheimdienstes SBU gegen Zivilgesellschaft und Antikorruptionsbehörden samt zweifelhafter Festnahmen sind deshalb zum Merkmal eines Systems geworden, das Kritiker nach dem Namen des Präsidialamtschefs „Jermokratie“ nennen.
Zugleich ist Widerstand gewachsen. Im Sommer, als Selenskyj für wenige Tage die NABU entmachtete, waren sofort Demonstranten auf der Straße. Erinnerungen an die Bürgeraufstände von 2004 und 2014 wurden wach, und der Präsident wich zurück. Jetzt hat er Jermak entlassen, nachdem die NABU auch dessen Wohnung durchsucht hatte.
Einen Nachfolger hat er noch nicht ernannt, und die Wahl ist schwer. Umfragen zeigen, dass die politische Klasse diskreditiert ist. Das größte Vertrauen genießen die Streitkräfte und angesehene Militärführer wie der frühere Oberbefehlshaber Valerij Saluschnyj oder der Chef des Militärgeheimdienstes Kyrylo Budanow. Simmernder Volkszorn und populäre Generäle aber sind ein gefährliches Gemenge. Selenskyj muss aufpassen.
Source: faz.net