„Ist denn heute mein Glückstag?“ – Begegnung mit einer Pfandsammlerin in Berlin

„Ist denn heute mein Glückstag!“ So ruft die alte Dame mit wässrigen Augen, als meine Frau ihr die Pfandflaschen hinhält. Sie reißt die Arme vors Gesicht, als könne sie es kaum glauben. Eine Handvoll Flaschen zu je 8, 15 und 25 Cent Pfand.

Meine Frau steht noch ganz aufgelöst im Flur, als sie mir davon erzählt. Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie sagt: „In was für einer Welt leben wir denn eigentlich? Die Frau könnte meine Oma sein.“ Meine Frau traf die alte Dame an einem Frühlingstag in unserem Innenhof. Wir leben in einem früheren Berliner Arbeiterviertel in einem Mietshaus. In unserem Innenhof sieht man die alte Dame alle paar Tage, wenn sie auf der Suche nach achtlos weggeworfenen Pfandflaschen ist.

Die alte Dame – nennen wir sie Frau Schenk – wirkt wie eine typische Großmutter. Ihre Armut ist unverkennbar. Man sieht ihr an, dass sie auf ihr Erscheinungsbild achtet. Das dunkelblonde, wellige und leicht ausgedünnte Haar ist akkurat geschnitten. Sie hat vor den Verhältnissen nicht kapituliert.

Wenn man Frau Schenk trifft, schaut sie meist leicht verschämt weg – aber nicht zu Boden. Wenn man sie grüßt, erwidert sie den Blick mit angedeutetem Lächeln. Sie weiß aus Erfahrung, wer ihr wohlgesonnen ist, und bei wem sie lieber in der Hofdurchfahrt stehen bleibt. Wohnungslose wurden hier schon verjagt, berichtete der Hausmeister. Frau Schenk hat sich ihren Aufenthalt erarbeitet. Auch wenn sie sich die Miete kaum leisten kann, ist sie wie eine Mitbewohnerin. Sie gehört dazu. Viele lassen die Pfandflaschen oft neben den Mülltonnen stehen.

Frau Schenk kommt zurück – mit mehr als einem Wespenstich

Wenige Monate später, es ist Berliner Hochsommer. Frau Schenk kommt erneut in den Innenhof. Ich sehe sie und rufe ihr zu, ob sie denn warten möchte, dann würde ich ihr wieder eine große Tasche mit Pfandflaschen herunterbringen.

Ich frage sie, ob sie die Flaschen auf einmal mitnehmen möchte. Ob sie nicht vielleicht nur die Hälfte nimmt und für die andere am Wochenende wiederkommt. Aber sie sagt, sie schaffe das schon. Sie sei stark. Dann fragt sie mich, ob ich wüsste, ob es in der Nähe eine Apotheke gebe.

Sie zeigt mir ihre angeschwollene Hand, in der sie ein durchnässtes Papiertaschentuch hält, in dem noch ein paar kleine Eiswürfel zu erkennen sind. Sie sei von einer Wespe gestochen worden, am Pfandautomaten eines Biosupermarkts. „Ich ärgere mich so über mich selbst. Ich sag mir: ‚Mädchen, pass auf!‘“ Sie hat wohl eine allergische Reaktion.

Ich erkläre den Weg zur Apotheke und frage, ob ich ihr noch etwas zum Kühlen bringen darf. Und ich biete ihr immer wieder an, dass ich die Flaschen für sie bei uns im Keller verstaue, damit sie zum Arzt gehen kann. Frau Schenk aber will niemanden zur Last fallen. Sie sorgt sich wohl auch um die Flaschen. Sie sagt: „Ich will das schaffen.“ Wir einigen uns darauf, dass ich ihr ein Stofftuch und neue Eiswürfel bringe und sie einige Tage später wiederkommt. Ich versichere, dass niemand anderes bis dahin die Flaschen mitnimmt.

Ich will das schaffen

Auf dem Weg durchs Treppenhaus treffe ich unsere Nachbarin. Sie ist Ärztin und kommt gerade mit ihrem kleinen Kind die Treppe herunter. Ich schildere die Situation und frage, ob sie Mittel zur Behandlung allergischer Reaktionen habe. Kurze Zeit später stehen meine Nachbarin und ich bei Frau Schenk. Sie bekommt 20 Tropfen Medizin, in Wasser aufgelöst. Am Abend solle sie nochmal 20 Tropfen einnehmen. Wenn die Hand und der Unterarm weiter anschwellen, solle sie 112 wählen und in die Notaufnahme fahren. Unwohlsein fährt über das Gesicht von Frau Schenk. Sie mag Ärzte nicht.

„Mit meiner Pumpe steht es sowieso nicht zum Besten“, sagt sie. „Gerade deshalb“, schärft ihr unsere Nachbarin ein. Eine solche allergische Reaktion könne man nicht zu Hause behandeln. Ob sie es verspreche, den Notruf zu wählen? Frau Schenk druckst leicht herum: „Ich geb mir Mühe.“ Ich trage die Flaschen in unseren Keller hinab und beteuere nochmals Frau Schenk, dass sie sich um das Pfand keine Sorgen machen müsse. Ich werde zu Hause sein und auf sie warten.

Am Montag klingelt es dann kurz vor Mittag an der Haustür. „Hier ist die Flaschensammlerin“, tönt es durch den Summer. Ich renne herunter. Frau Schenk steht im Durchgang zum Hinterhaus. Sie hat ein sommerliches Oberteil mit Blumenmotiven an. Dazu trägt sie eine große Tragetasche, wie es sie bei Ikea oder im Baumarkt gibt, in der sich schon mehr als ein Dutzend Pfandflaschen befinden.

Wir kommen ins Gespräch. Ich erkundige mich nach ihrem Wespenstich. „Angeschwollen wie ein Luftballon“, sei die Hand gewesen, sagt sie. Sie sei damit noch zur Apotheke gegangen, aber dort habe man sie nur an die „112“ und die Notaufnahme verwiesen. Das habe sie nicht gemacht. Die Schwellung sei am Wochenende auch so zurückgegangen. Sie hält mir ihre rechte Hand hin und tatsächlich sieht man kaum noch einen Unterschied zur linken.

Man beißt sich so durch

Frau Schenk erzählt von ihren Krankenhausaufenthalten. Sie habe eine Herz-OP gehabt. Eine neue Herzklappe ist eingesetzt. Während Corona erlitt sie dann einen Schlaganfall. Deswegen würden ihr manchmal auch Namen nicht einfallen. Sie spricht eloquent, ihre Sprache verrät Bildung: Sie kommt ohne klassische „Ähs“ und moderne „genau’s“ aus, und in ihr tauchen Begriffe auf wie „Probanden“, „Kardiologe“, „Neurologe“, „Pneumologe“. Sie sei es so müde, von einem Arzt zum anderen geschickt zu werden, und gehe trotzdem regelmäßig zu ihnen. Damit niemand sagen könne, sie habe sich „nicht gekümmert“.

Nach dem Schlaganfall konnte sie erst mal nicht sprechen, berichtet Frau Schenk weiter. Erst nach anderthalb Jahren Logopädie sei es wieder gegangen. Sie sei doch „noch rüstig“, sagt auch der Hausmeister, der kurz bei uns steht, während wir uns unterhalten. Sie sagt: Das habe sie so gelernt. Niemals aufgeben, „man beißt sich so durch“.

Keine Hoffnung in die BRD: „Zu diesem System habe ich genauso wenig Vertrauen wie zu dem alten“

Wir kommen auf ihr Leben zu sprechen. Sie komme aus der DDR, beginnt Frau Schenk zu erzählen. Gearbeitet habe sie beim Allgemeinen Nachrichtendienst (ADN). Der ADN belieferte ab 1946 das Pressewesen in der DDR mit Bildern und Nachrichten. Er unterstand dem Ministerrat der DDR und wurde von der SED geleitet.

Für den ADN hat Frau Schenk Reisekostenabrechnungen bearbeitet. Ihre ältere Schwester und ihr Bruder hätten nie den Mund gehalten, fügt die Frau hinzu. Ihre jüngere Schwester hätte auch einen Ausreiseantrag gestellt, um einen Nordafrikaner heiraten zu können. Aber Probleme habe sie deswegen nicht bekommen.

Nach 1990 wird der ADN aufgelöst, privatisiert, es kommt zu Massenentlassungen. Auch Frau Schenk landet in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Mit Mitte 40, erwerbslos, alleinerziehend, mit zwei Kindern und einem Bandscheibenvorfall kommt sie im Kapitalismus an. Sie bekommt vom Amtsarzt, der sie auf Arbeitsfähigkeit untersucht, zu hören: Sie sei zu alt, um noch vermittelt werden zu können.

Am Ende wechselt sie die Schreibtischseite, betreut ABM-Maßnahmen, beobachtet, wie der Staat sich von privaten Unternehmerinteressen ausplündern lässt, ihnen dafür noch einen Niedriglohnsektor spendet. Sie habe Leute kennengelernt, die nicht arbeiten wollten, sagt Frau Schenk. Aber auch so viele, für die es einfach keine Stellen gab.

Über die BRD sagt sie heute: „Zu diesem System habe ich genauso wenig Vertrauen wie zu dem alten.“ Ihre Brüder hätten in Leipzig demonstriert. Aber später hätten sie gesagt: „Das haben wir nicht gewollt. Wir wollten eine bessere DDR“. Frau Schenk liest Zeitung. Das hört man an dem, was sie sagt. Die Israelis „tun unsere Drecksarbeit“. Sie kenne ja Merz nicht. Aber das habe sie erschüttert, dass er so etwas sage. Sie sagt: „Es gibt immer auf allen Seiten Menschen, die unmenschlich denken. Aber bezahlen müssen dafür die normalen Leute.“

Es gibt immer auf allen Seiten Menschen, die unmenschlich denken. Aber bezahlen müssen dafür die normalen Leute

Frau Schenk gehört zu den normalen Leuten. Sie ist krank. Sie ist Mitte 70. Das Flaschensammeln, die frische Luft, halte sie fit, sagt sie. Wenn es nach Wirtschaftsweisen, dem Bundeskanzler oder manchem Ministerpräsidenten gehen würde, dann hätte sie bis vor Kurzem noch gearbeitet. Flaschensammeln geht sie dabei seit zehn Jahren. Sie habe am Ende noch „bis 65, 66“ in ihrem Beruf gearbeitet und dann direkt damit angefangen.

Ich frage sie, ob sie ohne Flaschensammeln nicht über die Runden kommt. Sie sagt: „Die Miete und das Essen“ – damit käme sie noch hin. „Keine großen Sprünge“. Aber die Waschmaschine und der Kühlschrank seien 25 Jahre alt und gehen langsam kaputt. Dafür sammele sie, um sich etwas für diese Ausgaben beiseite zu legen. „Ich habe doch noch Glück gehabt“, sagt sie. Sie komme auf 45 Berufsjahre. „Die ABM-Maßnahmen waren ja damals noch sozialversicherungspflichtig“.

Das habe später nicht mehr gegolten. Was denn mit den Frauen sei, die nicht auf ihre Berufsjahre kommen? Sie wird nachdenklich: „Vielleicht wäre es für alle besser gewesen, wenn die beiden Systeme beide noch länger existiert hätten.“ Dann schüttelt sie den Kopf und schickt entschuldigend hinterher: „Manchmal kommen mir solche Gedanken.“

Ich könnte wohl auch ein Buch schreiben

„Jetzt habe ich Ihnen aber ein Ohr abgekaut“, sagt Frau Schenk. „Ich könnte wohl auch ein Buch schreiben.“ Ich hole die Flaschen aus dem Keller und gebe sie der alten Dame. Zum Schluss bedankt sich Frau Schenk noch einmal für die Eiswürfel.

Das habe so sehr geholfen. „Ich habe noch ihr Tuch“, sagt sie und meint damit den aus einem alten Küchenhandtuch zerschnittenen Fetzen. Sie zieht aus ihrer Umhängetasche ein fein säuberlich zu einem Rechteck zusammengelegtes Paket. Es ist akkurat von einer Frischhaltetüte umwickelt, als handele es sich dabei um einen Wandteppich.

Die einen kürzen, die anderen kämpfen

November, einige Monate später: Es ist dunkel, der Tag der Sankt-Martins-Umzüge. Im Bundestag debattieren Politiker seit Wochen über Kürzungen, neue Sanktionen beim Bürgergeld, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, weitere Rentenkürzungen und Steuersenkungen für Reiche.

Ich treffe Frau Schenk wieder. Ich erkundige mich nach ihrer Hand. Sie sagt, es gehe besser. Richtig geheilt sei es aber nicht. Frau Schenk überlegt kurz und blickt mich an. Sie sei darauf eingestellt, sagt sie, dass es mit jedem Jahr schwerer werde.

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