Am 12. Juni ziehen beißende Pfeffergasschwaden über den Platz des argentinischen Kongresses. Mehrere Hundertschaften martialisch ausgerüsteter Polizisten haben ihn abgeriegelt. Zwei Fahrzeuge stehen in Flammen. Von einer zunächst friedlichen Demonstration sind nur noch die verwaisten Transparente zu sehen. Die Bilder, die stundenlang über sämtliche Bildschirme der umliegenden Lokale flimmern und zeitgleich um die Welt gehen, sind gewollt: Ein Land im Belagerungszustand, so scheint es, die Regierung muss Ordnung herstellen.
Das Präsidialamt fabuliert gar von Terroristen, die einen Staatsstreich planten. Stunden später fährt der ultrarechten Präsident Javier Milei seinen bislang größten Erfolg im Senat ein: Mit hauchdünner Mehrheit stimmt das Oberhaus für ein freilich sehr abgespecktes Megagesetz, mit dem Milei den Staat nach eigenem Bekunden weiter „zerstören“ will.
Hunderttausende Arbeitsplätze weggebrochen
Am nächsten Morgen deutet alles darauf hin, dass offenbar infiltrierte Provokateure an den Brandanschlägen beteiligt waren. 33 Menschen sind teils gezielt, teils willkürlich festgenommen worden. Ebenso willkürlich erscheinen die Anklagen durch einen regierungstreuen Staatsanwalt. Eine Hälfte der Festgenommen wird nach schikanöser Behandlung freigelassen, die anderen bleiben tagelang inhaftiert. Shock and awe.
Gut ein halbes Jahr ist Milei, der libertäre Exzentriker, Argentiniens Präsident. Seine Zwischenbilanz ist – zumindest für die Bevölkerung – ein Desaster: Im Mai betrug die Inflation 276 Prozent jährlich, im Vergleich zum Vormonat aber nur noch 4,2 Prozent. Zu verdanken ist diese Verlangsamung Mileis Kahlschlagspolitik, die Weltbank prognostiziert mittlerweile einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,5 Prozent. Hunderttausende Arbeitsplätze sind weggebrochen.
56 Prozent der Argentinier:innen sind arm, und täglich kommen Zehntausende hinzu. Mileis „Ministerium für Humankapital“ hortete Nahrungsmittelhilfe für Suppenküchen und verzichtet auf die Mittlerrolle linker Basisbewegungen, die die soziale Katastrophe bislang gelindert haben. Die Renten sind seit Jahresbeginn um ein Drittel geschrumpft, rund ein Drittel auch aller Einsparungen kam so zustande. Umfragen zufolge steht immer noch die Hälfte der Argentinier:innen hinter Milei und macht vor allem die peronistische Vorgängerregierung für die Misere verantwortlich, doch Skepsis und Ungeduld nehmen zu. Vor der Abstimmung im Senat schlugen die Menschen vielerorts wieder auf Kochtöpfe und Pfannen.
Das Parlament? Ein „Rattennest“
Bisher machte Milei für den Reformstau die „Politikerkaste“ verantwortlich, die ihm die bedingungslose Gefolgschaft im Parlament verweigerte. Der charismatische, disruptive Führer bezeichnet das Parlament gerne als „Rattennest“ – kein Wunder, dass bislang alle seine Gesetze gescheitert waren. Ein Dekret, das ihm seinen radikalen Sparkurs überhaupt ermöglicht, ist aber bereits seit Ende Dezember in Kraft und wurde trotz klarer verfassungswidriger Elemente kaum von der Justiz behindert.
Die dennoch nötigen Mehrheiten im Parlament organisiert jetzt als Kabinettschef Guillermo Francos. Der 74-jährige Vollblutpolitiker, der zuvor Innenminister war, bringt jenes Verhandlungsgeschick mit, das Milei völlig abgeht. Auch Vizepräsidentin Victoria Villarruel, die aus einer Familie von Militärs stammt und die Verbrechen der Diktatur von 1976 bis 1983 gerne relativiert, agiert als Senatspräsidentin überlegt und souverän. Viele halten es für möglich, dass sie Milei schon vor dem Ablauf der vierjährigen Amtszeit ablöst.
30 Jahre Steuernachlass, voller Profit
„Egal, wie lange Milei bleibt“, meint auch der Soziologe und Analyst Alejandro Horowicz, „die ihn tragenden Kräfte bleiben sicher auf absehbare Zeit am Ruder“. Sie seien die größten Profiteure des „Anreizregimes für große Investionen“ (RIGI), Herzstück des vom Senat auch mit mehreren peronistischen Stimmen verabschiedeten Megagesetzes. Unternehmen, die mit über 200 Millionen Dollar in Bergbau- oder Erdgasprojekte einsteigen möchten, soll 30 Jahre lang Steuernachlässe gewährt und schon nach zwei Jahren die unbegrenzte Verfügbarkeit über die erwirtschafteten Gewinne zugesichert werden.
Besser lässt sich der Ausverkauf des Landes, gegen seit Jahresbeginn Millionen Menschen protestiert haben, nicht auf den Punkt bringen. Zwar werden jetzt nur noch wenige Staatsbetriebe privatisiert, doch das allerletzte Wort hat nun das Abgeordnetenhaus: Dort soll bis Ende des Monats die endgültige Fassung des Megagesetzes ausgehandelt werden. Dann bekommt der cholerische Staatschef sogar ein Jahr lang Sondervollmachten in den vier Bereichen Verwaltung, Wirtschaft, Finanzen und Energie.
Die Hayek-Gesellschaft verleiht ihm eine Medaille
Außenpolitisch versucht Milei einen ähnlichen Spagat zwischen dogmatisch-missionarischen Auftritten und realpolitischen Schrittchen. Jüngst hatte er einen blassen Auftritt auf dem G-7-Gipfel in Apulien. Zu seinen einzigen bilateralen Terminen traf er die Vorsitzenden von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, bei seinen kurzen Begegnungen mit Spitzenpolitikern oder Papst Franziskus trat er übertrieben herzlich und sichtbar nervös auf. Anschließend sicherte er Präsident Wolodymyr Selenskyj auf dem Ukraine-Friedensgipfel in der Schweiz seine Unterstützung zu.
Argentinien, so bekräftigt Milei immer wieder, stehe fest aufseiten der „freien Welt“. Sein Leitstern sind die USA. Während des jüngsten Argentinien-Besuchs von Generalin Laura Richardson, die das Südkommando der US-Streitkräfte leitet, kündigte der Präsident den Bau einer gemeinsamen Marinebasis in Feuerland an. Den bereits beschlossenen Beitritt zum Staatenbund BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) zog er gleich nach Amtsantritt zurück – obwohl China und Brasilien die größten Handelspartner Argentiniens sind. Doch nun, nachdem Beijing gerade einen Milliardenkredit verlängert hat, scheint sogar eine Reise nach China denkbar.
Am Wochenende kommt Javier Milei nach Hamburg und Berlin. Die Hayek-Gesellschaft verleiht ihm die Hayek-Medaille, umrahmt von einem Programm mit unter anderem Hans-Georg Maaßen, Rainer Zitelmann, einem Franchise-Experten oder auch der Pressesprecherin der Werteunion. Ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis mobilisiert gegen den Besuch. Tags darauf trifft der argentinische Präsident, der sich bisher lieber mit Donald Trump, Benjamin Netanjahu, Elon Musk oder den spanischen Rechtsextremen von Vox gezeigt hat, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Berlin.
Eine gemeinsame Pressekonferenz soll es nach Bitten aus Buenos Aires nun doch nicht geben, denn dieses Format ist Milei nicht gewohnt. Stattdessen äußert er sich gerne im Fernsehen, meist im kumpelhaften Dialog mit ausgewählten Stichwortgebern. Auch auf die einmal geplanten militärischen Ehren wird er verzichten müssen – aber wohl aus anderen Gründen.
Im Mai hatte er einen diplomatischen Eklat mit der spanischen Regierung provoziert, worauf der Sozialdemokrat Pedro Sánchez die Botschafterin aus Buenos Aires bis auf weiteres abziehen ließ. Einen Tag vor Hamburg lässt sich Milei in Madrid auszeichnen, und im Vorfeld beschimpfte er Sánchez erneut – diesmal als „Feigling“. Das wiederum wurde in Berlin nicht goutiert. Weitere Überraschungen dieser Art sind wahrscheinlich – Gift für das Investitionsklima in Argentinien. Ob das den ein oder anderen neoliberalen Milei-Fan in Deutschland von seiner Verehrung des „Anarchokapitalisten“ abbringt?