„Intervention!“ und „Serge“: Schweiger und Quassler

Schweiger und Quassler – Seite 1

Jens Harzer, dieser wundersam beim Spielen über die Sprache selbst nachdenkende Bühnenkünstler, schafft es fast immer, noch den banalsten Dialogen Zauber, Unschuld, Dringlichkeit zu geben. Doch, um es gleich zu sagen: Hier stößt auch er an seine Grenzen. Intervention! heißt das Stück, vor dem sogar er kapitulieren muss – eine Familienkomödie, also ein Abrechnungsstück, in dem drei Generationen von irgendwie verwandten oder im Hass unzertrennlichen Leuten einander den Prozess machen. Eigentlich wollen sie einem Kind der Familie, dem fahrlässigen Drogenkonsumenten und werdenden Vater Jannis, in Form einer dringenden kollektiven Ermahnung auf den richtigen Lebensweg zurückhelfen. Doch Jannis taucht am verabredeten Abend gar nicht auf, und so zerfleischen sich im bürgerlichen Wohnzimmer die Alten gegenseitig.

Der Regisseur Leander Haußmann und der Musiker, Komponist und Schriftsteller Sven Regener (Chef der Band Element of Crime) haben das Stück gemeinsam geschrieben, und Haußmann hat es jetzt am Thalia Theater in Hamburg urinszeniert. Es schwebte den beiden wohl eine Komödie vor, die sich im Lauf des Abends in ein magisch-groteskes Erkenntnisstück verwandeln sollte – worin die Familie als unsterbliche Theatertruppe deutlich wird, die immer wieder dasselbe Urdrama durchspielt und in der auch die Toten, als geheime Regisseure, ihren Platz haben. Doch für eine solche Genre-Verwandlung und -Vertiefung sind die Figuren zu flach, auch schöpfen sie viel zu sehr aus einem einzigen Sprachreservoir; sie klingen alle quälend ähnlich. Rasch baut sich Langeweile im Zuschauerraum auf. Da es Nullen sind, die hier miteinander abrechnen, kann man auf hohe Erkenntnissummen nicht hoffen.

Haußmanns und Regeners Stück lebt von der dauernden wechselseitigen Maßregelung und Beschämung der Figuren. Man führt einander vor, man steht sich nicht bei. Geredet wird im Achtsamkeitsjargon, doch durch diese glatte Sprachoberfläche stößt ganz anderes nach oben: die Lava der Eifersucht und der Rache. In diesen Momenten, da ihre Figuren die Selbstkontrolle verlieren, erkennen die Autoren offensichtlich das Comedy-Gold, das sie dem Publikum üppig hinstreuen. Allerdings gewinnt ihr Stück durch die Ausschließlichkeit dieses Prinzips etwas ungeheuer Mechanisches: Man wartet nur darauf, dass einer sein „wahres Gesicht“ zeigt, ehe er es dann, als wäre nichts gewesen, wieder verhüllt.

Im Mittelpunkt des Schlamassels behauptet sich, in der Rolle des womöglich dementen Familienoberhaupts Markus, Jens Harzer. Da der Schauspieler das sprachliche Material des Stücks wohl gleich als hoffnungslos erkannt hat, rettet er sich – und ein Stück weit die Inszenierung –, indem er die Gewichte hin zum Clownsspiel verschiebt.

Immer mal wieder wendet er sich direkt ans Publikum – und entschuldigt sich für „alles“. So gibt er den beflissenen, in Schreckenszuckungen lebenden Prinzipal dieses Familienzirkusses. Als Proviant für die Gäste des Abends hat er einen großen Topf Grünkohl gekocht, und deshalb eilt er immer wieder mit großen Schritten hinaus in die Küche, die hinter einer Gazewand zu erkennen ist. In diesen Momenten wirkt er, als fliehe er zurück in glücklichere, vorsprachliche Zeiten, in die Ära des Stummfilms, zu Charlie Chaplin und Stan Laurel. Und selbst wenn er nur den Deckel vom Topf hebt und, zum Genuss entschlossen, den aufsteigenden Dampf mit der freien Hand zur Nase hinwedelt, haben seine Bewegungen etwas Maestrohaftes, er ist der Karajan des Familienherds. Ohne Worte gelingt hier, was der Dialog nicht schafft: eine Figur wird kenntlich. Dieser Mann, Harzers Markus, arbeitet an der Vollendung der Lebensform, wo ihm der Inhalt längst abhandengekommen ist. Möglich, dass er den Abend nur halluziniert, ja, dass wir, sein Publikum, gleichsam in seinem Kopf eingesperrt sind, denn am Schluss beginnt das Spiel von vorn – als habe Markus alles, was in den vergangenen drei Stunden geschehen ist, schon vergessen.

Unter den vielen Möglichkeiten, Familien zu charakterisieren, drängt sich, wenn man Intervention! gesehen hat, diese auf: die Unterscheidung zwischen Schweige- und Quasselfamilien. Haußmanns und Regeners Figuren gehören zu den Schwafelmonstern. Jeder kämpft hier um seine eigene Version der Wahrheit (auch Familiengeschichten werden von den Siegern geschrieben), aber mehr als eine trostlos selbstgerechte Schnippischkeit gewinnen sie alle nicht.

Das komplette Gegenprogramm zu dieser Truppe erlebt man 743 Kilometer Luftlinie südöstlich von Hamburg, in Wien am Akademietheater. Dort zeigen sie Serge, ein Stück, das auf dem gleichnamigen Roman von Yasmina Reza basiert und von Lily Sykes, die auch Regie führt, und dem Dramaturgen Andreas Karlaganis für die Bühne bearbeitet worden ist. Auch hier geht es um eine Familie, aber um eine, die mit ihrer Geschichtsschreibung abgeschlossen hat. Man befindet sich in der Abklingphase, im Verstummen. Abwinkend nehmen sie einander zur Kenntnis – Leute, die, wie sie alle suggerieren, zufällig, wenn nicht gar irrtümlich miteinander verwandt sind, im Innersten aber nichts miteinander zu tun haben.

Repräsentant einer höflichen Skepsis

Es ist eine jüdische Familie aus Paris, deren Mitglieder nach dem Tod der Mutter nach Auschwitz reisen, um – ja warum? Um die Gründe für das eigene Schweigen zu verstehen? Ihre Großeltern waren Holocaustüberlebende, aber darüber wurde nie gesprochen. Reisen die Nachfahren nun nur deshalb gemeinsam an den Ort der Vernichtung, da sie im eigenen Leben nicht weiterkommen? Lily Sykes inszeniert das alles, die Reise, den Aufenthalt in Auschwitz, die Rückkehr nach Paris, in einem Einheitsbühnenbild, das an ein Wartezimmer erinnert. Wir sehen: eine Familie, gestrandet auf der Insel ihres gemeinsamen Traumas. Selbst eine Insel-Palme (nun ja: eine Topfpflanze) ist vorhanden, in deren Stängeln die Urne mit der Asche der Mutter gleich zu Beginn festgeklemmt wird – wo sie für den Rest des Abends hängen wird, Symbol einer konsequenten Lakonisierung des Vorlebens und des Sich-Einrichtens im Nachleben.

Man hat den Eindruck, diese Familie umspiele immerzu die eigene Geschichte, sie weiche ihr aus, ungefähr so wie Freddie Frinton dem Tigerkopf ausweicht, über den er in Dinner for One dann doch dauernd stolpert – oder so wie die Figuren in Samuel Becketts stummem Spiel Quadrat I und II immerzu ein horribles Loch im Bühnenboden umwuseln.

Yasmina Rezas Humor entspringt laut ihrer eigenen Auskunft einer Skepsis gegen alle Formen menschlicher Gemeinschaft, vor allem gegen jene, die auf Vernichtungserfahrungen gründen. Die Autorin verkörpert, sehr kurz gesagt, eine grundsätzliche Welt- und Menschenmüdigkeit, eine Wesensart, die mit Esprit sich selbst über Wasser und ihr Publikum bei guter Laune hält.

Der Repräsentant dieser höflichen Skepsis ist auf der Bühne des Akademietheaters der aus Hamburg stammende Schauspieler Michael Maertens. Der Norddeutsche, der in Wien die Position des Publikumslieblings innehat, ist in doppeltem Sinn Moderator des Abends. Einerseits versucht er, die Familie zusammenzuhalten; andererseits überbrückt er die Distanz zwischen Bühne und Zuschauersaal.

Maertens ist der Erzähler. Seine Figur, Jean, erinnert sich und kommentiert. Und erweckt dabei stets den Eindruck, nur die Randfigur zu sein – auch seines eigenen Lebens. Den Verwandten dient er mit Eckermannscher Ergebenheit. Dabei ist er zutraulich gegenüber allen, vor allem aber gegenüber uns, seinem Publikum, zu dem er immer wieder, die Handlung verlassend, herausgrüßt. Als wolle er in zarter Resignation sagen: So sind wir nun mal, Intervention zwecklos. Seien Sie froh, dass Sie nicht dazugehören.

Wo in der Intervention! alle sich immerzu erklären, erklärt sich in Serge niemand mehr. Hier hat man das aufgegeben. Intervention! verkleinert das Leben zur Bagatelle, die keiner seriösen Erforschung bedarf, in Serge hingegen ist es ein Abgrund, in den man lieber nicht zu tief hineinblickt – was dem Stück etwas Vages, Unfertiges, Verzagtes gibt. In beiden Stücken kommen, als Boten aus dem Jenseits und als Mahnfiguren der Vergeblichkeit, auch die Toten und die Dementen zu ihrem Recht; ohne sie wäre keine Familie vollständig. Beide Stücke tarnen sich als Komödien, ohne dass man sagen könnte, was sie wirklich sind. Aber man ahnt: Verlustanzeigen sind beide.

Der Unterdruck von Serge und das pralle, lärmende Nichts von Intervention!: Irgendwo dazwischen müsste sie wohl zu finden sein, die große Komödie der Gegenwart über jene angeblich verschwindende Lebensform, die Familie. Für den Fall, dass sie einst geschrieben und sogar aufgeführt wird: Michael Maertens und Jens Harzer sollten dabei sein.

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