Interview | „Es wird zu Gewalt kommen“

Cynthia Miller-Idriss forscht zu Rechtsextremismus in den Vereinigten Staaten. Mit Blick auf die anstehenden Midterms warnt sie vor zunehmender Gewalt und dem Vertrauensverlust in demokratische Institutionen.

Mit dem Angriff auf Paul Pelosi, den Ehemann der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, hat die Gewalt In Amerika unmittelbar vor den Midterms eine neue Dimension erreicht. Was ist der Zustand der amerikanischen Demokratie? Wie bedrohen Rechtsextreme die US-Gesellschaft und welche Strategien gibt es, die Demokratie zu schützen? Darüber konnte Gesicht Zeigen! mit Cynthia Miller-Idriss ein Interview führen. Miller-Idriss ist preisgekrönte Buchautorin und eine der wichtigsten Expert*innen in den Vereinigten Staaten zu Fragen von Extremismus und Radikalisierung. Sie ist Gründungsdirektorin des Polarization and Extremism Research & Innovation Lab (PERIL) an der American University In Washington, D.C.

Gesicht Zeigen!: Frau Miller-Idriss, wie wahrscheinlich wird es bei den kommenden Wahlen friedlich bleiben?

Cynthia Miller-Idriss: Leider wird es zu Gewalt kommen. Die meisten Amerikaner*innen sind darüber sehr besorgt. Wir befinden uns derzeit unbestreitbar in einer echten Krise.

Haben die Menschen noch Vertrauen in die Demokratie in den Vereinigten Staaten?

Viele Menschen haben das Vertrauen in das System verloren. Ich persönlich habe beispielsweise jegliches Vertrauen in die Arbeit des Obersten Gerichtshof verloren, weil die zuletzt unter Ex-Präsident Trump ernannten Richter*innen gelogen haben, um auf den Richterstuhl zu kommen. Vor ihrer Berufung haben sie in Befragungen ausgesagt, Roe vs. Wade sei geltendes Recht und würde nicht angetastet werden. Und dann, kaum waren sie im Amt, haben sie das Urteil aufgehoben. Für mich als jemanden, die an die Demokratie glaubt, ist der Oberste Gerichtshof leider nicht mehr demokratisch.

Aber es geht nicht nur um die Neubesetzung von Richter*innen am Obersten Gerichtshof?

Nein! Wir können derzeit eine größere, konzertierte Anstrengung von rechten Kräften beobachten, das politische System der Vereinigten Staaten zu unterwandern. Diese Strategie wird als entry-ism bezeichnet: Rechte und rechtsextreme Kandidat*innen kandidieren beispielsweise gezielt bei Kommunalwahlen, für einen Platz im Schulausschuss oder für Richterämter, um konservativere, extrem konservative und rechtsextreme Ansichten durchzusetzen und diese zu verankern.

Mindestens ebenso problematisch ist die Untergrabung von Fakten und Fachwissen und die Verbreitung der Vorstellung, dass es alternative Fakten gäbe. Dies führt im Ergebnis dazu, dass die Menschen nicht mehr an Wahlen glauben, es sei denn, ihr*e Kandidat*in gewinnt. Es gibt keine gemeinsame Grundlage mehr für das gemeinsame Verständnis, dass etwas wahr ist. Dass man die Ergebnisse einer Wahl einfach nicht akzeptiert, weil man nicht glaubt, dass sie gültig sind, ist ziemlich schockierend.

Hängen die politische Überzeugung und das Vertrauen in die Demokratie denn zusammen?

Diese Entwicklungen geschehen definitiv nicht unabhängig von der politischen Zugehörigkeit. Wir haben ein starkes Maß an steigender moralischer Entfremdung voneinander und vom demokratischen Miteinander, was dazu führt, dass man den anderen, das Gegenüber, als böse ansieht. Diese Sichtweise wirkt entmenschlichend. Man ist nicht nur gegen den anderen, sondern sieht den anderen als wirklich böse, als Feind.

Vier Jahrzehnte lang war die größte Trennungslinie im Land die Kategorie race, die größte Trennungslinie war, ob dein Kind jemanden einer anderen race heiraten würde. Jetzt will niemand mehr, dass sein Kind eine*n Unterstützer*in der anderen Partei heiratet. Diese Polarisierung ist auf Seiten der Linken fast genauso stark zu spüren wie auf Seiten der Rechten. Es gibt immer mehr Gewaltaufrufe, wir haben aber auch zunehmend sehr hohe Waffenkaufraten durch liberal und links eingestellte Menschen. Die LGBTIQ-Community ist zum Beispiel eine der Gruppen, die sich zunehmend bewaffnet und argumentiert, dass man Waffen zum eigenen Schutz haben muss.

Welche Rolle spielt die republikanische Partei in diesem Prozess der Polarisierung?

Unter republikanischen Wähler*innen ist die moralische Entfremdung vom demokratischen Miteinander deutlich stärker ausgeprägt. Sie sind eher der Meinung, dass politische Gewalt gerechtfertigt ist, und sie sagen eher, dass sie das Ergebnis der nächsten Wahl nicht akzeptieren werden, wenn ihr*e Kandidat*in nicht gewinnt. Die republikanische Partei ist von rechten und rechtsextremen Politiker*innen gezielt unterwandert worden. In der Partei finden sich heute antidemokratische, rassistische sowie christlich-radikale und misogyne Strömungen, aber auch Anhänger*innen der QAnon-Verschwörungstheorie, von denen mehr als zwei Dutzend zu den anstehenden Midterm-Wahlen für einen Sitz im Kongress kandidieren.

Wie schaffen es diese Strömungen zusammenzuarbeiten? Radikale Christ*innen oder Rechtsextremist*innen sind ja durchaus sehr unterschiedliche Kräfte mit unterschiedlichen Zielen. Worin liegt die Stärke der Rechten in den Vereinigten Staaten?

Ihre große Stärke liegt in der Mobilisierung auf Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners. Am 6. Januar konnte man sehen, wie es gelang, all diese Gruppen zu vereinen, die normalerweise nie zusammenarbeiten würden. Die Milizgruppen waren da, aber auch weiße Rassist*innen, die Proud Boys, die QAnon-Anhänger*innen und all die normalen Trump-Wähler*innen. Sie haben sich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt, in diesem Fall Desinformation und die Ablehnung der Wahlergebnisse.

Die Ereignisse rund um den 6. Januar, aber auch rund um die Unite the Right-Kundgebung in Charlottesville, haben gezeigt, dass diese Gruppen spontan mobilisiert werden können und bereit sind, sich an gewalttätigen Auseinandersetzungen zu beteiligen. Die Bereitschaft, mit Gewalt für die eigenen Ziele zu kämpfen, ist sehr stark gestiegen. Die Angriffe auf Wahlhelfer*innen, auf Mitarbeiter*innen aus dem Gesundheitswesen oder auf die Betreiber von Abtreibungskliniken, das alles ist sehr alarmierend.

Welche Ideen gibt es denn, ein weiteres Erstarken der Rechten zu verhindern? Ist ihr Siegeszug noch zu stoppen?

Ende 2018 traf ich eine Kollegin vom Southern Poverty Law Center, die meinen Rat brauchte. Sie fragte, was es bräuchte, ein bundesweit einheitliches Interventionsprogramm zu entwickeln, um die Radikalisierung vor allem von Jugendlichen zum Rechtsextremismus erfolgreich zu verhindern.

Ich war begeistert von dieser Frage und schlug vor, gemeinsam mit verschiedenen Expert*innen ein Brainstorming zu machen. Aber nicht mit den üblichen Expert*innen aus den Sicherheitsbehörden, sondern mit denjenigen, die sich wirklich mit Rassismus in unserem Land auskennen, mit Eltern, Jugend- und Sozialarbeiter*innen sowie Lehrer*innen, um sie dazu zu bringen, Ideen zu entwickeln, die in der Lage sind, gefährdete Jugendliche tatsächlich zu erreichen. Drei Tage lang saßen wir zusammen und sammelten unsere Ideen, anschließend gingen wir eine Partnerschaft mit dem SPLC ein und gründeten das Polarization and Extremism Research and Innovation Lab.

Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus? Welche Ziele verfolgen Sie?

Keiner von uns kommt ursprünglich aus dem Sicherheits- oder Strafverfolgungsbereich – allein das ist ein Novum, da aus diesem Bereich der Großteil der Ansätze zum Umgang mit Radikalisierung stammt. Unsere Arbeit hat drei Ansätze:

Zum einen verfolgen wir einen digitalen Aufklärungsansatz. Ziel dieses Ansatzes ist es, Menschen über Propaganda, Desinformation oder Verschwörungstheorien aufzuklären, bevor sie damit in Berührung kommen. Wir zeigen und erklären ihnen die Funktionsweise, wie manipulativ sie sein kann, damit sie diese selbstständig erkennen, verstehen und zurückweisen können. Die Aufklärung wirkt dann wie eine Impfung und macht die Menschen immun gegen den Versuch, ihre Meinung zu manipulieren. Eine Zielgruppe, mit der wir gerne zusammenarbeiten wollen, sind Veteran*innen der US-Armee. Rechtsradikale Gruppierungen wie die Oath Keepers oder die Three Percenters versuchen gezielt, Ex-Soldat*innen zu rekrutieren – also müssen wir dagegenhalten und die Soldat*innen aufklären.

Der zweite Ansatz zielt darauf ab, die existierende internationale Forschung, die es bereits gibt, für den US-Kontext nutzbar zu machen, um Ideen und Werkzeuge für Kommunen, Schulen, aber auch Eltern, Jugend- und Sozialarbeiter*innen zu entwickeln.

Darüber hinaus versuchen wir, die internationale Vernetzung zur Rechtsextremismusprävention zu stärken. Zwischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden, aber auch zwischen Nachrichtendienste gibt es weltweit so viel Austausch zu allen möglichen relevanten Fragen! Sie tauschen ständig Informationen aus. Einen international vernetzten Austausch zur Rechtsextremismusprävention zwischen Lehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen gibt es dagegen nicht, das wollen wir ändern, um Ideen, Erkenntnisse und Strategien darüber auszutauschen, was effektiv funktioniert. Warum sollten wir Prävention nur vom Standpunkt der Strafverfolgung denken und diesen Institutionen den Diskurs überlassen?

Wo sehen Sie die Unterschiede zu Deutschland?

Deutschland ist uns in vielem zwanzig Jahre voraus! Maßnahmen zur Prävention funktionieren in Deutschland zudem vollkommen anders. In den Vereinigten Staaten gab es bislang eigentlich keine Präventionsarbeit. Der sicherheitszentrierte Diskurs führt dazu, dass sich vieles um die Frage dreht, wie man weiche Ziele besser schützen kann, also beispielsweise, wie Gotteshäuser und Schulen so ausgestattet werden können, dass sie sich bei einer Gewalttat gegen Täter verbarrikadieren können.

Das US-Heimatschutzministerium und die US-Regierung insgesamt fokussieren vor allem auf die Verhinderung von Gewalt, über die Radikalisierung der Gesellschaft sprechen sie nicht. Es gibt in den Vereinigten Staaten keinen Ansatz, der darauf abzielt, Menschen daran zu hindern, sich zu radikalisieren, denn das wäre nach Ansicht der Regierung ein Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger*innen. Hier versuche ich mit meiner Arbeit anzusetzen und die politischen Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass es wichtig und notwendig ist, Menschen vor Verschwörungstheorien oder Desinformationen effektiv zu schützen.

Wie gefährlich ist Ihre Arbeit?

Ein Büro oder Räume, die von der Straße aus zu erkennen sind, könnten wir nie haben. Ich weiß nicht, ob Sie angegriffen werden, aber die Gefahr, angegriffen zu werden, ist für uns sehr real. Wir haben keine öffentlich zugängliche Postanschrift, dafür aber Panikknöpfe in unseren Büroräumen. Für die Arbeit, für daheim, aber auch für jeden ganz persönlich ist es notwendig, Absicherungsmaßnahmen zu treffen, um nicht zur Zielscheibe zu werden!

Das Interview wurde durchgeführt von Philipp Jedamzik (Pressesprecher bei Gesicht Zeigen!) und Gionathan Lo Mascolo (Referent Rechtsextremismusprävention bei Gesicht Zeigen!). Gesicht Zeigen! ist Mitglied des Kompetenznetzwerks Rechtsextremismusprävention der Bundesregierung, www.gesichtzeigen.de

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