Bisher war Israel für mich immer die lange Anlaufstrecke auf dem Weg nach Gaza. Die letzte Reise nach Gaza, bzw. nach Israel hatte ich vor genau einem Jahr gebucht. Ich war Ende September nicht gefahren, Persönliches hatte sich dazwischen gedrängt. Dann brach der Krieg aus. Dieses Mal ist Gaza unerreichbar. Somit kann ich mehr Zeit in Israel verbringen.
Ich beginne diese Reise in Raten. Da die Ryanair-Direktflüge nach Tel Aviv gestrichen sind.
Zwischenlandung in Rom. Der um 4 Uhr früh relativ leere Flughafen Fiumicino.
Erst kurz vor dem Gate, von wo der Flug nach Tel Aviv aus startet (Israel scheint ein eigenes Gate-Areal für sich zu haben, das den Buchstaben „E“ trägt), steht eine lange Schlange von Leuten vor einem kleinen Espresso-und-Dolci-Stand. Ich hätte mich gerne in den Wartebereich gesetzt, aber schon wuchs die Schlange ins Unermessliche. Leute drängeln. Woher kamen plötzlich die grauschleirigen Nonnen, die jetzt vor mir warten? Ein Mann Ende 50, Anfang 60 kommt etwas außer Atem und müde heran gewankt und fragt, ob ich das Ende der Schlange sei und – als ich ja sage – ob er den Platz hinter mir behalten könne, auch wenn er sich erstmal im Wartebereich niederlasse? Er sei jetzt eine Stunde herumgeirrt, um das Israel-Terminal zu finden. Er sagt es so direkt und mit ehrlichem, aber unaufdringlichem Charme, dass ich mich prompt „No Problem!“ sagen höre, obwohl ich mich immer noch über die Nonnen vor mir ärgere.
Nach Israel, ausgerechnet jetzt
Nach einer Viertelstunde kommt der Mann wieder. Er wirkt italienisch, schwarzgraues Haar, Dreitagebart, etwas beleibt, sehr gelassen. Man kann ihn sich mit einem Strohhut vorstellen, aus dem Halme ragen. Der übliche Small Talk „Where do you come from? Germany??? Ausgerechnet jetzt?“
Ich habe nicht genau verstanden, ob er „ausgerechnet Germany“ meint oder „Aus Deutschland ausgerechnet jetzt?“
Möglicherweise wirke ich nicht so gelassen, aber das hat nichts mit „dieser Zeit“ zu tun, sondern mit der Uhrzeit und der grundsätzlichen Sorge, dass mein Rucksack zu groß und zu voll ist fürs Handgepäck.
„Du fährst ja auch nach Israel ,in dieser Zeit‘, stelle ich fest.“
Das sei etwas anderes, sagt er, er sei ja Israeli.
Ach, kein Italiener?
Nein, Alexander aus Moskau.
Wie schnell man prompt bei der Frage ist „Und, wie ist es jetzt so in Israel? Wie hat sich dein Leben seit dem 7. Oktober verändert?“
„Mein Leben hatte sich ein Jahr vorher bereits sehr geändert“, Israeli sei er nämlich erst seit Kurzem. Und zwar auf den Tag genau seit zwei Jahren: Am 18. September 2022 sei er nach Israel gekommen. „Vor Putin geflohen und vor dem Krieg.“ Israel sei da sehr großzügig. „Meine Mutter ist Jüdin, also bin ich Jude.“ Eine Rolle habe das vorher nie gespielt. Man habe ihn sehr willkommen geheißen, unfassbar viel Geld habe er erhalten, eine Wohnung in einem kleinen Ort in der Nähe von Haifa, mit wunderschönen Bergen, vielleicht ein kleines bisschen langweilig, aber sehr schön. „Perfekt!“ Es sei ihm sehr gut ergangen.
Und dann?
Alexander zögert, er wirkt, als lächele er über sich selbst.
„Sie wünschen mir den Tod“
„Seit dem 7. Oktober habe ich festgestellt, dass viereinhalb Millionen Menschen mich am liebsten umbringen wollen.“
„Bist Du sicher, dass es so viele sind?“
Er überlegt. „Nein.“ Aber laut einem Mann, den er gerade bei seinem Urlaub auf Malta beim Warten auf den Bus kennengelernt habe. Erst habe man Konversation gemacht, dann hätte er erwähnt, dass er aus Israel sei und der andere sei aufgebraust „Ich bin Palästinenser!“ Und habe ihm dann einen langen Vortrag gehalten. „Da habe ich gelernt, dass alle Palästinenser mir den Tod wünschen und meine neue Heimat eigentlich gar nicht existiert.“
Wir sind fast an der Reihe. Alexander begutachtet die Croissants mit den vielen Füllungen. Ich nehme eins mit Vanille-Creme. „Habt ihr denn im Bus nicht weiter geredet, der Palästinenser und Du?“
„Nein, es war der falsche Bus.“
„Wie, der falsche Bus? Ihr habt die ganze Zeit auf den falschen Bus gewartet?“
„Nicht der falsche, sondern halt nicht der richtige. – Jedenfalls ist er nicht in den Bus gestiegen. Es ist nicht relevant“.
Ich beiße ins Croissant und alle Italien-Urlaube meiner Kindheit sind wieder da. Alexander beißt in eine riesige Focaccia.
„Vielleicht ist es ja doch relevant. Irgendjemand sitzt vielleicht immer im falschen Bus. Oder kann nicht mit?“
Er lacht. „Vielleicht – oder es gibt einfach keinen Bus, in den wir beide passen.“
Der nächste Schutzraum
Wir schweigen eine Weile. Der Flug nach Tel Aviv ist bereits aufgerufen. Das Boarding beginnt. Seine Gelassenheit wirkt ansteckend. „Bist du trotz des 7. Oktobers gelassen geblieben?“
„Nein!“, sagt er, im Gegenteil.
Natürlich sei alles anders. Ihm sei plötzlich aufgefallen, dass seine Wohnung über keinen extra Schutzraum verfüge. Er habe dann seine Nachbarin, eine Einwanderin aus Rumänien, fragen wollen, ob er im Fall eines Angriffs ihren Raum mitbenutzen könne. Aber sie habe die Tür nicht geöffnet. Er habe noch gewartet, nochmal geklingelt, da sei bereits jemand von der Security gekommen. Die Frau hatte gedacht, er sei jemand von der Hamas.
„Ich hab sie dann später gefragt und sie hatte gesagt, ja, aber nur tagsüber. Der Raum bestand fast nur aus einem Bett; ich beschloss, mich nach einer anderen Möglichkeit umzusehen, aber als dann nachts die Sirene ging, und – na du weißt schon, eine „Rocket Attack“ kam …“
„Was?“ – ich weiß nicht, was er meint, denn er spricht das Wort so schnell, dass ich nur „Ragge-da-dagg“verstehe.
„Ragedagdag?“
„Genau. Ragedadag!“ Da habe er gemerkt, dass ihm alles egal war. Anstandsregeln und so. „Keine 30 Sekunden und ich hämmerte an ihre Tür.“
Ich sitze mittlerweile am Meer. Stadtstrand zwischen Tel Aviv und dem alten Yafa. Ich wüsste jetzt nicht, bei welcher Nachbarin ich klopfen könnte … Dass es gar nicht erwähnt wird, wenn man ins Hostel eincheckt. Die Stadt pulsiert wie immer. Party am Strand. Ein „Food-Festival“, einen Yogakurs mit Musik, einen Surfkurs hätte ich sofort mitmachen können. Ich bin etwas weiter weg von der City den Strand entlanggegangen und habe versucht, das Wort „Rocketattack“ so oft und so schnell hintereinander zu sagen, dass es seinen Sinn verliert.