Israel-Tagebuch: Raketen oben jener Jerusalemer Alststadt

Versuch einer Fahrt nach Ramallah am frühen Morgen. Ich hatte gedacht, ich wüsste noch, wo von Ost-Jerusalem der Bus in Richtung Ramallah abfährt, aber Google Maps zeigte andere Wege. Wo bin ich, wo war ich? Und warum verortet Maps mich auf einmal in … Amman? Der Fingerdruck auf das „mein Standort-Icon“ im Handy katapultiert mich am Toten Meer vorbei nach Jordanien und behauptet, ich befände mich in der Nähe des Flughafens des Nachbarlandes?

Ärgere-Dich-Nicht-Odyssee zurück nach West-Jerusalem, um die Route in Ruhe im Hostel zu checken. Zweiter Versuch in der Mittagshitze: Brachland und ghettoartige Hochhäuser im Grenzbereich des Übergangs Qalandiya. Wachtürme und Mauer erinnern an „die Mauer“. Auf Westbank-Seite ist sie in grau-blau-schwarz-Tönen bemalt: Arafat. Vereinzelte Autos stehen direkt „an der Wand“ und sehen nicht geparkt aus, sondern als wären sie dort vergessen worden. Musste an den gemalten Trabi, der die Berliner Mauer durchbricht, denken. Vielleicht verfuhr er sich auch und landete hier.

Es wäre leicht gewesen, von der Grenze aus ein Sammeltaxi nach Ramallah zu nehmen, aber ich wollte ein paar Schritte gehen. Seitengasse der Verkaufs-Hauptstraße. Schwindelerregende Wohnblocks. Eine rosae Puppe fiel aus einem Fenster. Kollateralschaden eines Geschwisterstreits? Ich sah nach oben, aber niemand war zu sehen. Hob die Puppe auf. Ließ sie doch liegen. Ging wieder. An die Wand vor dem Wohnblock hatte jemand geschrieben: „Jossef passed from here“. Nicht klar, ob ein Jussuf / Jossef /Jospeh dies schrieb über sich oder irgendein anderer hier vorüberging. Vielleicht der aus dem Alten Testament, der hier aus irgendeinem Brunnen geklettert ist oder in einem seiner Träume verloren ging. Es gibt ihn auch im Koran, „Joseph war hier“ blieb mir im Gedächtnis, weil es heute der konkreteste Haltepunkt war. Hilfreicher als meine mutmaßliche Anwesenheit in Amman.

Zur Grenze und zurück

Kam nicht bis Ramallah. Hatte die Einladung eines Verkäufers angenommen, der vor einem Geschäft für Kacheln und Wandverkleidungen stand, als ich „passierte“. Zu müde gewesen, um „very good coffee!“ abzulehnen, dann hellwach, weil er sagte, der Grenzübergang Qalandiya sei gerade geschlossen worden, „aber nur vorübergehend.“

Ich hing hier schon mal an der Grenze fest, 2019. Damals war ein Junge erschossen worden und alles war voller Tränengas. Mitfahrgelegenheit über die Grenze auf Umwegen genutzt. Ramallah ein andermal. Es wurde schon dunkel, als ich zurück am Damaskus Gate war, das noch auf der arabischen Seite von Jerusalem liegt; dachte ein Abendspaziergang von dort zum westlichen Jaffator durch die Altstadt wäre ein schöner Abschluss des Tages.

Vor dem Tor stand ein Bus, aus dem überraschend viele Soldaten kamen. Ein ganzer Pulk stand bereits hoch konzentriert ebenfalls unweit des Tores. Die Soldaten sind auch sonst überall im Stadtbild, in den vollen Bussen, mit Einkaufstüten und Maschinengewehr bepackt, und man kann nicht anders als sich fragen, ob das Gewehr, das einem gerade in den Rücken piekst, auch wirklich gesichert ist. Aber erstmals sah ich so viele auf einmal in Reih und Glied. Ich hatte sie bereits vergessen, im Gewirr der Altstadt-Gassen. Kaum geöffnete Läden? Ohne die Auslagen zu sehen (je nach Quartier arabischer, christlicher, jüdischer Kram) war ich wieder orientierungslos. „Where do you need to go?“, fragte ein arabischer Händler. Ich wollte aber nicht sagen wohin, ich wollte nur wissen, wo ich war. Fand schließlich selbst Richtung Jaffator.

Raketen wie Kometenschwärme

Da tauchten bereits die „Sterne“ am Himmel auf. Der Alarm hatte schon früher eingesetzt. Ich ging langsamer. Ein Soldat schrie und scheuchte die Leute unter einen Altstadt-Torbogen. Auf einmal lagen da auf den Knien dutzende Menschen am Boden, mit den Händen über dem Kopf.

Sah aus als ob sie beteten, aber es ist das, was man tun soll: zu Boden gehen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. In der Enge der dichtgedrängten Masse notgedrungen chaotisch: zu viele Hinterteile, zu sperrige Kopfbedeckungen. Eine alte Frau vergräbt ihr Gesicht. Orthodoxe Männer werfen ihre kugelförmigen Bäuche zu Boden. Andere Orthodoxe stehen würdevoll in schwarzweiß. Die meisten allerdings zücken Handies und starren in den Himmel – der Soldat schreit lauter, schubst die Leute zurück in die Sicherheit des alten Gemäuers. Die Sterne am Himmel, wie ein sehr dezentes Feuerwerk. Keines, das steil nach oben geht und verglüht, sondern eher ein Kometenschwarm, in Richtung Westen.

„There are hundrets of rockets over my head“, bespricht ein jüdischer Amerikaner sein Handy, er beschwört es förmlich: „Sharon, I need you to get on the phone. Go to the phone now…!“ Werden die Raketen abgefangen, verglühen sie zu zarten Staubwolke. Nicht einmal Funken schlagen sie. Sie vergehen einfach.

Die IDF-Leute sprachen von 250 Raketen aus dem Iran; es waren, das erfuhr ich hinterher, weniger. – Und stand ich tatsächlich direkt im Bogen des Jaffators? Ein archaischer, sehr solide wirkender Schutzraum.

Seltsame Verbundenheit

Es ist so schwer, die fliegenden Sterne am Himmel ernst zu nehmen, weil sie – vielleicht liegt es auch an dem uralten Mauerwerk im Vordergrund – so schön aussehen. Die Detonationen erzählen das Gegenteil. Leises Donnern kommt von den Abfangraketen. Wenn die Erde ein bisschen zittert und bebt, dann weiß man, dass sie irgendwo eingeschlagen sind. Später habe ich gehört, dass es Militär-Stützpunkte waren. Spürt man das dann trotzdem hier und jetzt? Die Antwort auf die begonnene Bodenoffensive und die Tötung des Hisbollah-Anführers Nasrallah. Es wird nur der Auftakt sein.

Ganz plötzlich gingen alle der versammelten auseinander, wie ferngesteuert. Weit kam ich nicht. Ich nahm den Weg, der an der Außenmauer der Altstadt-Festung entlang führt. Unten an der großen Straße kam die zweite Welle:

In der Höhe eines größeren Hotels ging der zweite Alarm los. Ich wollte weitergehen, aber ein alter orthodoxer Jude mit weißem langen Bart und Ohrstöpseln in den Ohren, die ihn auf dem Laufenden hielten, winkte mich heran. Wieder stand ich unter einem Torbogen, einem seltsamen Konstrukt von Glas und Beton. .– Wird das Glas nicht splittern im Falle einer Detonation in der Nähe. Wieder die seltsam fatalistische Ruhe. Gedanken an meinen Vater, Kriegskind; Bombennächte 1943, die er so genau beschrieb. Immer wieder. Minutiös. Das Bedürfnis, Vergleiche zu ziehen zwischen den Raketen in Gaza und den Sternen am Himmel hier und jetzt. Hier sehen sie schöner aus. Hier schützt der Iron Dome.

Ein dürrer streunender Hund läuft die leere große Straße entlang, die zum unterirdischen Tunnel wird. Er verschwindet im Untergrund, die Stadt wirkt einen Augenblick wie ausgestorben. Dann setzt der Verkehr wieder ein. Aufheulen des Hundes dann Stille und dann der Lärm des Verkehrs. Ich frage den bärtigen Mann „Can we go now?“ Aber er verstand kein Englisch und er wollte wohl auch nicht unbedingt sprechen. Aber eine seltsame Verbundenheit war doch da. Schweigendes Warten. Er ging erst, als ich dann doch ein klares Also-Ich-Geh-Dann-Mal-Signal gab; da ging auch er. Vielleicht hätte er sich längst auf den Weg gemacht und wollte nicht los, bevor ich so weit war. Dann aber schritt er schnell von dannen.

Wieder an meinen Vater gedacht.

Miriam Sachs ist Theatermacherin und Autorin. Ihr Debüt-Roman Reise nach Jerusalem oder 141 Tage Warten auf Grünstein erschien 2005 bei Edition Nautilus. Aktuell reist sie mehrere Wochen durch Israel, um mit den Menschen über den 7. Oktober zu sprechen. Ihre Erfahrungen und die Gespräche veröffentlicht sie im Tagebuchformat auf ihrem Blog.

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