Industrie-Transformation: Heiße Debatten droben die Wärme

Das Zinkbad sieht aus wie ein langes Schwimmbecken, ringsum von dicken Wänden eingefasst. An der Oberfläche schimmert silbrig flüssiges Zink, mehrere Hundert Grad heiß. Ein Kran senkt Stahlteile langsam ins Becken und taucht sie unter; später soll aus den Teilen eine Lagerhalle werden. An die Oberfläche der Stahlbalken heftet sich eine Zinkschicht, welche die Teile für die kommenden Jahrzehnte vor dem Verrosten schützen wird. Das ist der Zweck des Feuerverzinkens: Es macht Gebäudeteile, Fahrzeugkomponenten, Leitplanken und viele weitere Dinge aus Stahl resistent gegen Korrosion.

Hier in der Werkshalle des mittelständischen Feuerverzinkers Zinq in Gelsenkirchen ist schnell zu sehen und zu spüren, dass das jede Menge Energie benötigt. Unter der Zinkwanne ist eine Kammer, die das Behältnis mithilfe von Erdgas auf mehr als 400 Grad heizt. Die Wärme, die das Unternehmen für seine Produktion benötigt, nennt man Prozesswärme. Um sie zu erzeugen, nutzt Zinq ausschließlich fossile Energie.

Zinq ist – wie viele Industrieunternehmen, die Prozesswärme brauchen – eine ziemliche CO2-Schleuder. Am Standort Gelsenkirchen verbraucht der Mittelständler jährlich etwa zehn Gigawattstunden Erdgas, über die mehr als 50 europäischen Standorte der Firmengruppe hinweg summiert es sich auf mehr als 250 Gigawattstunden. Ungefähr so viel, wie 15.000 Haushalte in einem Jahr verbrauchen.

Zwei Varianten nebeneinander

Die Zinq-Geschäftsführer Lars Baumgürtel und Birgitt Bendiek haben gleichwohl kürzlich den Deutschen Umweltpreis dafür gewonnen, dass sie in ihrer ressourcenintensiven Branche auf mehr Nachhaltigkeit setzen. Sie hatten eine Idee, wie ihr Feuerverzinkungs-Prozess künftig weniger fossilen Brennstoff benötigt. Ihr Plan: eine zusätzliche Technik aufzubauen, um die Zinkwanne mit Strom aufzuheizen. Damit sich das ökonomisch lohnt, möchten sie die gasbefeuerte Variante parallel behalten. In Zeiten, in denen viel erneuerbare Energie vorhanden ist, weil der Wind kräftig bläst und die Sonne stark scheint, wollen sie die elektrische Variante nutzen. In Zeiten, in denen Strom aus Erneuerbaren knapp ist, wollen sie Gas einsetzen. Perspektivisch, so stellt es sich Baumgürtel vor, könnte er das Gas durch Wasserstoff ersetzen und so CO2-neutral werden.

Lars BaumgürtelStefan Finger

Doch das ist noch ein langer Weg, wie sich in der Produktionshalle zeigt, in der es ganz klassisch zugeht. Nachdem Arbeiter mit Helmen und Visieren, die das ganze Gesicht bedecken, überschüssiges Zinkoxid an der Oberfläche des Zinkbades abgeschöpft haben, hebt der Kran die nun silbrig glänzenden Stahlteile wieder aus dem Becken – eine riesige graue Dampfwolke entsteht, bis der Kran die Teile in ein Wasserbad zum Abkühlen taucht. Sogar danach sind die Teile noch so warm, dass die Luft um sie herum flirrt. Auch der Chef muss, wenn er in die Produktion geht, Schutzkleidung tragen. Statt eines Helms hat sich Lars Baumgürtel aber eine dunkelblaue Sicherheits-Schirmmütze machen lassen, auf der in weiß der Firmenschriftzug prangt.

„Unsere Anlagen haben wir ja schon“

Wie er seine Anlagen CO2-ärmer machen und gleichzeitig damit das Energiesystem stützen könnte – das sind bislang noch theoretische Berechnungen, die Baumgürtel gefördert von der Bundesstiftung Umwelt und gemeinsam mit einem Fraunhofer-Institut und dem Flexibilitäts-Vermarkter Esforin in einer Studie kalkuliert hat. Zwei Befeuerungsvarianten alternierend zu nutzen, werde viele Vorteile haben: „Das Schöne ist: In Zeiten, in denen zu viel Strom produziert wird, wären wir in der Lage, dem Stromnetz unsere komplette Grundlast zur Verfügung zu stellen“, sagt er. „Wir könnten also unsere Anlagen so nutzen, dass sie sich ausschließlich systemdienlich verhalten. Der Schlüssel dazu ist die Energieträgerkopplung, also der gekoppelte Einsatz von Gas und Strom.“

Und er könnte sich das so oder so ähnlich für sehr viele weitere Betriebe vorstellen, die wie er mit Prozesswärme arbeiten. In der Studie haben Baumgürtel und seine Mitstreiter das deshalb einmal für rund 300.000 deutsche Großbefeuerungsanlagen verschiedenster Branchen der Oberflächentechnik und Metallverarbeitung durchgerechnet, die alle heute Prozesswärme nutzen. Das Ergebnis: Bei einem Gesamt-Prozesswärmebedarf von jährlich rund 394 Terawattstunden ergäbe sich ein spontanes Potential zum Flexibilisieren von 115 Terawattstunden.

„Dieser Strom müsste gar nicht erst gespeichert werden, den würden wir als Industrie direkt verbrauchen“, sagt Baumgürtel. Das fände er viel praktischer, als zu versuchen, eine große Zahl an Batteriespeichern aus dem Boden zu stampfen. „Denn unsere Anlagen, die haben wir ja schon.“ Den Einwand, dass er für seine Idee zwei parallele Systeme betreiben müsste, eines mit Erdgas und eines mit Strom, lässt er nicht gelten. „Dass etwas redundant ist, ist nicht per se schlimm“, argumentiert er. „Es gibt ja auch anderswo redundante Infrastruktur, zum Beispiel im Verkehr, wenn auf einer Verbindung zwischen zwei Städten sowohl die Bahn verkehrt als auch eine Autobahn vorhanden ist.“ Redundanz bedeute „weniger Abregeln und Speichern und damit weniger Marktversagen im deutschen Stromsystem“, sagt er. „Mit Energieträgerkopplung und Flexibilisierung von Prozesswärme gleichen wir Angebot und Nachfrage netz- und systemdienlich aus, damit Strompreise sinken können.“

Glas, Zement, Metall, Backwaren

Auf ganz Deutschland gerechnet macht Prozesswärme, also Wärme, die es braucht, um Materialien zu schmelzen, zu verarbeiten, zu trocknen oder chemische Reaktionen auszulösen, rund zwei Drittel des Energieverbrauchs der Industrie aus. So hat es die Deutsche Unternehmensinitiative Energieeffizienz (DENEFF) erhoben. Die für Prozesswärme benötigte Energiemenge sei vergleichbar mit der Energie, die heute für die Beheizung und Kühlung aller Gebäude in Deutschland genutzt wird. Gleichzeitig verursache sie rund drei Viertel der industriellen CO2-Emissionen.

Lars Baumgürtel macht sich besonders viele Gedanken über diese Themen, denn er ist nicht nur Unternehmer, sondern sitzt auch der IHK Nord Westfalen vor. In seinem Kammergebiet gibt es viele energieintensive Betriebe, fast ein Drittel aller Unternehmen der Region. Dazu gehören Hersteller von Glas, Keramik, Zement, Metall, Backwaren und die chemische Industrie. In all diesen Branchen ist Prozesswärme wichtig.

„Das ist unsere energetische Herausforderung“

Auch rund 120 Kilometer von Gelsenkirchen entfernt, bei Crespel & Deiters in Ibbenbüren, ist Prozesswärme das große Thema. Das Familienunternehmen hat sich darauf spezialisiert, Proteine aus Weizen zu extrahieren. „Wir machen hier aus weißem Pulver weißes Pulver“, scherzt Steffen von Glahn, der Geschäftsführender Gesellschafter ist – Familienunternehmer in der sechsten Generation; Crespel & Deiters gibt es schon seit 1858.

„Vereinfacht gesagt, bekommen wir hier Weizenmehl angeliefert, mischen es mit Wasser, schleudern es, damit es sich in seine Einzelbestandteile trennt, und setzen diese wieder neu zusammen“, erklärt er. Wie Baumgürtel ist er in der IHK Nord Westfalen engagiert und sitzt dort dem Industrieausschuss vor. Heutzutage werden aus den Weizenproteinen des Unternehmens vegane Fleischersatzprodukte und Klebstoffe für die Wellpappenindustrie gemacht. „Wir müssen in unseren Produktionsprozessen immer alles erst einmal nass machen, um es am Ende wieder zu trocknen. Das ist unsere energetische Herausforderung.“ In Zahlen: rund 300 Gigawattstunden Erdgas braucht Crespel & Deiters jedes Jahr.

Bislang ausschließlich mit Gas befeuert: Anlagen von Crespel & DeitersStefan Finger

Ein Blick in die Produktionsräume zeigt, wie es funktioniert. In einem turmartigen Gebäude stapeln sich auf vielen Etagen allerlei silbrige Kessel und Rohre, in denen Weizenmehl zunächst zu einem Brei verarbeitet wird. Zähflüssig, wie weißliche Wandfarbe, fließt die Masse von einem Behältnis ins nächste, um im Anschluss in Zentrifugen kräftig durchgeschleudert zu werden. An der Wand hängen eine blaue Plastikschaufel, die aussieht wie ein Riesensandspielzeug, und ein ebenso riesiger Schrubber – für die schnelle erste Hilfe, falls der Brei auslaufen sollte. Damit die Proteine am Ende zum „weißen Pulver“ werden, müssen die verschiedenen Apparaturen ihnen das Wasser unter Wärmeeinwirkung komplett wieder entziehen.

„Wir würden mehr als doppelt so viel CO2 verursachen“

Draußen vor dem Turm zeigt von Glahn ein anderes Gebäude, sein „Minigaskraftwerk“. Es ist eine Kraft-Wärme-Kopplungsanlage. „Wir brauchen für unsere Prozesse sowohl Wärme als auch Strom“, sagt er. „Wir kaufen aber ausschließlich Erdgas ein, nutzen es für unsere Prozesswärme und haben dann noch so viel Restwärme übrig, dass wir unseren kompletten Strombedarf daraus selbst erzeugen können.“ Super effizient sei das, schwärmt er. „Damit erreichen wir einen Wirkungsgrad von 92 Prozent. Gewöhnliche Gaskraftwerke liegen bei 40 bis 45 Prozent.“

Würde er seine Prozesse komplett elektrifizieren, würde ihm diese Effizienz verloren gehen; den Strom müsste er für die thermischen und die elektrischen Prozesse einkaufen. Das sei sehr teuer – er rechnet mit 55 Millionen Euro im Jahr im Vergleich zu 15 Millionen Euro derzeit. Im heutigen Strommix, in dem noch rund ein Drittel aus fossilen Energiequellen kommt, würde das seinen Berechnungen nach zudem bedeuten: „Wir würden mehr als doppelt so viel CO2 verursachen wie im Moment.“ Grüner Wasserstoff wäre zwar theoretisch eine Option, aber ist noch Zukunftsmusik.

Zwei Seiten einer Medaille?

Von Glahns „Minigaskraftwerk“ könnte sogar noch mehr Strom erzeugen als für seinen eigenen Bedarf nötig. Und dieser Strom könnte in Wetterlagen mit wenig Wind und Sonne zur Versorgungssicherheit beitragen, womöglich auch das Netz unterstützen, sagt der Unternehmer. „In Dunkelflauten, also bei sehr wenig Sonne und Wind, könnten wir Strom zur Verfügung stellen. Und das deutlich effizienter als herkömmliche, zusätzliche Gaskraftwerke.“ Ähnlich wie Lars Baumgürtel glaubt er, dass zwar sein mittelständischer Betrieb bloß einen kleinen Beitrag leisten würde. „Aber es gibt viele Mittelständler, die Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen betreiben, ähnlich wie wir.“ Seiner Hochrechnung zufolge ergäben sich bis zu 100 Terawattstunden spontane Flexibilität, wenn man alle Anlagen zusammenrechnet, die ähnlich funktionieren. „Wir haben also schon viele kleine Gaskraftwerke in Deutschland. Die könnten wir nutzen. Stattdessen diskutieren wir darüber, neue, große Gaskraftwerke zu bauen“, sagt von Glahn.

Steffen von GlahnStefan Finger

Beide Unternehmer sehen sich in einem von Erneuerbaren geprägten Stromsystem wie zwei Seiten einer Medaille. Baumgürtel könnte in Hellbrisen Strom abnehmen, von Glahn könnte in Dunkelflauten einspeisen. Beide aber wären darauf angewiesen, ihre mit Erdgas betriebenen Anlagen zu behalten, mindestens so lange, bis vielleicht eines Tages Wasserstoff zur Verfügung steht. „Viele träumen davon, direkt unsere ganze Industrie zu elektrifizieren“, sagt von Glahn. „Dabei wird vergessen, dass das im Moment nicht effizient wäre und auch nicht besser für die Umwelt.“

„Sektor für Sektor schauen, was sinnvoll ist“

Mit solchen Argumenten ecken die Unternehmer häufig an. Denn Experten teilen diese Sicht nicht unbedingt oder nicht in vollem Umfang. „Aus Dekarbonisierungs-Perspektive wäre es schon sinnvoller, voll zu elektrifizieren“, sagt etwa Jan Rosenow, Energiewirtschafts-Professor an der Universität Oxford. Das Strommix-Argument lässt er nicht gelten. Es sei absehbar, dass in Zukunft der Erneuerbaren-Anteil weiter erheblich steigen werde. Kraft-Wärme-Kopplung sei „in Zukunft keine Technologie, die ich für sinnvoll halte, weil sie nach wie vor darauf basiert, fossile Brennstoffe in großem Stil zu verwenden“.

Die Alternativen sähen nicht für jede Industrie gleich aus, sagt Rosenow, „man muss Sektor für Sektor schauen, was sinnvoll ist“. Während zum Beispiel für viele Lebensmittelhersteller Großwärmepumpen eine Möglichkeit wären, seien diese für die extrem hohen Temperaturen in der Metallverarbeitung nicht denkbar. Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen wie die von Crespel & Deiters perspektivisch mit Wasserstoff zu fahren und daraus Strom zu erzeugen, hält der Experte jedenfalls auch in Zukunft für unrealistisch. „Ich wäre sehr skeptisch, ob der Wasserstoff dafür überhaupt zur Verfügung stehen wird“ – mal abgesehen davon, dass es sich wirtschaftlich „kaum darstellen“ lassen werde.

Hoffen auf eine Entlastung bei den Netzkosten

Eine Hybridisierung, wie sie Lars Baumgürtel bei Zinq geplant hat, könne hingegen aus Rosenows Sicht als Übergangslösung taugen. „Es könnte ein Weg sein, den in der Realität viele Unternehmen gehen werden“, sagt der Wissenschaftler. In vielen Betrieben werde aus Kostengründen nicht die gesamte Prozesswärme von heute auf morgen umgestellt werden, man müsse da „auch ein bisschen pragmatisch“ denken „und nicht zu dogmatisch“.

Auch Baumgürtel sagt, es sei wichtig, „nicht auf der Hundertprozentlösung zu beharren“. Um seine Idee, für die er Fördermittel beantragt hat, kostengünstiger umzusetzen, hofft er zudem auf weitere Unterstützung bei den Netzkosten. Die Anlage, die er sich vorstellt, müsse als „Entlastungsanlage“ nach dem Energiewirtschaftsgesetz anerkannt werden, fordert er. Wenn er in Überflusszeiten Strom abnimmt, will er am liebsten gar keine Netzentgelte mehr zahlen. Baumgürtel und von Glahn ­werben dafür, dass Baukostenzuschüsse für Netzanschlüsse entfallen, wenn Anlagen dem Stromsystem helfen.

Solche Zuschüsse sind in vielen Fällen von Unternehmen als Einmalbetrag an Netzbetreiber zu bezahlen, wenn für ihre Bedarfe eine neue Leitung vom allgemeinen Versorgungsnetz hin zu ihrem Betrieb gebaut werden muss. Die Bundesnetzagentur will künftig dort geringere Baukostenzuschüsse verlangen, wo der Anschluss einer Anlage dem Stromnetz hilft, und dort mehr Geld nehmen, wo der Zubau für das Netz weniger sinnvoll ist.

Klimafreundlichere Prozesswärme noch ganz am Anfang

In der Behörde wird derzeit fleißig über dynamische Netzentgelte diskutiert. Die würden tendenziell zweigleisige Anlagen wie die aus Lars Baumgürtels Studie belohnen, wenn sie in solchen Phasen Strom aus dem Netz ziehen, in denen das Netz es braucht. Wie eine mögliche Dynamisierung genau aussehen wird, entscheidet sich aber erst im kommenden Jahr. Noch diskutieren Behörde und Branche. Denn natürlich hat die Dynamisierung auch Verlierer. Etwa Unternehmen, die technisch nicht in der Lage sind, ihre Anlagen flexibel zu fahren. Oder die Netzbetreiber selbst, die mit Preisgestaltung und Abrechnung mehr Aufwand hätten.

Energiewirtschaftler Rosenow kann nachvollziehen, wenn Unternehmen wie Zinq oder Crespel & Deiters erst einmal weitermachen wie bisher. Daran liege es auch, dass erst drei bis vier Prozent der Prozesswärme in Europa bislang dekarbonisiert sind. „Wir sind da noch ganz am Anfang und sollten nicht zu dogmatisch sein. Denn die Alternative ist, dass die Betriebe weiterhin auf fossile Energie, also auf Erdgas setzen. Und das ist natürlich keine gute Alternative.“

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