Wer trägt die Schuld am Stuttgart-21-Desaster? Für den baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann ist die Frage längst geklärt: Verantwortlich für die „fatale Nachricht“ der vergangenen Woche – die abermalige Verschiebung des Eröffnungstermins für das milliardenschwere Infrastrukturprojekt rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof – ist die Deutsche Bahn . Mit der Ankündigung sei „das letzte bisschen Vertrauen“ in den Staatskonzern verspielt worden, polterte der Grüne. „Wir fühlen uns getäuscht.“ Mag sein – doch ganz so einfach ist die Sache auch wieder nicht.
Es stimmt zwar: Die Deutsche Bahn agiert als Bauherrin und Projektträgerin. In ihrer 2013 gegründeten DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH arbeiten immerhin mehr als 500 Menschen. Die Bauingenieure, Geologen, Biologen, Planer und Kaufleute beschäftigen sich nach eigenem Bekunden mit „viel mehr als Stuttgart 21“, nämlich mit der kompletten Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart mit vier neuen Bahnhöfen, 56 Kilometer Tunnel und 42 Brücken. Man sieht sich mit dem Pilotprojekt „Digitaler Knoten Stuttgart“ (DKS) als „Vorreiter für die Digitalisierung der Bahn in ganz Deutschland“. Große Worte, aber im Kleinen verbinden sich damit lästige Faktoren wie Termintreue. In dieser Disziplin scheitert das Verkehrsunternehmen schon im tagtäglichen Betrieb. Da erscheint es wenig verwunderlich, dass der Zeitpunkt für die Fertigstellung eines extrem ambitionierten Infrastrukturvorhabens ein ums andere Mal verschoben wird – zuletzt in die Zeit nach 2026.
Allerdings: An dem hochkomplexen Baustellengeflecht im Südwesten arbeitet eine Vielzahl von Beteiligten, von Zulieferern – und damit letztlich auch von Verantwortlichen. Zuletzt ist unter anderem der Technologiekonzern Hitachi Rail in die Kritik geraten. Ein Unternehmen, das hierzulande bislang kaum im Fokus der Öffentlichkeit stand. In Japan dagegen kann Hitachi in Sachen Bahn auf eine stolze Historie verweisen. Seit den Fünfzigerjahren hat der Konzern an jeder Generation der dortigen Schnellzüge mitgearbeitet. Die legendären Shinkansen sind branchenweit in Sachen Geschwindigkeit, Sicherheit und Service der Goldstandard. Hitachi bietet über Züge hinaus aber auch Steuer- und Regelungstechnik, Ticketsysteme sowie Soft- und Hardware. Auf dem zwischen 300 und 400 Milliarden Euro großen Eisenbahnmarkt sind die Japaner eine große Nummer. Sie können nicht nur Eisenbahn, sie können auch Digitalisierung. Und das hat sie für Stuttgart 21 prädestiniert.
„Maßstab für andere Ballungsräume in ganz Europa“
Die direkte Zuständigkeit reicht noch nicht allzu weit zurück. Erst im vergangenen Jahr übernahm die deutsche Hitachi-Rail-Tochtergesellschaft den Geschäftsbereich Ground Transportation Systems (GTS) von der französischen Thales -Gruppe – und residiert heute dementsprechend an der Adresse Thalesplatz 1 in Ditzingen bei Stuttgart. Dem 1,6-Milliarden-Euro-Geschäft vorausgegangen waren dreijährige Verhandlungen; der japanische Käufer musste unter anderem durch eine Neuordnung seiner hiesigen Geschäfte die Bedenken der europäischen Wettbewerbshüter aus dem Weg räumen.
Thales und die DB wiederum sind mit Blick auf Stuttgart 21 seit fünf Jahren eng verbunden. Das Unternehmen gewann Ende November 2020 die Ausschreibung für die Umsetzung der Module eins und zwei des DKS-Projekts. Der Auftrag im Volumen von rund 127 Millionen Euro umfasst nach Firmenangaben die Installation des digitalen Signalsystems, die Installation des europäischen Zugbeeinflussungssystems ETCS sowie Vorarbeiten für die Umsetzung eines automatisierten Betriebs. Weiter gehören dazu mehr als 6000 elektronische Balisen, also Baken zur Zugortung, mehr als 1300 Achszählstellen und rund 650 Weichenantriebe. Damals zeigte man sich euphorisch: „Der erste digitale Knoten in Deutschland wird für die kommenden Jahre zum Maßstab für andere Ballungsräume in ganz Europa werden.“
Inzwischen dürfte die Euphorie abgeklungen sein. In einem „Sachstand Digitaler Knoten Stuttgart“ hieß es im Januar, die Arbeiten an der Infrastruktur und die Ausrüstung neuer Triebzüge kämen zwar voran, doch langsamer und in kleineren Schritten als erwartet. Das Papier hatte ein zehnköpfiges Autorenkollektiv rund um Florian Bitzer verfasst, bei dem die Gesamtprojektleitung für den Bahnknoten Stuttgart liegt. Es kommt zum Schluss, dass DKS zwar in die richtige Richtung führe. Doch die Arbeit lasse sich deutlich verschlanken und erheblich verbessern. Der „Digitale Knoten Stuttgart“ ist ein Pilotvorhaben im Gesamtprojekt Stuttgart 21. Es soll die Leit- und Sicherungstechnik für den Bahnverkehr in der Region digitalisieren. Es kommt hier nicht nur eine komplizierte Technik zum Einsatz. Es geht auch um schwierige Planungen und vielschichtige Prozesse. Oft treffen verschiedene Technologien aufeinander. Dazu gehören unterschiedliche Stellwerksmodelle und Stellwerkstypen oder eine Vielzahl von Varianten an Kontrollsystemen.
Es fehlt an Erfahrungswerten
Letztlich kommt Technik zum Einsatz, die es hierzulande auf der Schiene so noch nicht gab. Und dies gestaltet die Sache schwierig. Vieles wird faktisch zum ersten Mal gemacht. Detaillierte Erfahrungen können daher erst während der verschiedenen Projekte und Bauphasen gesammelt werden. Dabei bedingen die einzeln Vorhaben vertrackte Ausschreibungen, materialintensive und zeitaufwendige Tests sowie zahlreiche Zulassungen. Die Komplexität der diversen Erstanwendungen ist schwer einzuschätzen, und das hat in der Regel weitreichende Folgen.
Wie ständige Terminverschiebungen und Kostensteigerungen. Während Planungsarbeiten schon laufen, wird oft noch um die Finanzierung gerungen. Das führte unter anderem dazu, dass sich die ursprünglich erwarteten Kosten für die rund 125 Kilometer umfassende Infrastruktur der Leit- und Sicherungstechnik auf nicht weniger als 950 Millionen Euro nahezu verdoppelten. Für das gesamte Projekt haben sich die Kosten in noch größerem Umfang erhöht. Während 2009, im Jahr der Unterzeichnung der Finanzierungsvereinbarung zu Stuttgart 21, sich der Gesamtwertumfang auf etwas mehr vier Milliarden Euro belief, waren es Ende vergangenen Jahres schon 11,3 Milliarden Euro.
Darüber ist von Projektpartnern wie Hitachi leider wenig zu hören. Ebenso wenig mag sich der Zulieferer aus Fernost dezidiert zur abermaligen Terminverschiebung äußern, und zu den angeblichen Problemen mit der Zulassung und Freigabe seiner Technik, die zur neuerlichen Verzögerung von S 21 geführt haben sollen. Lieber träumt man von einer glänzenden Eisenbahnzukunft, deren Verwirklichung Stuttgart 21 mitgewährleisten soll: „Digitale Technologie wird in den kommenden Jahren für alle notwendigen Modernisierungsbemühungen in unserem Sektor von entscheidender Bedeutung sein, um das Ziel einer Verkehrsverlagerung auf die Schiene erfolgreich zu erreichen, sei es in Deutschland oder in Europa“, lässt sich ein Hitachi-Rail-Sprecher auf F.A.Z.-Anfrage lediglich zitieren.
Der traditionsreiche japanische Elektronikgigant ist schon seit rund einem Jahrhundert im Bahngeschäft aktiv. 1999 schlug die Gruppe eines ihrer Zelte in Europa auf. Von London aus tastete sich der Konzern auf dem Kontinent vorwärts. 2015 kaufte er Italiens Zughersteller Ansaldo Breda und die Signaltechnik von Finmeccanica. 2021 zog man Teile des Bahngeschäfts von Alstom an sich, 2024 folgte das Geschäft mit Thales. Heute erzielt die Bahnsparte Hitachis mit insgesamt 24.000 Mitarbeitern in mehr als 50 Ländern einen Umsatz von gut sieben Milliarden Euro. „Das Unternehmen ist global tätig, aber das Geschäft ist lokal“, heißt es in einer Eigendarstellung. Dass ausgerechnet der deutsche Ableger einen Ehrenplatz in der Konzernproblemgalerie einnehmen dürfte – das hätte sich das Management trotz seines Loblieds auf lokale Geschäfte wohl lieber erspart.