Japan | Fit mit Gehstock

Weltweit altert kein Land schneller. Der demografische Wandel ist so rasant, dass Technologisierung und Migration nicht reichen, um die Folgen zu bewältigen. Wie lässt sich das Problem lösen?

Setsuko Hara hat sie in den Filmen der 1950er und 1960er Jahre verkörpert, wie es sonst kaum eine Schauspielerin konnte: die aufopferungsvolle, liebenswürdige, stets lächelnde Tochter oder Schwiegertochter, der nichts mehr am Herzen liegt, als sich um ihre alternden Angehörigen zu kümmern. So war das in Japan lange Zeit: Die Aufgabe der Sorge um die Ältesten fiel an die Schwiegertöchter. Auch wenn sie selten so erfüllend und mühelos war, wie Hara es aussehen lässt.

Doch inzwischen passt dieses Bild immer seltener zur Lebenswirklichkeit japanischer Familien. Die Landflucht trennt die Generationen geografisch, die Jungen ziehen in die Städte, die Alten bleiben zurück. Und die Schwiegertöchter gehen immer häufiger in die Lohnarbeit, anstatt zu Hause die Care- und Pflegearbeit zu übernehmen. Das ist einerseits politisch gewollt, weil die Überalterung der japanischen Gesellschaft es erforderlich macht, dass möglichst viele Frauen in den Arbeitsmarkt kommen, um die Rentenkassen als Beitragszahler zu stützen. Andererseits reißt es eine Lücke in die Konstellation der Generationen, mit der Japan die Pflege der Alten bisher sichergestellt hat. Die Folge ist, dass die Pflege, einst Familienaufgabe, nun als Verantwortung der Gesamtgesellschaft verstanden werden muss.

Weltweit altert keine Gesellschaft so schnell wie die japanische. Die Geburtenzahl geht zurück und trifft auf eine immer langlebigere Bevölkerung – mehr als 80.000 Japaner*innen sind über 100. Fast jede*r Dritte ist älter als 65.

Auch deshalb wurde im Jahr 2000 erstmals eine verpflichtende Pflegeversicherung eingeführt, in die jede*r Bürger*in einzahlen muss. Anders als in Deutschland rechnet diese jedoch nur Dienstleistungen ab und zahlt kein Geld an Angehörige: weil verhindert werden soll, dass damit Frauen wieder in traditionelle Rollen gedrängt werden. Wer aber soll die Pflege dann übernehmen?

Einsamkeit wird richtig teuer

Eine fast schon klischeehafte Antwort: Roboter sollen das Problem lösen. Seit Jahren wird in Japan über die Technologisierung der Pflege diskutiert. Noch ist das Zukunftsmusik, denn die Technik ist weit entfernt davon, Pflegekräfte ersetzen zu können. Roboter, so wie sie derzeit existieren, können Pflegende unterstützen, entlasten, mehr aber nicht.

Also müssen nach wie vor Menschen die Hauptlast der Pflege tragen. Früher war es stigmatisiert, die eigenen Eltern durch einen Pflegedienst zu Hause versorgen zu lassen oder sie in eine Tageseinrichtung zu bringen, inzwischen wird das immer mehr akzeptiert. Dies führt, wie die wachsende Zahl der Alten und Pflegebedürftigen, notgedrungen zu einem akuten Fachkräftemangel in der Pflege. Und so versucht das Land seit fast 15 Jahren, Pflegekräfte aus dem Ausland anzuwerben. Für eine sehr homogene Gesellschaft – der Ausländeranteil liegt bei zwei Prozent – ist das Neuland. Einwanderung wurde politisch lange kaum unterstützt und beschränkte sich meistens auf Hochqualifizierte.

Die ersten politischen Strategien für die Einwanderung von Pflegekräften haben dann auch ihr Ziel verfehlt. Gabriele Vogt, Professorin für Japanologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, forscht zu den Schwerpunkten Demografie und Migration und bezeichnet das Economic Partnership Agreement (Wirtschaftliches Partnerschaftsabkommen), das 2008 eingeführt wurde, als zum Scheitern verurteilt. „Die Hürden sind so hoch, dass es sowohl für Pflegekräfte aus dem Ausland als auch für japanische Arbeitgeber sehr unattraktiv ist“, sagt sie. Unabhängig von der vorherigen Ausbildung müssen die Pflegekräfte das japanische Staatsexamen ablegen, und zwar auf Japanisch. Wer durchfällt, muss zurück ins Herkunftsland.

2019 wurden mit dem „Specified Skilled Worker“-Visum (SSW) umfangreiche neue Wege für die Migration geschaffen. Ein halbes Jahr nachdem die ersten Pflegekräfte über das Visum ins Land kamen, brach die Pandemie aus. Seitdem sind die Grenzen dicht.

Wenn aber Roboter nicht das Erhoffte leisten können und es an Pflegekräften fehlt, so bleibt eine weitere Stellschraube dafür, die Herausforderung zu lösen: Man versucht, die Zahl der Pflegebedürftigen zu verringern, indem man ihre Pflegebedürftigkeit möglichst weit hinauszögert. „Die Kernphilosophie der Altenpflege in Japan ist, den Pflegebedarf zu reduzieren“, sagt Vogt. „Alte Menschen sollen sich möglichst lange ihre Unabhängigkeit bewahren, geistig und körperlich aktiv und mobil bleiben.“

Ein entscheidender Faktor sind dabei die japanischen Nachbarschaftsorganisationen, die sogenannten Chonaikai. Sie spielten in Japans Geschichte schon lange eine wichtige Rolle, nicht nur im Katastrophenfall oder im Krieg. Ältere Menschen finden hier ein umfassendes Angebot für soziale Treffen und Tätigkeiten, wie die Organisation von Tempelfesten, Rätselabende oder Handarbeitskurse. Das Ziel: Durch den Austausch vereinsamen Senior*innen weniger und bleiben fitter. Außerdem fällt es eher auf, wenn jemand langsam vergesslich wird oder Unterstützung beim Gehen braucht. Die Chonaikai sind mit den örtlichen Behörden vernetzt und fungieren oft als Vermittler.

Eine landesweite Initiative mit ähnlichem Ziel, die von den Gemeinden organisiert wird, sind die Silver Jinzai Centers. Sie sind kleine Arbeitsagenturen, die Rentner*innen mit Privatpersonen verbinden. Oft geht es um Haus- und Gartenarbeiten, Babysitten oder Unterricht in verschiedenen Bereichen. Auch hier gilt: Das Wichtigste ist die soziale Komponente. Die Senior*innen bleiben aktive Mitglieder ihrer Gemeinschaft, sie sollen auch nach der Arbeit mit den Familien, bei denen sie tätig sind, verbunden bleiben.

Besonders zu Beginn der Rente sind diese Angebote aber für viele nicht mehr attraktiv. Das Renteneintrittsalter liegt bei 65, da sind die meisten noch fit und arbeiten lieber regulär weiter. Die Regierung versucht es deshalb mit Selbstbestimmung: Das Alter soll nicht mehr darüber entscheiden, ob jemand als Senior*in bezeichnet wird. Diese Form der „alterslosen Gesellschaft“ entlastet zudem noch die Rentenkassen.

Von dem Bild der sich um die Älteren sorgenden Schwiegertochter, das Setsuko Hara verkörperte, sind diese neuen Konstellationen zwischen den Generationen in Japan weit entfernt. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass sie – gesellschaftlich vermittelt – dieselbe Herausforderung zu meistern versuchen.

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