Iran | Wachablösung im Iran: Herbst welcher Entscheidungen

Allein in Teheran sollen demnächst 80.000 neue „Sittenwächter“ den Kopftuchzwang durchsetzen. Derzeit sieht man im Straßenbild wieder mehr Frauen, die diese Regel komplett ignorieren oder das Tuch lediglich als modisches Accessoire tragen. Noch im Mai hatte der Nationale Sicherheitsrat ein Gesetz gestoppt, mit dem das Parlament die Kleiderordnung verschärfen wollte. Die neuen Sittenwächter sind daher nicht nur ein staatliches Jobprogramm für regimetreue Anhänger. Sie zeugen auch von veritablen Machtkämpfen nach dem Juni-Krieg mit den USA und Israel sowie den jüngst verschärften Sanktionen.

Stromausfälle und Wassermangel gehören seit Jahren zum Alltag in einem Land, dessen Energiereserven zu den größten der Welt zählen. Die Inflation hat seit dem Krieg ein Rekordhoch erreicht. Nach offiziellen Angaben lebt heute mehr als ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Das entspricht in etwa dem Armutsniveau gegen Ende der Schah-Diktatur 1979. Nur dass die Bevölkerung von damals 40 auf heute über 90 Millionen gewachsen ist. Damit hat die Islamische Revolution eines ihrer wichtigsten sozialen Versprechen – Würde und Wohlstand für die Entrechteten – nicht eingelöst. Im Gegenteil, die Zahl derer, die im Iran einfachste Grundbedürfnisse nicht befriedigen können, hat sich in den 45 Jahren der Islamischen Republik mehr als verdoppelt.

Laut Umfragen des niederländischen GAMAAN-Instituts, das sich mit Online-Umfragen im Iran einen Namen gemacht hat, liegt die Zustimmungsrate für die Islamische Republik bei mageren 20 Prozent. Die Mehrheit der Iraner will einen politischen Wandel. Das überrascht nicht. Der Iran hat in den vergangenen Jahren wirkungsvolle Proteste erlebt. Zuletzt die „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022.

Option starker Mann

Eine starke und im Widerstand zur Mullah-Herrschaft geeinte Opposition, die diesen Wandel erzwingen könnte wie 1979/80 den Sturz des Schah-Regimes, gibt es gleichwohl nicht. Auch das spiegeln die Umfragen wider. Zwar unterstützt eine 89-prozentige Mehrheit eine Hinwendung zur Demokratie, gleichzeitig sind 43 Prozent offen für einen starken Mann, der den Iran mit fester und starker Hand aus der Krise führt. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Forderung nach einem „normalen Leben“, ohne im Alltag gegängelt zu werden, ohne Inkompetenz, Misswirtschaft und Korruption, ohne Günstlingswirtschaft. Auch ohne eine messianische Außenpolitik, die Ressourcen vergeudet und der Jugend des Irans die Zukunft stiehlt.

Natürlich leidet die iranische Wirtschaft unter den Sanktionen. Bis auf Kuba gibt es kein anderes Land weltweit, das so lange und so gründlich vom globalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf suspendiert wurde wie der Iran. Politisch haben diese Strafakte indes fast nichts bewirkt, weil sie vorrangig Lohnabhängige sowie kleine und mittlere Unternehmen trafen. Wohingegen die Mächtigen im Staat und bei den Revolutionsgarden immer wieder Wege fanden, die Sanktionen für sich profitabel zu umgehen. Das war für die öffentlichen Haushalte teuer und hat Handelsströme verschoben. Aber es wurde nicht verhindert, dass der Iran sein Atomprogramm vorantreiben und regionale Alliierte aufrüsten konnte.

Die von der Europäischen Union jüngst verhängten verschärften Sanktionen werden daran wenig ändern. Die EU schadet sich damit selbst. Der Anteil Asiens am iranischen Außenhandel beläuft sich momentan auf gut 70 Prozent und wird weiter steigen. Wo sich Brüssel durch die Sanktionen zur Untätigkeit verurteilt, übernehmen chinesische Investoren. Ein auf 25 Jahre angelegtes Handelsabkommen zwischen Teheran und Peking sichert Milliarden-Zuflüsse in die iranische Gas- und petrochemische Industrie. Eine Konsequenz der Sanktionen ist darüber hinaus mehr subjektive Abhängigkeit vom politischen System. Wer sein Geschäft aufgeben muss oder arbeitslos wird, kann versucht sein, als Sittenwächter anzuheuern, um sich und die Seinen auskömmlich über Wasser zu halten.

Wachablösung in der Islamischen Republik

Der Zwölf-Tage-Krieg Ende Juni hat dahingehend Widersprüche offengelegt und zugleich relativiert. Die meisten Iraner hatten für die Auslandsabenteuer der Revolutionsgarden (Pasdaran) wenig Sympathie. Sie galten als reine Geldverschwendung. Und der staatliche Märtyrerkult traf nur noch auf zynische Verzweiflung. Als mit dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien Ende 2024 und der militärischen Niederlage der Hisbollah im Libanon regionale Partner zu Schaden kamen, regte sich in den Straßen und Basars Teherans kein großes Bedauern. Mit den israelischen und US-Angriffen allerdings kippte die Stimmung. Diese Intervention wurde als Demütigung empfunden, befeuert von einer Propaganda, der es leichtfiel, die nationalpatriotische Karte zu spielen.

Vor diesem Hintergrund steht die Islamische Republik vor einer unvermeidlichen Wachablösung an der Spitze ihres theokratischen Systems. Formal ist das Prozedere klar: Wenn der 86-jährige Revolutionsführer Ali Chamenei die irdische Bühne verlässt, entscheidet ein 88-köpfiger Expertenrat aus islamischen Gelehrten über seinen Nachfolger. Der muss laut Verfassung ein Mann sein, der als schiitischer Rechtsgelehrter über die religiöse und politische Autorität verfügt, die Islamische Republik mit ihren weltlichen Institutionen letztinstanzlich zu führen. Das ist der Kern der von Ayatollah Khomeini mit der Islamischen Revolution von 1979 etablierten Theokratie und Doppelherrschaft.

Diese Ordnung wird mit der Suche nach einem künftigen Revolutionsführer womöglich in Frage gestellt. Verläuft sie nach dem beschriebenen Szenario, entscheidet der Expertenrat. In diesem Fall würde sich der Machtkampf zwischen Hardlinern und Reformern wiederholen, den die Iraner aus den Wahlkämpfen um das Präsidentenamt kennen. Mit dem Unterschied, dass es diesmal um die ultimative Spitze im theokratischen System geht. Als klerikale Reformkandidaten gelten der ehemalige Präsident Hassan Rohani und der Enkel des Staatsgründers, Hassan Khomeini.

Pasdaran sind der Königsmacher

Beide werden mit einer „chinesischen Lösung“ in Verbindung gebracht. Das meint einen schrittweisen Wandel von der Theokratie zur Technokratie mittels pragmatischer Liberalisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Hinzu käme eine moderatere Außenpolitik ohne Verzicht auf die revolutionäre Ideologie. An dieser Agenda sind bereits drei Reform-Präsidenten gescheitert: Rohani selbst (2013–2021), Haschemi Rafsandschani (1989–1997) und Mohammad Chatami (1997–2005). Ein neuerlicher Versuch – diesmal von ganz oben – würde auf dieselben Schwierigkeiten stoßen, freilich mit größeren Chancen für eine politische Liberalisierung und eine Einigung im Streit um das Atomprogramm.

Die theologische Hardliner-Fraktion hatte mit Ex-Präsident Ebrahim Raisi lange Zeit einen aussichtsreichen Favoriten. Der starb im Mai 2024 bei einem Hubschrauberabsturz. Seither gilt bei den Erzkonservativen Ali Chameneis 56-jähriger Sohn Modschtaba als populärster Kandidat. Nur fehlt es dem nicht nur an Erfahrung im Regierungsgeschäft – er wäre auch mit dem Makel einer quasidynastischen Nachfolge belastet. Deshalb kursieren weitere Namen von Personen, die ein Revolutionsführer von Gottes und von der Revolutionsgarden Gnaden wären. Denn die Pasdaran sind der Königsmacher im Kampf um die Nachfolge Ali Chameneis. Kein Kandidat wird gegen ihren Segen ernannt werden und regieren können. Als Staat im Staate sind sie die maßgebende Militär-, Wirtschafts-, Finanzmacht, aber kein monolithischer Block. Manche vergleichen sie mit rivalisierenden Clans, die den Staat gekapert haben, doch das greift zu kurz.

Sollte im Zuge der Chamenei-Nachfolge eine krisenhafte Situation eintreten und es beispielsweise zu Unruhen und gar Aufständen kommen, ist damit zu rechnen, dass die Garden ein Urteil des Expertenrates gar nicht erst abwarten oder ignorieren. Sie könnten einen eigenen Kandidaten als Retter in der Not inthronisieren. Das wäre dann der „starke Mann“, der die Doppelherrschaft beendet und den Iran in ein autokratisches Regime mit nationalistischer Ausrichtung verwandelt. Das Ergebnis könnte eine Militärherrschaft nach pakistanischem Vorbild oder eine „russische Lösung“ in ziviler Gestalt sein.

Iran wäre prädestiniert als regionaler Mediator

Doch auch wenn die Pasdaran nicht direkt eingreifen, werden sie Teherans Politik weiter bestimmen. Ein einflussreicher Flügel will die gescheiterte Strategie der regionalen Stellvertreter wiederbeleben. Dabei geht es um Ideologie, vor allem aber um militärische Macht und Devisen. Allein in Syrien hat die Auslandsabteilung der Pasdaran in Militärbasen, zivile Infrastruktur und Moscheen geschätzte 30 bis 35 Milliarden Dollar investiert, die man nicht abschreiben will. Um bei den regionalen Ambitionen zu bleiben, brauchen die Hardliner das Phantom nuklearer Abschreckung. Das heißt, sie werden im Atomstreit nicht nachgeben.

Der gemäßigtere Pasdaran-Flügel hingegen liest die Zeichen der Zeit anders und ähnelt damit den systeminternen Reformern. Sie wollen den Iran an der Seite Chinas und Russlands in eine neue, multipolare Regional- und Weltordnung führen, die dem Land erkennbare Entwicklungschancen bietet – und den Pasdaran perspektivisch Einfluss wie ökonomischen Profit sichert. Wollte die Islamische Republik in ihrer Außenpolitik einen Kurswechsel vollziehen, wäre sie geradezu prädestiniert, ein ähnlicher regionaler Mediator zu sein, wie es die Türkei in der aktuellen Umbruchsituation (siehe Gaza) anstrebt. Mit dem Unterschied, dass Teheran das Potenzial hätte, auf einem solchen Weg in eine politisch neu sortierte G20-Liga aufzusteigen.

Dazu bräuchte es dann definitiv eine nukleare Option, die eindeutig und nachprüfbar ziviler Natur ist. Für die Atomverhandlungen wäre das eine neue Chance. Selbst wenn die sich auch nur ansatzweise abzeichnet, sollten die Europäer viele Extrameilen gehen, um den Weg für direkte Gespräche zu ebnen. Alles andere wäre mehr als fahrlässig.

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