Der „Schattenbericht“ der Nationalen Armutskonferenz zeigt wieder einmal: Armut ist in Deutschland weitverbreitet. Es ist eines der dringlichsten Probleme unserer Gesellschaft. Doch im Wahlkampf reden die Parteien lieber über andere Dinge
Für jeden Fünften in Deutschland ist das Sparschwein leer
Foto: Rubberball/Mike Kemp/Getty Images
Durch das Ampel-Aus wird der offizielle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode nicht veröffentlicht. Damit das wichtige Thema Armut in Deutschland während des Wahlkampfes trotzdem Beachtung findet, wurde heute der Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz, der in Zusammenarbeit mit der Diakonie Deutschland entsteht, vorgestellt. Das Besondere an diesem Bericht: Er wird von Personen geschrieben, die selbst Armutserfahrung haben. Diese Erfahrungen werden von wissenschaftlichen Studien untermauert, die im Armutsbericht verlinkt sind.
Dem Bericht zufolge sind 17,7 Millionen Menschen armutsbetroffen, das betrifft jeden fünften(!) Menschen im Land. Jede siebte Person ist einkommensarm und verfügt über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. 5,7 Millionen Menschen sind von erheblicher sozialer und materieller Entbehrung betroffen. Sie haben beispielsweise nicht genug Geld für angemessene Kleidung und Schuhwerk, besonders im Winter, sind obdachlos oder leiden unter Lebensmittelknappheit.
Alleinerziehende und getrennt erziehende Elternteile, sowie Familien mit drei oder mehr Kindern haben die höchste Einkommensarmut beziehungsweise Armutsgefährdungsquote. Armut ist weiblich, denn Frauen sind stärker betroffen als Männer, hier gibt es bei der Altersarmut einen überdurchschnittlichen Zuwachs, der alarmieren sollte. Kinderarmut in Deutschland ist eines der größten Probleme, denn 14 Prozent der unter 18-Jährigen sind arm! Menschen, die von anderen rassifiziert werden (POC, asiatische und muslimische Menschen), haben ebenfalls ein deutlich höheres Armutsrisiko.
Lösungsansätze von Betroffenen entwickelt
Der Armutsbericht zeigt auf, wie vielfältig das Armutsproblem in Deutschland ist und bietet nicht nur Fakten, sondern auch Lösungsvorschläge, wie die Politik Armut effektiv bekämpfen kann. Betroffene wissen als Experten in eigener Sache sehr gut, was sie brauchen, um einen Weg aus der Armut zu finden. Diese Stimmen kommen in dem Schattenbericht zu Wort.
Rüdiger Schuch, Präsident der Diakonie, befürwortet eine Vereinfachung der sozialpolitischen Instrumente, zum Beispiel bei der Antragstellung von Leistungen, und betont, dass es unbedingt notwendig ist, sich als Regierung in der Sozialpolitik an der tatsächlichen Lebenssituation der Betroffenen zu orientieren.
Marcel Fratzscher meint, dass aus wissenschaftlicher Sicht der Sozialstaat so umgestaltet werden muss, dass mehr Chancen und Möglichkeiten für Arme entstehen. Er ist für Reformen zugunsten der Menschen und betont, dass diese Reform zwar einmalig kostenintensiv wäre, aber im Nachhinein zu einer Verringerung der Sozialausgaben führen würde. Es müsse ebenfalls Nachbesserungen im Bildungssystem geben, da Deutschland eine ungewöhnlich niedrige soziale Mobilität habe. In Deutschland braucht es fünf Generationen, bis eine armutsbetroffene Familie sich aus der Armut bis in den Mittelstand herausgearbeitet hat!
Eine sachliche Debatte über das Bürgergeld
Es ist wichtig, die Regierenden und die Gesellschaft daran zu erinnern, dass unser Sozialstaatsgebot im Grundgesetz verankert ist. Es ist ein Skandal, dass Armutsbekämpfung in unserem Land keine Priorität hat! Der Wahlkampf schadet dem gesellschaftlichen Klima durch Verteilungskämpfe auf Kosten der finanziell Schwachen. Fratzscher nutzt dafür die passende Bezeichnung „Sozialstaatspopulismus“.
Der Armutsbericht ist ein wichtiges politisches Instrument, um allen Nichtarmutsbetroffenen die Armutssituation in Deutschland zu schildern und dem Populismus entgegenzuwirken. Ich wünsche mir eine sachliche Debatte über Bürgegeldbeziehende. Stattdessen werden der erfolgreichen Förderung von Langzeitarbeitslosen und Bürgergeldempfänger/innen die Geldmittel unsinnig gekürzt. Wenn Fachkräfte gebraucht werden, dann ist es gerade hier wichtig, Geld zu investieren. Die Bürgergeldempfänger/innen sind erwerbslos, weil sie entweder zu gering qualifiziert sind oder gesundheitliche Probleme haben. Statt längerfristig zu planen, wird über „Arbeitsgelegenheiten“ und „Arbeitszwang“ diskutiert.
Vielleicht sollten die, die diese Vorschläge machen, den Schattenbericht lesen und sich mit Betroffenen unterhalten, dann blieben uns diese destruktiven „Bürgergelddebatten“ erspart.