Jan van Aken: Ist die Linke selbst schuld? Ich höre irgendwas anderes an den Haustüren

Eine Haustür in Hamburg-Mümmelmannsberg. Das hier ist nicht die feine Außenalster, nicht das reiche Blankenese oder das hippe Altona. Wer in diesen Blocks aus den 70ern wohnt, arbeitet oft für den Mindestlohn, muss aufstocken oder hat gar keine Arbeit. Unser Wahlkampfteam klopft an die Tür eines argwöhnischen Anwohners: „Ich wähle eh die AfD“, ruft er gleich. „Die Mühe könnt ihr euch sparen.“

Ich nicke, bleibe ruhig. Sowohl er, als auch mein Vater haben die gleiche Geschichte, beide haben in einer Bremsbeläge-Fabrik gearbeitet, der Mann an der Tür hat bis heute davon Lungenprobleme. Das gibt eine Verbindung, er erzählt mir, wie er sich fühlt. Wie gefangen in einem Käfig, der ihn hält: Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit, doch am Ende bleibt nichts übrig. Und niemand, der sich um seine Probleme kümmert, das Warten auf einen Arzttermin. Das alte Aufstiegsversprechen der Bundesrepublik, es gilt hier schon lange nicht mehr.

Langsam merkt er, dass ich ihm wirklich zuhöre, ohne ihm ins Wort zu fallen. Das reicht oft schon, denn so viele Menschen haben das Gefühl, dass ihre Meinung, ihre Probleme und ihre Sorgen nirgendwo mehr gehört werden. Erst recht nicht von der Politik, die vielen hier fern ist und in die man kein Vertrauen mehr hat. Je mehr er erzählt, desto mehr taut er auf. Auch weil ich ihm das Gefühl gebe, nicht allein zu sein mit dieser Erfahrung. Er spürt: Hier ist jemand, der ihn versteht. Und oft ist das ein Anfang.

Ich möchte gar nicht groß eingehen auf die Debatte, ob die Linke selbst schuld sei am Aufstieg der Rechten. Die Zeit führt sie mit Jens Jessen, meine Co-Vorsitzende Ines Schwerdtner hat bereits gesagt, wie wir das sehen: So, wie es den Menschen geht, mit den irre hohen Mieten und hohen Preisen, die aus ihrem Geld immer weniger machen – so ist es schwer vorstellbar, dass der Grund für den Rechtsruck in einem Gendersternchen liegt. Aber für mich ist diese Debatte keine intellektuelle Theoriediskussion. An den Haustüren haben wir selbst nachgefragt, was die Menschen unzufrieden macht, dafür müssen wir nicht Jens Jessen in der Zeit lesen.

Für viele ist die AfD Protest gegen ein System, von dem sie sich alleingelassen fühlen

Allein im Bundestagswahlkampf haben wir an 600.000 Haustüren geklopft und unzählige Gespräche geführt. Natürlich öffnet sich nicht jede Tür und auch nicht jeder hat Lust oder Zeit, mit uns zu reden. Doch jene, die mit uns ins Gespräch kommen, die öffnen sich oft ein Stück weit. Sie sind uns eine große Hilfe und wir auch ihnen. Von solchen Gesprächen profitieren beide Seiten. Für uns sind diese Begegnungen wichtig, weil wir so aus erster Hand erfahren, was die Menschen bewegt, wo ihre wirklichen Probleme liegen und was sie denken. Die von uns Besuchten wiederum haben jemand, der ihnen zuhört und ihre Probleme ernst nimmt.

Immer wieder sehen wir: Viele schämen sich für ihre Einsamkeit und die Verhältnisse, in denen sie leben. In einer Gesellschaft, die das Ich über alles stellt und in der nur der finanzielle Erfolg zählt, vereinsamen jene, die wenig haben und irgendwo draußen an der Peripherie wohnen.

Der Leitgedanke des Neoliberalismus ist ja, das Ich zum alleinigen Maßstab zu machen, also uns zu vereinzeln, zu trennen und so zu schwächen. Was für die einen Befreiung aus beengten Verhältnissen bedeutet, ist für andere Vereinsamung und Isolation. Diese um sich greifende Einsamkeit gefährdet den sozialen Zusammenhalt, denn einsame Menschen beteiligen sich weniger am gesellschaftlichen und politischen Leben.

Wir erfahren, was die Menschen wirklich bewegt. Natürlich sind viele darunter, die wahrscheinlich AfD wählen würden oder gar nicht mehr ins Wahllokal gehen. Die Menschen, die sich einsam fühlen, werden auch anfälliger für den Rechtspopulismus der AfD. Wie bei dem Mann aus Mümmelmannsberg ist die AfD für viele eine Art von Protest gegen ein System, von dem sie sich alleingelassen fühlen.

Nach dem Gendersternchen kommt der Schmerz über eine vermeintlich ausweglose Situation

Wir tappen aber nicht in die Falle wie Union und SPD. Wir verurteilen diese Leute nicht, machen aber klar, dass ihr Zorn die Falschen trifft. Und meistens bleibt die Wut nicht beim Gendersternchen hängen oder an den deutschen Grenzen, wie manche Politikwissenschaftler meinen. Sondern oft kommt danach der Schmerz über die vermeintlich ausweglose Situation.

Das Gefühl fangen wir auf und schaffen konkrete Angebote. Nach einem Gespräch sagte ein vermeintlicher AfD-Sympathisant in einer Hochburg der Rechten zu uns: „Eigentlich habe ich mit dem arabischen Barbier mehr gemein, als mit den Bonzen“. Da muss ein Linker ansetzen und darf das Gespräch nicht beenden.

Es wäre übertrieben, wenn ich hier behaupte, dass wir an der Tür massenhaft Leute davon überzeugen, uns zu wählen. Nein, das wäre vermessen, und wir rechnen auch nicht damit, dass unsere Arbeit hier so schnell Früchte tragen wird. Unser Ziel ist: Raus zu den Menschen! Wir wollen zeigen, dass Parlament und Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden sind.

Unser Einsatz endet nicht mit der Wahl. Wir klingeln auch jetzt noch, lange nach der Bundestagswahl, an den Türen, weil es uns hier nicht nur um ein paar Stimmen für die nächste Wahl geht. Unsere Abgeordneten und tausende Helferinnen und Helfer werden weiterhin in Stadtteilen mit hoher Armutsquote Haustürgespräche führen. Diese Gespräche sind Teil einer Strategie und werden begleitet von Sozialsprechstunden und Bürger*innenversammlungen. Wir gehen dorthin, wo das Leben uns herausfordert, wo für die Menschen jeder Cent zählt.

In Köln gibt es jetzt eine Nachbarschaftsinitiative gegen das Rattenproblem

Es sind nicht immer die großen politischen Lösungen, die wir anbieten, sondern die ganz praktische Hilfe vor Ort bei dem alltäglichen Ärger, der die Leute nervt. In Köln erfuhren wir bei Gesprächen im Stadtteil Kalk von einer Rattenplage, die von den Behörden ignoriert wurde. Wohl auch, weil die, die sich da beschwerten, keine einflussreichen Großverdiener waren, sondern ganz normale Leute.

Wir führten daraufhin Gespräche mit dem kommunalen Wohnungsanbieter, der sich weigerte, etwas zu unternehmen. Wir haben Unterschriften gesammelt und ordentlich Druck gemacht. Daraufhin ist endlich was passiert. Jetzt beginnen die Kölner:innen damit, eine Nachbarschaftsinitiative aufzubauen, um das Rattenproblem in den Griff zu kriegen. Und jetzt, nachdem wir den Raum geöffnet haben, fangen wir an, gemeinsam Lösungen jenseits abstrakter Parteipolitik zu denken: eine Nachbarschaftsinitiative gegen Rattenplagen, weil das Problem real ist – und wir der Realität begegnen. Politik, die wirkt, beginnt an der Haustür.

Von Jens Jessen in der „Zeit“ zu den Haustüren: Hoffnung organisieren

Wir können lange Diskussionen im Feuilleton darüber führen, wie die Leute über die Entwicklung einer linken Debattenkultur denken. Aber besser ist es, diese Energie für die echten Gespräche mit den Menschen an der Haustür zu nutzen. Und es geht nicht nur um ernsthaftes Zuhören, sondern auch um ein ernsthaftes Gespräch, das uns als Gegenüber mit einschließt.

Wir machen an den Türen durchaus klar: Schuld an der Erschöpfung sind nicht eure Nachbarn, es ist nicht der vermeintlich Fremde, mit dem ihr mehr gemeinsam habt als mit den Reichen in den Villen am anderen Ende der Stadt. Es sind die ausbeuterischen Konzerne, dreiste Vermieter, es ist das System, das euch um eure Zukunft betrügt.

Das Gefühl der ausweglosen Situation nehmen wir ernst. Es reicht nicht, darüber zu diskutieren, wie es dazu kam. Unsere Aufgabe ist es, die Hoffnung zu organisieren.

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