Die japanische Regierungspartei LDP sucht einen neuen
Vorsitzenden – und damit auch einen neuen Regierungschef. Premierminister und
LDP-Vorsitzender Fumio Kishida hatte im August bekannt gegeben, nicht
erneut für den Vorsitz kandidieren zu wollen. Eine interne Parteiregel knüpft den Posten des Premiers an den Vorsitz. Keine
drei Jahre ist Kishida im Amt. Besonders beliebt war er nie. Droht das Land nun
wieder in eine Zeit der ständig wechselnden Regierungschefs zu verfallen? Und
wie hält sich die LDP seit bald 70 Jahren fast ununterbrochen an der Macht?
Wieso ist Premierminister Fumio Kishida zurückgetreten?
Für die japanische Bevölkerung kam die Ankündigung von Premierminister Fumio Kishida wenig überraschend: Er werde nicht erneut für den Vorsitz der Liberaldemokratischen Partei (LDP) kandidieren und damit das Amt des Regierungschefs zeitnah abgeben. Schon Monate zuvor, als der jüngste Korruptionsskandal der Partei aufflog, war der Rückzug erwartet worden. Kishidas Partei steckt seitdem in der Krise, seine Beliebtheitswerte waren zeitweise so niedrig wie noch nie. Seinen Rückzug nannte der Regierungschef „einen
ersten Schritt, der die Öffentlichkeit davon überzeugen soll, dass sich die LDP
geändert hat“.
Ändern muss sich die LDP – da sind sich Wähler und der
Parteichef nach zuletzt mehreren Skandalen einig. Die Partei war lange durch innerparteiliche Machtgruppen, sogenannte Faktionen, geprägt. Jahrelang sollen diese Faktionen umgerechnet mindestens 3,5 Millionen Euro an Einnahmen aus
Fundraisern hinterzogen und veruntreut haben. Fünf Gruppen der LDP haben diese
überschüssigen Einnahmen wohl über Jahre hinweg nicht gemeldet, wie es das
Gesetz in Japan vorschreibt, darunter auch die Faktion von Kishida selbst und
die des ehemaligen Premiers Shinzo Abe. Außerdem steht die Partei wegen
Verbindungen zu der Moon-Sekte in der Kritik.
Kishida hatte versprochen, die Skandale transparent
aufzuarbeiten. Er entließ Kabinettsmitglieder, die in die Korruptionsaffäre verwickelt
waren und löste die meisten der mächtigen innerparteilichen Faktionen auf. Und er setzte
ein Gremium ein, das die Reform der Partei vorantreiben sollte. Umfragen
zeigten jedoch: Die überwiegende Mehrheit der Japaner kaufte dem Regierungschef
das nicht ab. Den Vertrauensverlust konnte Kishida nicht wiedergutmachen.
Wer könnte neuer Vorsitzender der LDP werden?
Neun Kandidatinnen und Kandidaten stehen zur Wahl, vier
davon Kabinettsmitglieder der aktuellen Regierung. Die besten Chancen hat einigen
Umfragen zufolge Shigeru Ishiba. Der 67-jährige ehemalige Verteidigungsminister
stellt sich bereits zum fünften Mal der Wahl zum Vorsitzenden, kündigte diesmal jedoch
an, dass diese Kandidatur seine letzte sein soll. Ishiba fordert als einziger der
Kandidaten eine Abkehr von der Atomkraft hin zu erneuerbarer Energie und würde
eine Frau als Kaiserin erlauben – ein durchaus kontroverser Punkt sowohl in der
LDP als auch im ganzen Land. Er kündigte Lohnerhöhungen an, um steigenden
Preisen zu entgegnen und schlug vor, bestimmte Produkte von der Mehrwertsteuer
zu befreien, was insbesondere Menschen mit niedrigerem Einkommen helfen würde.
Der jüngste Premier der vergangenen 80 Jahre wäre Shinjiro Koizumi.
Der 43 Jahre alte ehemalige Umweltminister ist der Sohn des früheren
Premierministers Junichiro Koizumi und hat, wie auch Ishiba, Umfragen zufolge gute
Chancen auf den Posten. Er kommt vor allem bei jüngeren Wählern und Frauen gut
an. Versprochen hat Koizumi, dass er vorgezogene Parlamentswahlen ausrufen
würde – wohl noch in diesem Jahr. Er will Rentnerinnen und Rentner sowie
Geringverdiener finanziell unterstützen und sich im Falle seiner Wahl für
Lohnerhöhungen in kleinen und mittelgroßen Unternehmen einsetzen. Er unterstützt
eine Neuerung des Namensrechts, die es Frauen erlauben würden, bei einer Heirat ihren Geburtsnamen zu behalten und würde ebenfalls eine Frau als Kaiserin
unterstützen.
Sanae Takaichi wäre die erste Frau im Amt. In der amtierenden
Regierung ist sie Ministerin für wirtschaftliche Sicherheit und gehört dem nationalkonservativen
Lager der LDP an. Sie ist für regelmäßige Besuche des umstrittenen Yasukuni-Schreins
in Tokio bekannt. Der Schrein wird besonders international als Symbol des
japanischen Militarismus angesehen. Dort wird gefallenen Soldaten, darunter
auch verurteilte Kriegsverbrecher, gedacht. Die 63-jährige Takaichi lehnt eine
Neuerung des Namensrechts und auch die Ehe für alle ab.
Noch ist Taro Kono als Digitalminister damit beschäftigt,
Japan von Faxmaschinen zu befreien. Schon vor drei Jahren hat sich der
61-Jährige für den Vorsitz der LDP beworben, verlor aber gegen Kishida. Er war
bereits Außen- und Verteidigungsminister und hat im Wahlkampf mit dem Vorschlag
Aufsehen erregt, zum Schutz des Landes Atom-U-Boote in den Gewässern um Japan
einzusetzen.
Weitere Kandidaten sind Toshimitsu Motegi (68), Generalsekretär
der LDP und früherer Außen-, Handels- und Wirtschaftsminister, Yoko Kamikawa
(71), der aktuelle Außenminister des Landes sowie der frühere Minister für
wirtschaftliche Sicherheit, Takayuki Kobayashi, der mit 49 Jahren der
zweitjüngste Kandidat ist. Auch Katsunobu Kato (68), früherer Gesundheits- und
Arbeitsminister sowie Yoshimasa Hayashi (63), früherer Verteidigungs- und
Außenminister stehen zur Wahl.
Wie ist die Macht in Japan aufgeteilt?
Japan ist eine parlamentarische Demokratie mit einem Kaiser,
der laut Verfassung als Symbol des Staates und de-facto-Staatsoberhaupt dient. Der
Premierminister ist Regierungschef und wird von beiden Kammern des Parlaments nominiert,
dem Ober- und dem Unterhaus. Danach wird er vom Tenno, dem japanischen Kaiser, ernannt.
Der Premierminister kann Kabinettsmitglieder ernennen und entlassen.
Das
japanische Kaiserhaus ist die älteste Erbmonarchie der Welt. Das japanische Recht erlaubt nur Männern, den
Kaiserthron zu besteigen. In
Gesellschaft und Politik wird seit Jahren eine mögliche Gesetzesänderung
diskutiert – auch, weil Kaiser Naruhito eine Tochter und
keinen Sohn hat. Die Mehrheit in der Gesellschaft ist für eine solche
Änderung, auch einige Konservative hatten sich zuletzt offen gezeigt.
Schon
seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat der Kaiser
ausschließlich eine repräsentative Funktion im Staat. Bürgermeister,
Abgeordnete in kommunalen Versammlungen, Gouverneure und Abgeordnete im
japanischen
Parlament werden demokratisch gewählt. Dieses ist nach britischem
Vorbild in die beiden Kammern unterteilt: Die
Parlamentsmitglieder des Oberhauses werden alle drei Jahre, die im
Unterhaus
alle vier Jahre gewählt. Die meisten nationalen Gesetze müssen von
beiden Kammern
verabschiedet werden. Bei Uneinigkeit entscheidet häufig das größere und
einflussreichere Unterhaus. Die 47 Präfekturen des Landes werden jeweils
von
einem Gouverneur regiert. Sie sind in vielen politischen Fragen weniger
autonom
als im föderalen Deutschland.
Die Verfassung sieht unter anderem
auch vor, dass Japan kein eigenes Militär unterhält. Diese Regelung
wurde in den Fünfzigerjahren durch ein Gesetz gelockert, dennoch fordern
weiterhin viele Politiker eine Verfassungsänderung.
Wieso ist die LDP so mächtig?
In den vergangenen 70 Jahren hat die LDP fast ununterbrochen
regiert. Gegründet wurde sie 1955, als die konservative Liberale Partei und die
ebenfalls konservative Demokratische Partei Japans sich zusammenschlossen. Seit jeher bildet sie ein breites politisches Spektrum
ab: Es gibt konservative bis nationalkonservative, aber auch liberale oder sozialdemokratische Politiker. Dadurch schafft sie es, verschiedenste Wähler anzusprechen. Auch zeichnet sie sich nicht nur durch ihre Wirtschaftsnähe,
sondern auch durch ihre Nähe zur Basis, den Wählern in den Wahlkreisen, aus. Noch dazu ist sie
bestens mit der Verwaltung des Landes vernetzt.
Unter der LDP durchlief Japan sein Wirtschaftswunder: Aus
einem vom Krieg gezeichneten und besetzten Land wurde die zweitstärkste
Wirtschaftsmacht der Welt. Auch damit verbindet ein großer Teil der vor allem älteren
Bevölkerung die Partei noch heute. Ein wesentlicher Grund für ihren Erfolg im vergangenen Jahrhundert ist das damalige Wahlsystem. Die LDP profitierte davon, dass Stimmen in ländlichen Gebieten mehr Gewicht hatten als jene in Städten
– denn auf dem Land war die Partei besonders stark.
Die Einparteienherrschaft der LDP endete, als sie 1993 ihre
Mehrheit im Parlament verlor und eine breite Koalition aus verschiedenen Parteien eine Wahlrechtsreform durchsetzen
konnte. Das stellte die Weichen für den späteren Erfolg der Demokratischen
Partei, die bei den Unterhauswahlen 2009 die absolute Mehrheit gewann. Der
Opposition war es zuvor lange nicht gelungen, sich als attraktive und fähige
Alternative zur regierungserfahrenen und stabilen LDP aufzustellen. Doch in der
Regierungsverantwortung konnte die Demokratische Partei den Erwartungen
nicht gerecht werden – und verlor ihr Mandat schon 2012 wieder. Seitdem hat die LDP keine Wahl mehr verloren.
Vorangetrieben wurde die Gründung der LDP übrigens auch aus dem Ausland – vom amerikanischen
Auslandsgeheimdienst CIA. Die Behörde pumpte bis in die Siebzigerjahre Millionen von
Dollar in die neue Partei, um die Konservativen zu stärken und Japan zu einem
Bollwerk gegen den Kommunismus in der Region zu machen. Aufgedeckt wurde das
erst Mitte der Neunzigerjahre von Journalisten der New York Times.
Welche anderen Parteien gibt es in Japan?
Bei der letzten
Oberhauswahl 2022 erhielt die LDP die absolute Mehrheit der Wählerstimmen –
auch ohne ihren kleineren Koalitionspartner Komeito, der „Partei für saubere
Politik“. Diese gilt als gemäßigtere und sozialstaatlichere Mitstreiterin der
LDP und steht der buddhistischen Bewegung Soka Gakkai nahe. Lange Zeit setzte
sie sich für eine pazifistische Politik ein. Spätestens mit der russischen Invasion der Ukraine trägt sie die Aufrüstungspläne der LDP allerdings mit.
Die Konstitutionelle
Demokratische Partei (CDP) ist die größte Oppositionspartei im japanischen
Parlament, bei der letzten Wahl verlor sie jedoch einige Sitze. Erst 2017
gegründet, spaltete sie sich damals von der Demokratischen Partei (DP) ab. Zu
ihren Forderungen gehören die Erhöhung des Mindestlohns, Investitionen in
erneuerbare Energien, Frauenrechte und Dezentralisierung.
Nippon Ishin no Kai ist
eine rechte Oppositionspartei, die sich als dynamische Alternative zur LDP
darstellt. Die nationale Organisation ging aus der lokalen Partei Osaka Ishin
no Kai hervor, die 2010 von dem bekannten Fernsehanwalt und Populisten Toru
Hashimoto gegründet wurde. Auch überregional wird sie immer beliebter. Ishin
bedeutet Erneuerung, die Partei versteht sich als progressiv-konservativ:
Einerseits setzt sie sich für den Erhalt des Kaiserhauses und den Ausbau der
Verteidigung ein, andererseits fordert sie die gleichgeschlechtliche Ehe und
will Frauen in Japan mehr fördern.
Darüber hinaus sind die
Kommunistische Partei Japans, die konservative Democratic Party for the People
(DPFP) und weitere Kleinstparteien im Parlament vertreten. Die Opposition gilt
als zersplittert.
Wie beurteilen Japaner die politische Situation?
Fumio Kishida war laut
Umfragen schon seit einiger Zeit unbeliebt. Unter anderem steigende Lebenshaltungskosten
hatten sich zuletzt negativ auf die Zustimmungswerte der japanischen
Bevölkerung zu Kishidas Kabinett ausgewirkt. Auch verschiedene Finanz- und Partei-Skandale der vergangenen Jahre haben ihm geschadet. Grundsätzlich weisen Umfragen in Japan häufig
auf Unzufriedenheit der Bevölkerung hin, in Wahlergebnissen schlägt
sich diese jedoch selten nieder.
Bei der letzten Oberhauswahl, die kurz nach dem
tödlichen Attentat auf Ex-Premierminister Shinzo Abe im Juli 2022 stattfand,
lag die Wahlbeteiligung bei 52 Prozent – und damit deutlich höher als noch
2019. Im Vergleich zu Deutschland ist sie jedoch vergleichsweise niedrig: Bei
der Bundestagswahl 2021 wählten knapp 77 Prozent der Berechtigten. Viele
Japaner sehen in den Klein- und Kleinstparteien der Opposition keine echte
Alternative zur übermächtigen LDP. Beobachter kritisieren politische Apathie.
Unter jungen Menschen ist die Wahlbeteiligung besonders gering. Sie sehen ihre
Interessen in dem überalternden Land nicht vertreten.
Was sind politische Herausforderungen in Japan?
Wirtschaft: Der japanische Yen verliert an Wert, die
Inflation im Land ist hoch. Noch dazu sind die Staatsschulden des Landes enorm
und schränken den Spielraum der japanischen Zentralbank ein. Deutschland hat
Japan mittlerweile als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt überholt, nach Prognosen
könnte Indien das Land im kommenden Jahr ebenfalls einholen. Durch die Verteuerung
im Land sind die inflationsbereinigten Löhne im Land gesunken. Ein Subventionsprogramm für Energiekosten, das Kishidas Regierung im Juni auf den Weg gebracht hatte, änderte daran wenig.
Bevölkerung: Die japanische Bevölkerung ist überaltert, gleichzeitig
sinkt die Geburtenrate. Rund 30 Prozent der Japanerinnen und Japaner sind älter
als 65 Jahre.
Sicherheit: China und Nordkorea bedrohen die Sicherheit
des Inselstaates. Auch durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich der Druck erhöht. Die Kishida-Regierung hatte eine neue Sicherheitsstrategie
vorgestellt und Militärausgaben erhöht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verankert Artikel 9 der japanischen Verfassung den Verzicht
auf eigene Streitkräfte. Unter dem Eindruck des Koreakrieges setzte Japan jedoch Selbstverteidigungsstreitkräfte ein, die bis heute bestehen. Das Thema Aufrüstung polarisiert in der Bevölkerung stark.
Energie: Nach der Katastrophe von Fukushima 2011 hatte Japan seine Abhängigkeit von Atomkraft reduziert und verstärkt auf fossile Energie gesetzt. Angesichts der Preissteigerungen von Kohle und Gas sowie der Lieferunterbrechungen im Jahr 2022 will die Regierung aber wieder verstärkt zur Kernenergie zurückkehren. So soll trotz steigender Nachfrage und geopolitischer Spannungen die Versorgung sichergestellt werden. Immer wieder drohen jedoch Gefahren durch die Nutzung von Kernreaktoren.
Die japanische Regierungspartei LDP sucht einen neuen
Vorsitzenden – und damit auch einen neuen Regierungschef. Premierminister und
LDP-Vorsitzender Fumio Kishida hatte im August bekannt gegeben, nicht
erneut für den Vorsitz kandidieren zu wollen. Eine interne Parteiregel knüpft den Posten des Premiers an den Vorsitz. Keine
drei Jahre ist Kishida im Amt. Besonders beliebt war er nie. Droht das Land nun
wieder in eine Zeit der ständig wechselnden Regierungschefs zu verfallen? Und
wie hält sich die LDP seit bald 70 Jahren fast ununterbrochen an der Macht?