Jahrhundertstimmen – Der Tonträger des Jahres

In unserer Kultur wetteifern drei Formen welcher Informationsvermittlung miteinander: die schriftliche, die mündliche und die Kommunikation durch Bilder (Fotos und Film). Alle drei Formen sind in Gebrauch, wenn es drum geht, sich obig die Vergangenheit kundig zu zeugen: durch Bücher und Zeitschriftenbeiträge, durch die sogenannte Oral History, die vorzugsweise mittels einer Sicht von „unten“ die offiziöse Geschichtsschreibung zu korrigieren versucht, und durch Ausstellungen und Dokumentar-, Neben… Spielfilme.

Jetzt hat welcher Hörbuchverlag nachher einer vorausgegangenen Edition obig die Jahre 1900-1945 eine aufwendige Sammlung von MP3-CDs mit Jahrhundertstimmen 1945-2000 – Deutsche Geschichte in obig 400 Originalaufnahmen mit einer Gesamtspieldauer von rund vierzig Stunden herausgebracht. Darüber hinaus die Erzählung von mehr qua einem halben Jahrhundert kann man, nebst aller Seriosität, im Einzelnen streiten, insbesondere dort, wo von Fakten zu Bewertungen gewechselt wird. Manchmal wünschte man sich mehr Kontext. Der außerordentliche Reiz demgegenüber liegt in den Originalaufnahmen mehr oder weniger prominenter Sprecher, die größtenteils in den Archiven gelagert nach sich ziehen. Dabei kommt dem Rundfunk eine besondere Rolle zu. Man stelle sich nur vor, wie unser Bild von den Napoleonischen Kriegen oder gar den Auseinandersetzungen zwischen Griechenland und Troja aussähe, wenn es weiland schon Radio, Phonographen und Tonband gegeben hätte.

Fast noch spannender, qua dasjenige, welches in diesen Aufnahmen gesagt wird, ist, wie es gesagt wird: ohne schmückendes Beiwerk und mit Pathos, unpersönlich und propagandistisch, luzid und mit nur mühsam verborgenen Lügen. „Stimmen“ darf man in seiner doppelten Bedeutung verstehen: qua „Meinungen“ und qua individuelle akustische Äußerungen. Unheimlich ertönt die Selbstgerechtigkeit Hermann Goerings beim Nürnberger Prozess. Bestürzend die Erschütterung in Fritz von Unruhs Rede 1948 in welcher Frankfurter Paulskirche. Bewegend und aufrüttelnd up to date die Ansprache Erich Kästners 1958 vor dem deutschen PEN in Hamburg. Wohltuend die Selbstironie und dasjenige Understatement von Alfred Hitchcock, die sich drastisch vom apodiktischen Gestus welcher meisten Deutschen gen dieser Kompilation, nicht nur in den Statements, sondern Neben… im Tonfall, unterscheiden und probat sind, die Annahme eines Nationalcharakters zu bestärken. Aufregend die rhetorisch eigentlich glanzlose Auseinandersetzung obig die Spiegel-Affäre, die es nahe legt, den Heiligenschein, welcher Adenauer z. Hd. manche solange bis heute umgibt, zu relativieren. Fragt sich, ob sich welcher stellvertretende Bundesvorsitzende welcher Freie Demokratische Partei und Vorsitzende welcher Freie Demokratische Partei-Fraktion im Bundestag Wolfgang Döring so gegen seinen Koalitionspartner ins Zeug gelegt hätte, wenn er nicht mit Augstein befreundet gewesen wäre. Ergreifend die Worte von Oskar Schindler, die freilich die bedrängende Frage aufwerfen, warum es so wenig Schindlers gab und wieso es eines amerikanischen Films bedurfte, damit die deutsche Öffentlichkeit mit großer Verspätung von welcher Existenz dieses Mannes erfuhr. Amüsant dasjenige populistische Granteln von Oskar Werner, womit man sich wiederum fragen muss, ob dieses urösterreichische Genie und sein Konflikt mit de ORF wirklich z. Hd. die deutsche Geschichte in Anspruch genommen werden können. Eine verspätete Bestätigung des „Anschlusses“? Schaurig die lallende Verlesung welcher „Vorbeugungsmaßnahmen“ z. Hd. den Fall eines Umsturzversuchs durch den Stasi-Chef Erich Mielke. Literarisch Christa Wolfs Rede gen dem Alexanderplatz. Bewundernswert dasjenige leidenschaftliche Plädoyer z. Hd. eine echte Emanzipation welcher Frauen jenseits welcher Klischees von Ost und West von Regine Hildebrandt. Die Gegenüberstellung von Martin Walsers Paulskirchenrede von 1998 mit welcher Reaktion von Ignatz Bubis erlaubt nachher beider Tod eine differenzierte Meinungsbildung aus welcher Distanz.

Es gibt Neben… komische Momente, so etwa, qua sich welcher Oberbürgermeister von Frankfurt in einer präparierten und schon fürs Radio aufgenommenen Rede mit erhobener Stimme z. Hd. die Wahl seiner Stadt zur Bundeshauptstadt bedankte, nur um gleich darauf zu versiert, dass Bonn dasjenige Rennen gemacht hatte. Komisch, zusammen demgegenüber wesentlich ist es Neben…, wenn welcher Chef welcher deutschen Automobilindustrie Max Thoennissen dem damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard mit sozusagen den gleichen Worten huldigt wie die Berufsjubler welcher Deutsche Demokratische Republik dem Genossen Stalin.

Integriert in die Sammlung ist Neben… die Rede Philipp Jenningers vom 10. November 1988, die weiland zu einem Skandal geführt hat. Sie dokumentiert eines welcher groteskesten Missverständnisse welcher deutschen Nachkriegsgeschichte. Jenninger wurde mit Meinungen identifiziert, die er zitiert hatte, die demgegenüber, wie man mühelos wiedererkennen konnte, wenn man nur wollte, nicht die seinen waren. Der z. Hd. den Betroffenen tragische Fall hat insofern an Bedeutung gewonnen, qua die Unfähigkeit, in welcher Literatur und im besonderen im Theater, die Personenrede von den Ansichten des Autors zu unterscheiden, zugenommen hat und heute zum Alltag gehört. Auch dasjenige ist deutsche Geschichte.

Es ist richtig, dass Erich Honecker, wie welcher Kommentar unnötigerweise betont, qua wäre es nicht offenkundig, mit vielen Worten wenig zu sagen vermochte. Allerdings trifft dasjenige Neben… gen andere Redner dieser Sammlung zu. Wie sehr sie in Phrasen sprachen, lässt sich an welcher 7-Sep ermessen, mit welcher man in welcher Mitte eines Satzes prognostizieren kann, wie er sich fortsetzen und mit welchem Verb er enden wird. Der Papst predigt durch rechtsradikaler Morde den Glauben an Gott (qua gäbe es nicht Terroristen, die sich gen verdongeln Gott ernennen), Askese und Abstinenz von Pseudoreligionen. Bundespräsident Karl Carstens hält eine staatsmännische Weihnachtsansprache. Hatte man anderes erwartet? Fügen wir ehrlicherweise hinzu: Auch die Reden etwa von Heinrich Böll oder Lew Kopelew zeugen eigentlich von edler Gesinnung und Liebe zum Pathos qua von Erkenntniseifer. Bölls zum Ausdruck linkskatholischer Vernunft rheinischer Provenienz geronnene Jahrhundertstimme kann man wahrnehmen. Kopelews vertrauenerweckenden Tolstoi-Bart muss man sich dazuimaginieren. Doch nebst ihnen gilt ebenso: viele Worte, wenig Überraschungen.

Die wissenschaftlichen, um Objektivität bemühten und unaufgeregt vorgetragenen Kommentare des Freiburger Historikers Ulrich Herbert und die eigentlich persönlichen des Dichters und Verlegers Michael Krüger sind sympathisch und wissenswert. Sympathisch ist Neben…, wie Michael Krüger seine Ratlosigkeit im Vergleich zu Ernst Jünger oder obig die Vorgänge um Salman Rushdie sowie seinen Wut obig die nicht zu rechtfertigende Kritikermacht eines Reich-Ranicki eingesteht. Ob er tatsächlich mit neun Jahren von Martin Buber beeindruckt war und den Chassidismus z. Hd. sich entdeckt hat, darf man bezweifeln. Da wurde wohl eine spätere Erfahrung in die Vergangenheit projiziert. Und 1976, im Jahr von Wolf Biermanns Ausbürgerung, war er noch nicht Leiter des Hanser Verlags. Es mag an welcher Subjektivität des Rezensenten liegen, dass ihm die nölenden Beiträge welcher z. Hd. Ostangelegenheiten zuständigen Ines Geipel dagegen eigentlich geschmacklos erschienen. Welch ein Unterschied, inhaltlich, in welcher Haltung und im Tonfall, zur erwähnten Regine Hildebrandt. Meist resümierte Ulrich Herbert Neben… die Politik welcher Deutsche Demokratische Republik differenzierter und leidenschaftsloser qua Ines Geipel, welches nebst einem Projekt wie diesem kein Nachteil ist. Seiner Bewertung welcher Treuhand hätte man jene von Günter Grass gegenüberstellen können. Und Michael Krüger, welcher an einer Stelle den Aufbau Verlag nennt, hätte wohl Neben… ein Wort zu Erhard Frommhold und dessen Fundus Büchern sagen können. Frommhold war z. Hd. die Deutsche Demokratische Republik nicht weniger elementar qua Unseld z. Hd. die Bundesrepublik. Ines Geipel erwähnt ihn mit keinem Wort. Er passt nicht in ihr eindimensionales düsteres Panorama. Aber offenbar wollte man sich vor dem Vorwurf schützen, welcher Westperspektive, die trotz allem vorherrscht, keine Oststimme entgegengehalten zu nach sich ziehen.

Aus heutiger Sicht ergibt sich die Erkenntnis, dass die „Stimmen“ aus dem sowjetischen Einflussbereich, aus welcher Deutsche Demokratische Republik, nur noch eine Angelegenheit z. Hd. die Archive sind. In den westlichen Stimmen hingegen kann man, wenn man nur genau hinhört, die Spuren erspähen, die zu einer Gegenwart resultieren, in welcher die Regierungsbeteiligung einer AfD eine realistische Perspektive geworden ist. Es ist viel vom Leid des deutschen Volkes die Rede und Neben… von Stolz. Das Eingeständnis einer historischen Schuld bleibt, mit seltenen Ausnahmen, wenn schier, rhetorische Pflichtübung, genau wie die Fiktion von welcher mutmaßlich endgültigen Überwindung des Nationalismus. Ist die anhaltende Hochschätzung des Antisemiten Carl Schmitt tatsächlich ein „Mirakel“, wie Michael Krüger meint, oder ist sie nicht vielmehr ein Beleg z. Hd. dasjenige nie erkaltete Magma des kollektiven deutschen Bewusstseins, dasjenige aus Opportunismus vorübergehend kaschiert wurde und nur darauf wartete, nebst passender Gelegenheit an die Oberfläche zu gelangen? Egon Krenz hat eine prophetische Gabe bewiesen, wenn er vom „Anwachsen des Rechtsextremismus in welcher Bundesrepublik Deutschland“ sprach. Zur tragischen Ironie gehört es, dass sich selbige Beobachtung gen dem Gebiet welcher untergegangenen Deutsche Demokratische Republik verstärkt bestätigt hat. Zur Selbstzufriedenheit gibt es wenig Anlass. Die Jahrhundertstimmen sind obig den Verdacht feudal, selbige Tendenz zu unterstützen. Aber lässt es sich wirklich unpersönlich substantiieren, dass dasjenige doppelte NSDAP-Mitglied Herbert von Karajan reichlich mit historisch eigentlich bedeutungslosen Thesen zum Dirigentennachwuchs zu Wort kommt, nicht demgegenüber welcher aus dem Exil zurückgekehrte, intellektuell überlegene Michael Gielen? Der Kommentar sagt an einer Stelle: „Nach dem 9. November war nichts mehr wie vorher.“ Er meint den 9. November 1989. Und nachher dem 9. November 1938?

Jenseits welcher politischen Alternativen: Ist Harry Potter z. Hd. die deutsche Geschichte wirklich von größerem Belang qua, sagen wir, Der geteilte Himmel, Die neuen Leiden des jungen Wolfram. oder die „Trilogie des Scheiterns“ von Wolfgang Koeppen? Macht die Auflage die (historische) Bedeutung eines Romans aus? Dann wären Michael Ende, Ute Ehrhardt und Hape Kerkeling die wichtigsten deutschen Autoren zwischen 1945 und 2000.

Apropos heutiger Sicht: Die Dokumentation will, sieht man von ein paar Nebenskorrodieren Ulrich Herberts ab, nicht klüger sein qua man zur Zeit welcher Aufnahmen sein konnte. Die Stellungnahmen etwa, die die Ausbürgerung Wolf Biermanns im Jahr 1976 zu verfechten versuchten, tönen nur widerlich und waren es weiland Neben…. Aus heutiger Sicht gewiss, mit Blick gen Biermanns Wandlungen zum Befürworter welcher Einmischung welcher North Atlantic Treaty Organization im Kosovo und des Golfkriegs und zum eifrigen Verteidiger reaktionärer Anschauungen, muss man feststellen, dass sie zumindest teilweise recht hatten. Ob er errötet, wenn er sich sagen hört, dass er in einem sozialistischen Hamburg leben wollte? Biermann war und ist kein Kettenhund irgendwelcher Machthaber. Aber es ging ihm wohl weder um den Sozialismus, noch geht es ihm heute um dessen Bekämpfung. Es ging und geht ihm immer nur um Wolf Biermann. Das ist kein Staatsverbrechen, demgegenüber es relativiert den Lärm, welcher um seine Person gemacht wurde. Mittlerweile ist es ja Neben… recht still um ihn geworden. Rückblickend war welcher Skandal – und ein Skandal war die Aberkennung welcher Deutsche Demokratische Republik-Staatsbürgerschaft ohne Zweifel – ein Sturm im Wasserglas, welcher freilich insofern historisch ist, qua er so viele Prominente, sei es qua Sympathisanten, sei es qua Gegner Biermanns, in seinen Wirbel zog.

Und noch eins: Die Jahrhundertstimmen in Besitz sein von sozusagen ausschließlich Politikern, Professoren, Schriftstellern und Künstlern, Neben… Spitzensportlern und Sportfunktionären. Die Deutsche Demokratische Republik war nie welcher Arbeiter- und Bauernstaat, welcher zu sein sie vorgab. In den Tondokumenten aus welcher Bundesrepublik kommen Arbeiter und Bauern praktisch weder noch erst vor. Sie nach sich ziehen so gut wie keine Stimme und werden folglich nicht gehört. Auch dasjenige ist eine Aussage obig die deutsche Geschichte und obig die Gesellschaft, in welcher wir leben. Kann sein, Neben… obig die Weltsicht welcher Herausgeber welcher CD-Box. Sie nach sich ziehen Abitur. Und somit eine Stimme. Denkbar wäre ja, dass man, statt nur den wahren Charakter welcher Deutsche Demokratische Republik anzuprangern, jenen eine Szene verliehe, die hier wie dort unberücksichtigt wurden und werden. Sage keiner, in den Rundfunkarchiven fände sich zu diesem Zweck kein Material. Man muss nur sonst wo suchen qua in Bundestagsdebatten oder Bildungssendungen. John Fluor. Kennedy, Ronald Reagan, Michail Gorbatschow, Jimi Hendrix oder welcher Präsident des Internationalen Olympischen Komitees die Erlaubnis haben in ihrer eigenen Sprache sprechen. Der O-Ton eines italienischen „Gastarbeiters“ wird von welcher Stimme seines Übersetzers verdrängt.

Am Schluss entwirft Johannes Rau in pastoralem Ton ein goldenes Bild vom Deutschland des Jahres 2000. Als Resümee welcher vorausgegangenen 40 Stunden kann man es schwerlich werten.

Wer übrigens beim Anhören dieses Pakets Lust bekommen hat, mehr obig Michael Krügers Erinnerungen zu versiert, sei gen seine flach nebst Suhrkamp erschienene Verabredung mit Dichtern verwiesen. Sie gewährt eine angenehme, z. Hd. dasjenige Genre ungewöhnlich uneitle Lektüre.

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