Israel-Tagebuch: Sderot, welcher letzte Zwischenstopp vor Gaza

Nachtfahrt nach Sderot, spät angekommen in der Stadt, die zwei Kilometer nah an der Grenze zum Gazastreifen ist. Rechterhand leuchtet die Stadt Aschkelon, Industrie-Lichtermeer, Scheinwerfer der Schnellstraßen, Schornsteine. Man sieht weit über den Hügel am Ende der Stadt. Da, wo das Funkeln endet, beginnt der Gazastreifen. Völlige Dunkelheit. Nichts zu sehen und kaum zu glauben, dass immer noch 2 Millionen Menschen dort sind.

Schon vor einigen Tagen hatte ich die Nachricht bekommen, ich solle zurückkommen aus Israel. Weil die Situation „Zwei-Fronten Krieg“ bedeuten könnte, dass bald keine Flüge mehr fliegen. Ich hatte auch nach Flügen gesucht, noch schien alles erschwinglich … Die Preise der El-Al-Direktflüge explodierten allerdings noch während des Googelns, dann war innerhalb von einer Minute auf Wochen gar kein israelischer Flug nach München mehr zu haben. Übrig blieb ein ungern gebuchter Flug über Larnaca und Rumänien. Endet die Reise tatsächlich hier und jetzt, beziehungsweise in Rumänien?

Gefühl, dass sie noch nicht zu Ende sein könne, denn den Ort, der mir selbst am meisten am Herzen liegt, Gaza habe ich bisher nicht erreicht. Und natürlich ist es klar: Gaza ist unerreichbar. Weder als Journalistin, noch im Schlepptau einer NGO käme ich hin, ich weiß das. Das hatte ich auch meinen Freunden in Gaza im Norden gesagt, meinen Kollegen im Flüchtlingscamp Nuseirat südlich von Gaza, und ich sagte es meiner Mutter, die nach wie vor allen Verwandten erzählt, ich befände mich zurzeit im Gazastreifen. „Ich bin nicht in Gaza! Keiner kommt nach Gaza!“

No-Go-Reiseziel Gaza

Auf der anderen Seite ein bisschen Hoffnung: der Sohn meiner Freunde, der bei einem Drohnenangriff verletzt wurde, könne für eine dringende OP transferiert werden. Aber auch hier war nichts vorangegangen, der 8-Jährige hatte es auf eine Liste geschafft, der Transfer war aber abgelehnt worden von der entsprechenden israelischen Behörde. Potenzielle Interviewpartner schweigen oder sind erst in zwei Wochen verfügbar. Gaza ist No-Go-Reiseziel. Ich sage es, ich chatte es, ich voicemaile es und dennoch träumt mein Freund, dessen kleiner Sohn verletzt in seinem löchrigen Zelt voller Ameisen und Skorpionen liegt von meinem rosa Rollkoffer voller Verbandsmaterial, Zigaretten und Vitaminen, und einer Powerbank, von der er „weiß“, dass ich sie bringen werde, „Inschallah“.

„Aber es geht doch nicht!“

Wenn Allah will, ginge es doch, heißt es dann.

Und ‚Wenn der Herrgott net will, nützt des gar nix!‘, sag ich, bzw. singt Hans Moser.

Der Typ vom Hostel hatte gefragt, warum ich schon wieder auschecke. Udi, Mitte 20, hatte Nachtschicht und trinkt seinen Feierabend-Morgen-Kaffee.

„Ich muss wohl.“

„Wohin fliegst Du?“, fragt er.

„Keine Ahnung. Ich glaube nach da wo Don Quichotte herkommt, Kastilien, La Mancha …“ – Ich verzweifle am Online-Check-In. Er schaut mir über die Schulter.

„Larnaca! – das ist auf Zypern!“ lacht er. Ich muss zugeben, dass ich mich mit La Mancha gerade anzufreunden begann. –Windmühlenkämpfe, Ritterin von der traurigen Gestalt – Gespräch über Orte an denen man lieber wäre. „Gaza!“, sage ich lieber nicht.

Sderot, der letzte Stopp vor Gaza

Udi wäre gerade auch an vielen Orten der Welt lieber als in Israel. Der erste den ich spreche, der definitiv weg will.

„Wegen des Krieges?“

„Nein, war schon vorher der Plan“. Der Krieg habe jedoch nichts daran geändert. Jetzt, führe er erstmal nachhause zu seiner Familie, nach Sderot.

Sderot! Nur zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Eine Stadt, die sich zwischen vielen Kreisverkehr-Rondellen dahinzieht. Wohnblöcke, ein paar Parks, ein Indoor-Spielplatz (weil sicherer für die Kinder) und eine Polizeistation, auf der ein Chanukka-Leuchter prangt, der aus Raketenüberresten zusammengeschweißt worden war. Fast jeden Tag landen irgendwelche Geschosse in Sderot, oft nur kleine zusammengebastelte, aber „Irgendwas fliegt immer“. – Und der Chanukka-Ständer, der existiere nicht mehr. Die Polizeistation sei zerstört worden am 7. Oktober.

Sderot war bisher für mich immer der letzte Zwischenstopp vor Gaza gewesen. Oft kam ich zu spät zur Grenze und wollte den Weg nicht zurückfahren und immer wieder hatte ich feststellen müssen: Es gibt (immer noch) keine Unterkunft in Sderot, weil keiner will dort hin. Jetzt gibt es nicht einmal eine Polizeistation?

Rückkehr nach Sderot

Auch Sderot war am 7. Oktober 2023 überfallen worden von der Hamas. Rentner, die einen Ausflug hatten machen wollen, saßen in einem Bus fest, der just in dem Moment einen Platten hatte, als die Hamasleute in die Stadt strömten. Alle im Bus wurden erschossen. Ebenso die Eltern zweier Kinder in einem Auto. Ein palästinensischer Arbeiter, Beduine, rettete die Kinder und brachte sie zur Polizeistation, nicht wissend, dass die Hamas dort gerade ebenfalls ein Blutbad anrichtete. Die Kinder konnten in Sicherheit gebracht werden, der Beduine wurde ebenfalls getötet.

Ich hatte gehört, die ganze Stadt Sderot sei evakuiert und wie ausgestorben, so wie jetzt die Städte an der Grenze zum Libanon.

„Das ist jetzt nicht mehr so“, sagt Udi. Viele seien längst wieder zurückgekehrt.

Frage mich, frage ihn, wer eher zurückkommt, die Reichen? Die Armen? Die Schutzbedürftigeren, die Jetzt-Erst-Recht-Leute? Udi sagt: „Die Verschiedensten!“ Es sind nicht alle zurück, aber von allen möglichen Leuten jeweils sehr viele.

Will ich nach Sderot? Wo schlafen? Einmal hatte ich versucht in einem Kino zu schlafen während der Spätvorstellung, aber der Film hatte mich dann doch wach gehalten. Ein anderes Mal in einem der vielen Luftschutzbunker, die wie Bushaltehäuschen aussehen.

„Ich mag Sderot!“

„Fahr doch mit“, sagt Udi.

Ich hab gesagt „Geht nicht.“

So nah wie möglich

Wenige Minuten später kam die Whatsapp: Der Flug nach La Mancha-Lanarca-Rumänien-München sei gecancelt. Ein Augenblick heimlicher Erleichterung. Dann soll es so sein. Dafür kann ich nichts. Die leise Hoffnung, dass es doch für etwas gut sein könnte. – Ich weiß, aber selbst wenn es das erste Mal sein sollte, dass ich nicht nach Gaza komme, dann ist es zumindest eine Annäherung. Eine Ansichtssache von einem anderen Blickwinkel aus.

Die Nachtfahrt über die Autobahn. Dunkel-lila Wolkenberg. Ein Kleinbus mit dem aus graphischen Gründen in die Länge gezogenen Bild des Rabbis von Jerusalem auf der Hintertür. Udi ist zu höflich, im Auto zu rauchen, obwohl es mich gar nicht stört. Schweigen und dann doch der Zigarettendunst, der sich im Fahrtwind verliert. – Die Preise für Zigaretten in Gaza berechnen sich zurzeit pro Zentimeter. Eine ganze kostet 50 €. – Gespräche über Apartheid in Israel und das Land, aus dem Udis Eltern einreisten vor 30 Jahren, Äthiopien.

Udi sagt, er habe trotz aller Raketen, trotz des Schocks in der Kindheit, immer auch die andere Seite gesehen. Trotz der Nähe der Grenze, oder gerade deshalb; es habe sich nie wie ‚die andere Seite‘ angefühlt, immer wie etwas, das zum „Bigger picture“ gehöre. Wir sind fast da. Das Auto rumpelt über die Straße, plötzlich sehr unsanft. Als er erstmals nach dem 7. Oktober wieder in Sderot angekommen sei, habe Udi gedacht, etwas stimme mit seinen Reifen nicht, aber es war die Straße, die sich verändert hatte von den vielen Panzern, die hier fuhren, als der Krieg begann. Gegen ausdrücklichen Protest findet er mir doch noch ein Airbnb für die Nacht. Sehr teuer. Ein ganzes Apartment. Vielleicht ein verlassenes? Eine jüdische Frau mit Turban gibt mir den Schlüssel und schien erleichtert, dass ich der Gast war und nicht der schwarze Fahrer. In ein Bett gefallen und sofort geschlafen. Kein Traum. Kein Nichts. Alles dunkel.

Miriam Sachs ist Theatermacherin und Autorin. Ihr Debüt-Roman Reise nach Jerusalem oder 141 Tage Warten auf Grünstein erschien 2005 bei Edition Nautilus. Aktuell reist sie mehrere Wochen durch Israel, um mit den Menschen über den 7. Oktober zu sprechen. Ihre Erfahrungen und die Gespräche veröffentlicht sie im Tagebuchformat auf ihrem Blog.

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