„Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist“: Fake News, Zaubertränke und wir

Es war ein sonniger, erstaunlich warmer Februartag in New York. Ein wolkenloser Himmel, auf dem Straßenpflaster lagen scharf konturierte Schatten. Ich war am frühen Nachmittag in Tribeca, einem Stadtteil von Manhattan, der einst ein Industriegebiet war, aber sich längst zum Viertel der Schönen und Reichen und Berühmten verwandelt hat. Hier irgendwo in diesen einstigen Fabriketagen wohnen Beyoncé, Jay-Z und Taylor Swift. Die Schriftstellerin Rivka Galchen wohnt hier auch, und sie hatte als Treffpunkt ein Lokal namens Bubby’s vorgeschlagen.

Das Bubby’s stellte sich als sehr eng bestuhlter, mexikanisch inspirierter Sandwich- und Burgerladen heraus, in dem die Musik irrsinnig laut war und in dem irrsinnig laut gesprochen wurde, was natürlich völlig normal war, weil Amerikaner immer und überall irrsinnig laut sprechen, mit diesem jeden Europäer einschüchternden Selbstbewusstsein und dieser verdammt guten Laune, als gäbe es kein Morgen. Die Kellner rannten wild umher mit Tellern und Tassen und brüllten extralaut und fröhlich, wenn sie eine Bestellung aufnahmen, denn sie mussten sowohl die Gäste als auch die Beats übertönen. Rivka Galchen lachte freundlich und entschuldigte sich sofort, so viel war zu verstehen: „Okay, kein idealer Ort für ein Interview.“ Sie habe unterschätzt, wie viel hier los sei. Ich widersprach, so ein Hipsterladen sei doch ein herrlicher Kontrast zu unserem Gesprächsthema: das deutsche 17. Jahrhundert und die Hexenverfolgung, die überschaubare und brutale Welt von einst – und die chaotische, dafür zumindest auf den ersten Blick doch zivilisiertere heute.

Von Rivka Galchen erscheint jetzt ihr historischer Roman Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist. Er handelt von einem der wenigen Hexenprozesse in Europa, die gut dokumentiert sind. Galchen entführt uns in das Jahr 1615, nur drei Jahre später wird der Dreißigjährige Krieg beginnen und Deutschland in Schutt und Asche legen. Handlungsort: das württembergische Leonberg bei Stuttgart. Katharina Kepler, die alte Mutter des berühmten Astronomen Johannes, sieht sich von diesem Jahr an einem langwierigen Hexenprozess ausgesetzt. Eine Nachbarin hatte sie angezeigt: Sie sei von ihr mit einem Zaubertrank vergiftet worden. Anderen Bewohnern der Stadt fielen daraufhin nach und nach weitere Hinweise auf, die sie als Hexerei deuteten. Katharina Kepler wurde für 14 Monate eingesperrt, aber schließlich, vor allem durch das Engagement ihres Sohnes, freigesprochen.

Es ist eine besondere literarische Herausforderung, das 17. Jahrhundert glaubwürdig darzustellen. Daniel Kehlmann ist es zuletzt mit Tyll (2017) gelungen, zuvor Günter Grass mit seinem Treffen in Telgte (1979). Die Charaktere, zumal im rückständigen Deutschland, sind uns in ihrer Gottesfurcht, ihrem heiter-brutalen Aberglauben, ihrer bäuerlichen Derbheit fremd, Analogien oder erhellende Kontraste zur Gegenwart wirken nicht selten bemüht und hinken wie der Teufel.

Rivka Galchen ist das kleine Kunststück geglückt, sich sehr weitgehend an das historisch Dokumentierte zu halten – und dennoch ein Kammerstück über unsere eigene Zeit zu verfassen, wenn auch sehr indirekt. Sie kontrastiert in ihrem multiperspektivischen Roman einen Bericht der Angeklagten mit Zeugenaussagen, sie gibt Verhöre wieder und waghalsige Indizienketten (die abstrusesten Vorwürfe wurden in den Hexenprozessen mit scheinrationalem Ehrgeiz plausibilisiert). Und wenn dieser auch sehr unterhaltsame und berührende Roman eine Erkenntnis bietet, dann jene, dass es in historischen Umbruchzeiten offenbar ein unausrottbares menschliches Bedürfnis gibt, sich am Aberglauben zu orientieren, an Fake-News und an Verschwörungstheorien, nicht aber am Offensichtlichen und Verifizierbaren. Natürlich ist dieser vor drei Jahren auf Englisch erschienene Hexenroman ein Buch über Trump und den Aufstieg des Irrationalismus im doch so aufgeklärten Westen – aber ohne jeden direkten Verweis.

Wir sprechen im Bubby’s wirklich sehr laut, man kann das trainieren. Die 48-jährige Schriftstellerin, die im New Yorker regelmäßig über Naturwissenschaften schreibt, erzählt, wie sie vor ein paar Jahren für einen Artikel über Johannes Kepler recherchierte und dabei auf den Prozess gegen seine Mutter stieß. Die Historikerin Ulinka Rublack hat den Stoff in ihrem gefeierten Kepler-Buch The Astronomer and the Witch aufgearbeitet. Sofort habe sie gedacht: Das sei auch ein literarischer Stoff. Historische Details hätten sie gebannt: beispielsweise der Umstand, dass es oftmals nicht die Kirche mit ihrer Inquisition war, die Hexenprozesse anstrebte, sondern weltliche Gerichte, die einem Bestrafungs- und Denunziationsbedürfnis der Bevölkerung nachkamen. Um das Wechselspiel von institutioneller Macht und einer Volksstimmung sei es ihr im Roman gegangen, um eine Dynamik der Denunziation, des Gerüchts und der Suche nach Sündenböcken, die, einmal ausgebrochen, sich nur schwer wieder einfangen lasse.

Dieser Roman, ihr erster historischer, ist Rivka Galchens fünftes literarisches Werk. Sie ist das Kind eines Meteorologen und einer Informatikerin, jüdischer Einwanderer aus dem Nahen Osten. Ihr früher Roman Atmosphärische Störungen (2010) und ihre Erzählungen spielen zwar in der Gegenwart, handeln aber ebenfalls vom Einbruch des Surrealen in die Gegenwart und von wissenschaftlicher Klarheit und Erkenntnis, die sich an gesellschaftlichen Bedürfnissen nach Ressentiments reiben. So besehen, sagt Galchen, hätten sich die zunehmend fragilen Demokratien des Westens ihrem Werk angenähert, nicht umgekehrt.

Wir sprachen noch ein wenig über Trump und die bevorstehenden Wahlen und wie sie wohl ausgehen würden, über den Angriff der Hamas auf Israel und den Krieg. Und über das bizarr schöne Wetter, von dem wir ganz vergaßen, es auch noch zu problematisieren.

Rivka Galchen: Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist. Roman; a. d. Engl. v. Grete Osterwald; Rowohlt Verlag, Hamburg 2024; 320 S., 24,– €, als E-Book 19,99 €

Es war ein sonniger, erstaunlich warmer Februartag in New York. Ein wolkenloser Himmel, auf dem Straßenpflaster lagen scharf konturierte Schatten. Ich war am frühen Nachmittag in Tribeca, einem Stadtteil von Manhattan, der einst ein Industriegebiet war, aber sich längst zum Viertel der Schönen und Reichen und Berühmten verwandelt hat. Hier irgendwo in diesen einstigen Fabriketagen wohnen Beyoncé, Jay-Z und Taylor Swift. Die Schriftstellerin Rivka Galchen wohnt hier auch, und sie hatte als Treffpunkt ein Lokal namens Bubby’s vorgeschlagen.

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