Berlin verhandelt mit den Taliban – aber nicht für die Afghanen, die seit 2021 um ihr Leben kämpfen. Statt Humanität verfolgt die Bundesregierung vor allem ein Ziel: möglichst viele Geflüchtete loszuwerden. Die Chronik eines Versagens
Amir Khan Muttaqi, Außenminister der Taliban in Afghanistan
Foto: Elke Scholiers/Getty Images
Vor vier Jahren sind die extremistischen Taliban nach Kabul zurückgekehrt. Mittlerweile ist klar: Die neuen, alten Machthaber, die vor allem Mädchen und Frauen unterdrücken, sind auch in Deutschland angekommen.
Jüngst hieß es etwa aus Bonn, dass das dortige afghanische Generalkonsulat von den Taliban übernommen wurde. Bereits im Sommer hatte das Auswärtige Amt in Berlin erstmals zwei Vertreter des Taliban-Regimes akkreditiert, während viele der vorherigen Diplomat:innen einen Asylantrag stellen mussten. Hinzu kommen weitere Meldungen: Eine Taliban-Delegation auf Europa-Tournee, Vertreter des Bundesinnenministeriums, die Kabul besuchten.
Das einzige Ziel der Kooperation: Abschiebungen
Der Kontext, in dem sich all diese Entwicklungen abspielen, hat einen Namen: Abschiebungen. Die Taliban erleben einen diplomatischen Höhenflug, seit nicht nur rechte Politiker und einschlägige Boulevard-Medien sich überproportional auf kriminelle afghanische Geflüchtete konzentrieren. „Ihr habt Probleme mit unseren Leuten? Kein Problem, wir stehen bereit“, lautet die Botschaft des Regimes – und sie funktioniert.
Deutschland gehörte zu den ersten liberalen Demokratien Europas, die Taliban-Personal die Einreise gestatteten und sich nun mit dem Regime im Dialog befinden. Das Vorgehen Berlins war dabei wohl auch eine Art Türöffner für die Nachbarstaaten: Erst vor wenigen Wochen besuchten Taliban-Vertreter die Schweiz und Österreich, um etwaige „Abschiebekandidaten“ zu identifizieren.
Das Vorgehen Berlins war dabei wohl auch eine Art Türöffner für die Nachbarstaaten
Für das Regime, das bis dato nur von Russland als einziger Staat der Welt offiziell anerkannt wurde, ist das ein großer diplomatischer Erfolg. Er folgt auf die Ereignisse der letzten vier Jahre, denn seit ihrer Rückkehr stehen die Taliban bei weitem nicht so isoliert da, wie viele meinen. In zahlreichen asiatischen und nahöstlichen Staaten haben sie schon längst Botschaften und Konsulate übernommen.
Das alte Personal der Republik musste kooperieren oder seine Sachen packen. Letzteres betraf vor allem Frauen, denen die Taliban seit ihrer Rückkehr den Krieg erklärt haben: Schul- und Universitätsverbote bestehen weiterhin, ebenso wie zahlreiche Einschränkungen bei der Arbeit und im öffentlichen Raum.
Warum die deutsche Berichterstattung unpräzise ist
Die deutsche Berichterstattung zu diesem Thema könnte allerdings durchaus präziser sein. Jüngst schrieb etwa die Tagesschau, dass den Taliban mittels ihrer Übernahme in Bonn „sensible Daten“ in die Hände gefallen seien. Dabei finden sich ebenjene Daten, die meist zu Pässen oder Geburtsurkunden gehören, in der Zentrale in Kabul und werden von den Taliban somit schon seit über vier Jahren kontrolliert. Problematisch sind auch die Aussagen vieler Ex-Regierungsangestellter, die sich nun inszenieren wollen. Denn vielen von ihnen ging es nur um Macht, Posten und ein fettes Gehalt – weniger um Freiheit und Menschenrechte.
Es bleibt die Frage, ob man mit den Taliban jetzt lieber gar nicht verhandeln sollte. Immerhin, so argumentiert mittlerweile auch die Bundesregierung, gebe es weitaus schlimmere Regime, zu denen man diplomatische Beziehungen pflege. Damit hat sie nicht Unrecht. Kontakte nach Afghanistan sind auch nach dem Abzug der NATO wichtig.
Einsatz für Frauenrechte mit etwaigen Konsequenzen? Proteste gegen Zensur und die Taliban-Jagd auf kritische Journalist:innen? Nichts davon passiert
Immerhin gibt es weiterhin viele Afghanen und Afghaninnen, die vor den Taliban fliehen und denen man einiges schuldig ist – Stichwort Bundesaufnahmeprogramm – und die für ein Ausreisevisum nach Deutschland eigens nach Pakistan reisen müssen. Dort werden sie jedoch nicht nur wie Bürger zweiter Klasse behandelt, sondern ebenso von der deutschen Bürokratie zermürbt, entwürdigt und drangsaliert. Dieselbe Bürokratie ermöglicht die Einreise von Taliban-Vertretern nach Deutschland.
Das entscheidende Problem der deutschen Taliban-Politik: Man ist offen für Gespräche, „erkennt die Realitäten, aber nicht das Regime an“, wie es jüngst ein Diplomat des Auswärtigen Amtes während einer Veranstaltung mir gegenüber ausdrückte. Doch all dies tut man eben nur, weil man die Politik der Rechten nachahmt. Man spricht mit den Taliban, um das „Stadtbild zu verbessern“. Humanitäre Hilfe? Ernsthafter Einsatz für Frauenrechte mit etwaigen Konsequenzen? Proteste gegen Zensur und die Taliban-Jagd auf kritische Journalist:innen?
Nichts davon passiert. Von Deutschland nichts Neues.