Initiative kompliz*: „‚Nazis raus‘ ist nicht nachhaltig“

Ein Hinterhof in Leipzig, hier hat der Maler David Schnell sein Atelier. An den Wänden hängen großformatige Malereien, die er ab Dezember im Mies van der Rohe Haus in Berlin zeigen wird. Carsten Möller, der Dokumentarfilme dreht und an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) lehrt, ist mit dem Klapprad gekommen, Doritta Kolb-Unglaub mit dem Auto. Später werden sie noch zur HGB fahren und einen Schwung Plakate ins Auto packen, die Kolb-Unglaub mit nach Plauen nimmt, wo die Pädagogin und Aktivistin lebt.

Alle drei sind Mitglieder des Vereins kompliz*, der von 2017 an entstand, um Engagierte aus Leipzig und dem ländlichen Raum zu verknüpfen. Wo der eigentlich anfängt, wird noch zu besprechen sein. Kolb-Unglaub jedenfalls ist mit dem soziokulturellen Verein colorido e. V. Plauen dabei, Möller mit der Leipziger Initiative Kino in Bewegung, Schnell mit dem Verein Land in Sicht. 140 Initiativen und Einrichtungen aus Sachsen machen inzwischen mit, es gibt regelmäßige Aktionstage, bei denen die kompliz*innen sich vernetzen, voneinander lernen und gemeinsame Projekte anstoßen.

So entstand auch die Idee zu #machdeinkreuz: Künstler*innen aus Leipzig haben Plakate gestaltet, die dazu auffordern, bei den Kommunalwahlen in Sachsen und der Europawahl am 9. Juni wählen zu gehen. Woher nehmen die drei den Optimismus, dass sie damit etwas verändern können – und lässt sich die Kluft zwischen Stadt und Land wirklich überbrücken?

der Freitag: Anfang diesen Jahres haben Millionen landesweit gegen Rechtsextremismus demonstriert, das Bedürfnis, etwas zu unternehmen, ist offensichtlich groß, die meisten wissen aber nach wie vor nicht, wie und was. Wann war bei Ihnen der Punkt, an dem Sie nicht mehr nur dachten: Man sollte eigentlich …, und losgelegt haben?

David Schnell: Das war vor der letzten Landtagswahl 2019. Hier an der Hochschule für Grafik und Buchkunst gab es von der AfD eine Anfrage, wie viele Studierende mit Migrationshintergrund es denn gibt. Etwa zur gleichen Zeit haben wir über zwei unserer späteren Gründungsmitglieder, die aus Döbeln sind, mitbekommen, dass dort dem soziokulturellen Verein Treibhaus Gelder gestrichen werden sollten, weil der Stadtrat ihn als linksextrem eingestuft hat.

Döbeln liegt zwischen Leipzig und Dresden, hat knapp 25.000 Einwohner.

Schnell: Im Stadtrat sitzen AfD-Leute, die CDU-Leute eingewickelt haben. Das konnte abgewendet werden, trotzdem hat uns beides vor Augen geführt, dass wir in unserer Kunstblase nicht gefeit sind. Christoph Ruckhäberle, auch Künstler, die Verlegerin Henriette Weber und ich haben uns dann, vermittelt über das Kulturbüro Leipzig, in Döbeln mit Initiativen getroffen und wollten einfach mal hören, wie deren Situation ist. Anfangs dachten wir an kreativen Input, aber es hat sich schnell herausgestellt, dass es wahnsinnig viel kreatives Potenzial gibt und nach wie vor eher die Finanzierung das Problem ist. Zu bürokratisch, nicht spontan. Und vor dem Hintergrund, dass die Landtagswahl 2019 noch schlimmer hätte ausgehen können, haben wir versucht, eine alternative Finanzierung auf die Beine zu stellen.

Eigentlich ist Mäzenatentum ein Modell, das man als Künstler umgekehrt kennt: Leute mit Geld fördern einen, solange man von der Kunst noch nicht leben kann.

Schnell: Wir sind in der glücklichen Situation, dass wir im Kunstbetrieb erfolgreich sind und gute Kontakte haben. Für uns hat sich in Sachsen alles sehr gut gefügt, und wir haben dadurch auch das Bedürfnis, etwas zurückzugeben. Es gab eine kuriose Situation auf der Kunstmesse 2018 in Hongkong, da saß ich an einem dieser Dinnertische, und jemand fragte mich: Was ist denn da los in Sachsen? Da dachte ich, irgendwie scheinen die Leute ja aware zu sein, dann sollte man die abholen. In der bildenden Kunstszene ist einfach eine Menge Geld unterwegs, und wir hatten den naiven Gedanken: Das können wir doch anzapfen. Und es funktioniert. Inzwischen sind wir 110 Mitglieder, letztes Jahr konnten wir durch Mitgliedsbeiträge und Spenden 65.000 Euro ausschütten. Und wir erreichen mittlerweile auch andere gesellschaftliche Bereiche.

Herr Möller, Sie haben Kino in Bewegung ebenfalls 2019 gestartet. War dabei anfangs überhaupt klar, dass es auch ein politisches Projekt ist?

Carsten Möller: Das ist dieselbe Kerbe. Sobald man kulturell arbeitet, arbeitet man mit verschiedenen Perspektiven, und diese Leute in Kontakt zu bringen, das ist ja immanent politisch. Wir haben von der HGB aus damals eine Anfrage bei der Filmförderungsanstalt gemacht, die ergeben hat, dass 19 Prozent der sächsischen Kinos zwischen 2007 und 2017 zugemacht wurden und dass sie alle in Städten mit unter 50.000 Einwohnern lagen. Nicht in Leipzig, Dresden, Chemnitz oder Plauen, sondern in kleineren Städten wie zum Beispiel Olbernhau. Unser Gedanke war: Wir müssen da in Kontakt kommen, wo das Kino als Begegnungsort wegbricht. Etwas in die Mitte legen.

Klingt simpel, aber wie kommt man in Kontakt?

Möller: Wir arbeiten immer mit Initiativen zusammen, oder mit Engagierten vor Ort. Das kann der Pfarrer sein oder eine Kulturinitiative. Ich komme vom Dokumentarfilm, das ist eine ähnliche Recherche. Erst mal fragt man: Was ist denn los, was sind hier die Themen? Dann versuchen wir mit Filmvorschlägen eine künstlerische Entsprechung zu finden, einigen uns, zeigen diese Filme und diskutieren danach. Zum Teil hat das sehr gut geklappt, zum Teil nicht, und da merkt man, dass diese unterschiedlichen Vorurteile oder Bilder, die man im Kopf hat, erst mal zerstört werden müssen, damit man zu einem gemeinsamen Gespräch kommt.

Kristina Schuldt (li) Nadja Buttendorf (re)

Winnie Seifert (li) David Voss (re)

Ricarda Roggan (li) Norbert Reissig (re)

Bei Ihnen, Frau Kolb-Unglaub, liegt der Punkt, an dem Sie aktiv wurden, vermutlich weiter zurück?

Doritta Kolb-Unglaub: Bei uns im Verein sind einige seit 37 Jahren am Start, das muss man einfach mal so sagen. Wir haben die Wende mitgemacht. Ich wurde neulich in Berlin gefragt, ob jetzt wieder die Baseballschläger-Jahre gekommen sind. Meine Antwort war: Ich weiß nicht, ob die jemals aufgehört haben. Die Gemengelage ist im ländlichen Raum einfach eine andere. Ich wollte auch noch etwas zu den großen Demonstrationen sagen: Das sind Zeichen, aber im ländlichen Raum spielt das überhaupt keine Rolle. Wir hatten in Plauen bei 65.000 Einwohnern auf der ersten Demo gegen rechts 1.800 auf dem Platz, man kannte fast alle. Das ist eine Blase, die sich sowieso engagiert, da waren kaum neue Gesichter zu sehen.

Wobei 1.800 so wenig nicht sind, oder?

Kolb-Unglaub: Für Plauen ist mir das zu wenig. Beim zweiten Mal waren es 500, dazwischen war ein Faschingsumzug im strömenden Regen mit 15.000 Menschen durch Plauen. Das „Forum für Demokratie und Freiheit“ hat 2022 mit einem martialischen Aufzug 7.000 Leute auf die Straße gebracht, da sammelte sich die ganze rechtsextreme Szene, die Partei „Der Dritte Weg“, die Freien Sachsen.

„Wir springen über diese Stöckchen der Rechten nicht mehr“
D. Kolb-Unglaub

Wie hält man dagegen?

Kolb-Unglaub: Wir haben unsere Strategie mit colorido e. V. vor ein paar Jahren schon geändert. Der Kipppunkt war so um 2018. Nach dem letzten großen Aufmarsch vom Dritten Weg mit über 1.000 Leuten haben wir gesagt: Wir springen nicht mehr über diese Stöckchen, die sie uns ständig hinhalten. Immer wieder etwas dagegen organisieren, erreichen wir damit überhaupt, was wir wollen? „Nazis raus“ zu schreien ist nicht nachhaltig. Und, das ist uns während Corona immer deutlicher geworden, man verprellt damit auch eine Menge Menschen, die da aus irgendeinem anderen Frust mitgelaufen sind. Die muss man auf einer anderen Ebene greifen.

Was haben Sie dann anders gemacht?

Kolb-Unglaub: Wir haben mit Hilfe von Land in Sicht e. V. Ausstellungen gemacht, wir haben Filme mit Schülern gemacht, wir sind auf die künstlerische Schiene rübergegangen, weil wir gemerkt haben, das funktioniert. Mit den Ausstellungen haben wir eine Weile richtig viele Leute erreicht und mit Bildern und Karikaturen über den Dritten Weg gut aufklären können. Da geht es auch um so praktische Dinge wie: Passt auf, dass die keine Häuser erwerben. Wir müssen als Vereine im ländlichen Raum flexibel reagieren, man kann Formate nicht unendlich ausreizen. Die aufklärerischen Formate der großen „Demokratievereine“ haben wir vor längerer Zeit abgewählt. Die waren bei uns nicht mehr besucht. Die Leute kamen rein und sagten: Das wissen wir längst, habt ihr nicht mal was Neues?

Wenn man die Jüngeren erreichen will, geht es da mitunter nicht auch einfach darum, wer das coolere Angebot hat?

Schnell: Ich war eine Zeit lang in Rom, dort stellt die neofaschistische CasaPound Italia ständig Musikvideos ins Netz, in Schwarz-Weiß, in Zeitlupe, das sieht stylish aus, und die, die da mitlaufen, sehen toll aus. Da ist schnell klar, welche Knöpfe sie bei den jungen Leuten drücken wollen mit dieser Ästhetik und dem Versprechen von Community.

Kann Kunst das auch für die andere Seite leisten?

Möller: Das ist natürlich unsere Hoffnung mit #machdeinkreuz: Dass dieses Wählen mit positiver Energie aufgeladen wird – wir haben uns das erstritten, wir haben die Möglichkeit, das zu tun. Wir können das zum Fest machen. Ich glaube, vielen geht ab, dass politische Partizipation etwas ist, wo man selbst dabei sein muss und kann, und ich hoffe, dass diese Kampagne ein Stück weit dazu beiträgt. Bei manchen Entwürfen bin ich mir nicht sicher, ob jemand in Roßwein versteht, was damit gemeint ist, aber bei der Menge der Plakate und der Vielzahl der Ideen ist das nicht entscheidend.

Schnell: Das Konzept ist bei einem Netzwerktreffen von kompliz* entstanden, da waren 80, 90 Leute beteiligt, alle von Initiativen aus Sachsen. Daraus wurde jetzt so eine Art Bewegung, ständig kommen neue Plakate dazu, das Kindermagazin Flippo von der Galerie für Zeitgenössische Kunst, das mit Kindern und Jugendlichen aus dem ländlichen Raum arbeitet, hat zum Beispiel auch ein Plakat gestaltet. Da ist eine Dynamik drin, die uns Hoffnung gibt, dass da eine kleine Welle überschwappt.

Kolb-Unglaub: Und die Plakate provozieren nicht. „Des find ich jetzt mal gut“, habe ich schon von Wankelmütigen gehört. Da kommt man ganz anders ins Gespräch. Und das sind schwierige Gespräche, dafür braucht man Vertrauen zu den Leuten, die auf dem Kipppunkt stehen. Zum Teil sind das Leute, die zur Wendezeit das Neue Forum mitgegründet haben und jetzt als Rentner nach über 30 Jahren wieder anfangen, Politik zu machen. Wenn wir von colorido junge Leute fragen, warum sie nicht wählen gehen, hören wir inzwischen ganz oft: Was soll ich da? Ich weiß von nichts. Und das bei zwei Stunden Gemeinschaftskundeunterricht in der Woche. Die Plakate haben wir jetzt auch an Vereine verschickt, bis nach Zittau.

Bei der Landtagswahl 2019 stieg der Anteil der Wähler*innen gegenüber 2014 von 49,2 auf 66,5 Prozent, gleichzeitig gewann die AfD knapp 20 Prozentpunkte hinzu. Was stimmt Sie optimistisch, dass mehr Stimmen mehr Stimmen für die demokratischen Parteien bedeuten?

Schnell: Na, wir hoffen halt, dass die AfD ihr Potenzial ausgeschöpft hat. Dass sie zwar viele unzufriedene Nichtwähler*innen abgeholt hat, aber dass die, die jetzt noch wankelmütig sind, nicht ganz so stramm rechts stehen wie dieser erste Schwung.

„Uns geht es um Leute, die schweigen, sich nicht positionieren“
C. Möller

Möller: Wir haben eigentlich zwei Probleme in einem. Bei Rechtsextremismus können wir in Sachsen ziemlich verlässlich sagen: 520.000 bis 600.000 Leute wählen AfD, und die werden möglicherweise nicht zurückgeholt werden. Aber viel mehr geht es um die Leute, die schweigen, die nicht wählen gehen, die keine Position beziehen. Damit meine ich nicht, im Sinne von links oder rechts, sondern: Hier bin ich, ich will mein Leben gestalten, mit euch zusammen, und mich nicht in meinem Einfamilienhaus mit meinen zwei SUVs davor verbarrikadieren. Diese schweigende Mehrheit ist auch Adressat der Kampagne. Ich habe null Angst, dass eines dieser Plakate jemanden antriggert, AfD zu wählen. Sondern, wenn es irgendeinen Impact hat, dann dass man sich gegenseitig anstupst und sagt: Aufwachen, wir müssen hier jetzt mal zur Sache kommen, wir müssen nach vorne denken. Irgendwie das Heft des Handelns zurückbekommen. Wir haben vorhin über 1989/90 gesprochen, da war das Heft des Handelns bei den Leuten, die haben eine Selbstermächtigung gespürt, die waren am Start. Und nach der Maueröffnung war es dann ziemlich schnell weg.

Kolb-Unglaub: „Ich bin hier ja nicht gefragt“, das höre ich immer wieder.

Möller: Das muss durchbrochen werden, darum geht’s.

Schnell: Und da sind soziokulturelle Zentren die richtigen Anlaufstellen. Es geht um die politische Sache, aber es geht auch darum, den Leuten neben Fußball und Feuerwehr noch was anderes zu vermitteln, was Initiativen wie colorido eben machen. Und etwas aus den Leuten rauszuholen, was sonst brachliegt. Ob das jetzt ein Siebdruckkurs, Töpferkurs oder ein Workshop im journalistischen Schreiben ist.

Kolb-Unglaub: Da sind wir wieder bei den Räumen. Die Nazis haben Räume, die haben Geld, und dort geht die Jugend hin. Auf den ersten Blick merken die vielleicht gar nicht, welche Ideologie sie übergestülpt bekommen, aber das Angebot ist da. Wir hingegen sind immer zur Miete – ob wir einen Raum haben, steht von Jahr zu Jahr in den Sternen. Es geht auch um diese Raumnahme wieder zurück im ländlichen Raum. Zu DDR-Zeiten gab es Jugendclubs flächendeckend in jedem Stadtteil. Wir haben neue Räume, die wir kostenlos von der DB im oberen Bahnhof bekommen haben. Da sehe ich: Die Jugend geht dorthin, wo es warm ist, wo sie ein Fläschchen Bier trinken können, ihre Selfies machen, quatschen. Die Halle ist warm, sie werden nicht vertrieben. Die Jugendtreffs, die es gibt, funktionieren höchstens bis 13, 14. Wir müssen aufpassen, dass für die Älteren Räume gesichert werden. Wo’s auch mal nichts kostet und wo man sagen kann: Ich würde den Raum hier nehmen am Donnerstag von 18 bis 21 Uhr, wir machen das, das und das, können wir euer Geschirr benutzen? Es dauert, bis Leute merken: Ich kann einen Raum nutzen. Ich kann einen Buchclub aufmachen oder einfach eine Runde, wo ich quatsche. Das schafft Gemeinsamkeit.

Es geht also nicht so sehr darum, denen ein Programm zu bieten?

Kolb-Unglaub: Überhaupt nicht. Nichts draufstülpen, sondern selber machen. Das müssen wir auch wieder ein Stück weit lernen.

Worauf stellen Sie sich ein, falls die Kommunalwahlen und die Landtagswahl die AfD in noch mehr Ämter bringen?

Kolb-Unglaub: Wir haben von der Stadt Plauen schon jetzt nichts zu erwarten, wir gelten als Nestbeschmutzer. Wir müssen sehen, wo das Geld herkommt, das war in diesem Jahr bisher besonders hart. Dass wir eine Theodor-Heuss-Medaille verliehen bekommen haben, hat unserem Verein den Rücken gestärkt, auch uns als Menschen, um zu sagen, wir ziehen das durch. Aber es muss langsam eine Linie dafür geben, wie die Bundesregierung im Fall der Fälle Vereine wie den unseren schützen will. Im Vogtlandkreis ist bei den Kommunalwahlen von 75 Prozent für das rechte und konservative Spektrum auszugehen. Fallen wir nach den Wahlen alle aus den Strukturen heraus und verschwinden im Nirwana? Da gibt es für mich noch zu wenig Ansätze seitens der Bundesregierung – zum Beispiel das fehlende Demokratiefördergesetz.Wie ist kompliz* aufgestellt für diesen Fall?

Schnell: Bei Land in Sicht e. V. ist es ja genau diese Kerbe, in die wir reinspringen wollen mit unseren Möglichkeiten. Nun sind wir ein gemeinnütziger Verein, und es muss alles nach Recht und Ordnung gehen, aber wir versuchen es möglichst simpel zu gestalten, von uns Gelder zu bekommen. Der Hintergedanke ist, den weltoffenen, antirassistischen soziokulturellen Initiativen Hase-und-Igel-mäßig einen kleinen Vorsprung zu verschaffen. Ob uns das gelingt, weiß ich nicht. Aber wir beobachten im Moment bei vielen den Willen, etwas zu tun. Hier in Leipzig bildet sich zum Beispiel gerade eine Demokratiegruppe, da sind Leute aus der Wirtschaft drin, aber auch leitende Persönlichkeiten aus kulturellen Institutionen. Die sind noch ein bisschen ratlos und haben uns eingeladen, damit wir vortragen, was wir machen. Die staunten und sagten: Ach, so einfach ist das. Solche Leute mit Land in Sicht e. V. und kompliz* abzuholen, ist eine reizvolle Aufgabe.

Zumal bekannt ist, dass die rechtsextreme Szene schon länger Verbindungen zu einem reaktionär-konservativen Kulturmilieu mit Geld unterhält und zu finanzstarken Unternehmern. Da haben die Rechten einen Vorsprung.

Schnell: Genau den versuchen wir zu verkleinern.

Kolb-Unglaub: Ich denke aber, ihr seid auch Vorreiter. Ich war gestern in Berlin, wo die Allianz Foundation den Fonds „Vereint für Demokratie“ vorgestellt hat. Da macht sich die Wirtschaft auf, um ein ähnliches Modell zu entwickeln, und beginnt zu sammeln.

Möller: Bei den Unternehmer*innen findet auch ein Erwachen statt.

Wir sprechen ständig von einer Spaltung zwischen Stadt und Land, die sich teilweise auch in unterschiedlichem Wahlverhalten manifestiert. Wie gehen Sie bei kompliz* damit um?

Kolb-Unglaub: Das ist das Schöne an kompliz*, dass es diese Konflikte dort nicht gibt. Für uns war es von Anfang an eine Wohlfühloase, man ist dort hingekommen, es warnicht sofort hochpolitisch, aber es ging um Inhalte. Wir haben gesehen, die nehmen uns ernst. Da wird uns nichts übergestülpt.

Schnell: Uns geht es auch darum, den Initiativen hier in Leipzig Sichtbarkeit zu verschaffen, damit man hier sieht, wie viel passiert im ländlichen Raum. Und als Künstler*innen treten wir ja gar nicht so richtig in Erscheinung, außer bei dieser Plakat-Aktion, aber da eben auch im Dialog mit den Initiativen. Ich erinnere mich, dass es da am Anfang schon mal den Einwand gab, das dürfe jetzt aber nicht so eine „akademische Hochkunst“ sein. Aber da war schon klar: Nee, jeder, der da mitmacht, will ja was bewirken und nicht seine künstlerische Linie durchziehen. Kompliz* wurde von vornherein so angegangen, dass es auf ein Miteinander und Lernen voneinander ausgerichtet war.

Wie groß sehen Sie die Gefahr, wenn es mehr rechtsextreme Mehrheiten gibt, dass die Leute sich einfach arrangieren werden? Siehe Italien.

Schnell: Ich glaube, dass die Schwelle hier höher ist aufgrund der Geschichte. In Italien war der Faschismus in der bürgerlichen Gesellschaft nie so ein rotes Tuch. Vielleicht ist das eine naive Hoffnung von mir.

Wie sehen Sie das, Frau Kolb-Unglaub? Sie haben vorhin das Stichwort „Nestbeschmutzer“ genannt.

Kolb-Unglaub: Wir erleben dieses Arrangieren doch jetzt schon in den kleineren Gemeinderäten und Stadträten. Da kann man zehnmal sagen, die AfD steht unter Beobachtung oder ist als gesichert rechtsextrem eingestuft. Bei der Demo gegen Rechtsextremismus bei uns in Plauen war die komplette Stadtriege der CDU nicht da, weil die AfD sie erpresst hat, dass sie nicht mehr mit ihr abstimmen wird, und in der Woche drauf stand eine wichtige Abstimmung an. Unser Kulturbürgermeister, ein Banker, der keine Ahnung von Kultur hat, kam nur mit den Stimmen der AfD ins Amt. Man arrangiert sich längst. Meine Angst ist wirklich, dass die CDU komplett kippt und wir in die Situation kommen, dass Leute, die mit ihrem Gesicht für die Arbeit der Vereine stehen, sagen: Dann müssen wir den ländlichen Raum verlassen. Auf der anderen Seite gibt es wieder junge Leute, die sich selbst auf den Weg machen, wie der Jakob Springfeld, der hat eine geile Truppe aufgebaut, die was will und sehr unbefangen an die Sache rangeht.

„Die AfD versucht die Grenze schon am Stadtrand zu ziehen“
D. Schnell

Möller: In Leipzig, das will ich noch mal anmerken, war die Stimmung nicht immer so wie jetzt. 1989/90, da gab es riesengroße Demonstrationen, die sind von Nazis angeführt worden, mit Reichskriegsflagge vorneweg. Das gab es hier im Januar, Februar, März 1990. Wir hatten damals Probleme, in bestimmte Stadtteile zu gehen. Was Leipzig verändert hat, ist die Bewegung, ist der Sauerstoff, der hier reingekommen ist, die Studierenden, die Unternehmen. Ich sag das auch nicht gerne, denn die ganze Stadt gehört, was die Immobilien betrifft, jetzt anderen Leuten. Aber was die Atmosphäre angeht und die Progressivität, das hat einfach mit Sauerstoff zu tun, mit Vielfalt, mit unterschiedlichen Perspektiven, die sich arrangieren und irgendwie ins Gespräch miteinander kommen müssen. Leipzig hat immer diesen Inselstatus, aber das war auch mal anders. Und deswegen glaube ich an Austausch, an Korrespondenz, an wechselseitiges Lernen und Zuhören. Das ist das Einzige, was Dinge in Bewegung bringen kann.

Schnell: Darum geht es uns ja auch eben. Und vielleicht fällt uns das in Leipzig leichter, weil wir anders als in Berlin viel näher dran sind am ländlichen Raum. Wir hatten als Initiative, die Projekte im ländlichen Raum fördert, auch schon das Problem: Wo fängt der denn an? Inzwischen sind wir so weit, dass wir sagen: Paunsdorf gehört zwar zu Leipzig, ist aber eigentlich schon ländlicher Raum.

Möller: Ich war kürzlich in Probstheida, da plakatiert die AfD „Dem Stadtrand eine Stimme“. Finde ich total interessant. Diese Randständigkeit so zu betonen, mit dem Subtext: Hey, du hast hier gar keine Stimme.

Schnell: Schon da werden Grenzen aufgebaut. Leipzig ist aber eine Stadt, wo es noch die Möglichkeit gibt, diesen Dialog zu spinnen: Wie ist es bei euch, wie ist es bei uns? Und diese Grenze im kulturellen und soziokulturellen Bereich aufzubrechen.

Jan Potente

Doritta Kolb-Unglaub (1961 in Plauen geboren) studierte Design in Berlin und Sozialpädagogik in Gera. Sie ist Mitglied im Bündnis „Vogtland gegen Rechts“ und war 2017 Gründungsmitglied des soziolkulturellen Vereins colorido e. V., dessen geschäftsführender Vorstand sie ist

Freund Walter

David Schnell (1971 in Bergisch-Gladbach geboren) ging 1995 nach Leipzig, um an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) Malerei zu studieren. Seit 2004 vertritt ihn die Galerie Eigen + Art. 2009 gestaltete er das Friedensfenster der Thomaskirche. Er gehörte 2019 zu den Gründungsmitgliedern von Land in Sicht e. V.

Eden Concepción Alvarez

Carsten Möller (1970 in Leipzig geboren) studierte Medienkunst an der HGB in Leipzig. Er ist als Dokumentarfilmer tätig und unterrichtet Videokunst an der HGB. 2019 gründete er mit Lehrenden und Studierenden die Initiative Kino in Bewegung, die im ländlichen Raum Filmvorführungen und Diskussionen organisiert

Land in Sicht e.V. wurde 2019 als Förderverein gegründet, um gemeinnützige Vereine in den ländlichen Regionen Sachsens zu unterstützen, die sich durch kulturelle und soziale Arbeit für Weltoffenheit, humane, demokratische und soziale Denkweisen engagieren für ein Miteinander ohne Rassismus und Diskriminierung. Der Fokus liegt dabei auf der finanziellen Unterstützung, insbesondere von Initiativen, die schon seit längerer Zeit aktiv sind. Über die Anträge entscheidet vier mal im Jahr eine sechsköpfige Jury.

colorido e.V. wurde 2017 gegründet und engagiert sich in Plauen für eine Gesellschaft der Toleranz, in der man ohne Angst verschieden sein kann und gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus. Die Initiative leistet Bildungsarbeit und klärt über die Aktivitäten der rechtsextremen Szene in Plauen und in der Region auf. Gleichzeitig versteht sie sich als sozialer Ort mit einem vielfältigen Angebot, darunter ein Bring-und-Nimm-Laden, Kiezfeste, Lesungen, Ausstellungen, Konzerte und vieles mehr. Für sein Engagement bekam der Verein 2024 eine Theodor-Heuss-Medaille verliehen.

Kino in Bewegung ist eine Initiative von Lehrenden und (ehemaligen) Studierenden der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB). Zusammen mit engagierten lokalen Akteur*innen organisiert sie seit 2019 Filmveranstaltungen in verschiedenen Orten in Sachsen. Das Projekt will einen kulturellen Dialog zwischen urbanem und ländlichem Raum herstellen. Die Vorführungen sind mit moderierten Filmgesprächen verbunden, um ausgehend von den konkreten Filmen Diskussionen über Haltungen, Bedürfnisse und Werte zu führen.

#machdeinkreuz ist eine Kampagne des Netzwerkes kompliz*, deren Ziel es ist, im Superwahljahr 2024 die Wahlbeteiligung in Sachsen zu erhöhen. Die Plakate kann sich jede*r unter machdeinkreuz.de herunterladen, ausdrucken und aufhängen. Wer in seiner Stadt oder Gemeinde ein Demokratiefest feiern möchte, findet auf der Seite außerdem eine Datenbank mit Künstler*innen, die sich beteiligen würden.

kompliz* ist von 2017 an aus dem Gedanken heraus entstanden, die Kulturszene in Leipzig mit Initiativen in den ländlichen Regionen Sachsens zu vernetzen.

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