Ich bin nicht für Falk Schloßer nach Grenzlitz gekommen, das stimmt, ich bin für Katja hier. Aber als ich ihn zum ersten Mal sehe, weiß ich sofort, dass es Falk Schloßer ist. Es ist am Abend in Janines Café, in der Kesselstraße, hinter dem dicken roten Turm, bei den Bürgern für Grenzlitz und den Zukunftsgrünen, weil Katja in Janines Café eingeladen hat, um über Klimaanpassung zu diskutieren.
Es ist sehr regnerisch an diesem Abend, das Maigelb wurde nachmittags eingeholt von einem Aprilgrau, das sich hinterrücks auf die satte Sonne stürzte, sie hätte sich ihrer Sache eben nicht so sicher sein sollen, diese dicke Maigelbsonne, und kaum passt sie nicht mehr auf, wird sie vom Aprilgrau gepackt, das sich gerade so stark auf dem erhitzten Marktplatz um die Ecke von Janines Café ergießt, dass es dampft. Auch hier drinnen dampft es, von den nassen Schuhen, von Jacken, die tropfend im Café rechts neben der Tür an der Garderobe hängen, eine über der anderen.
Ich sehe Falk Schloßer sofort, das heißt, ich erkenne ihn. Als einen von denen, also nicht einen von uns. Denn im Raum verteilt sitzen ja wir, das heißt, die Zukunftsgrünen von Grenzlitz, dazu die Älteren von ihnen, die alten Neuer-Weg-Leute, Bürgerrechtlerinnen der ersten Stunde, seit 1990, mindestens, verschmolzen mit jenen Grünen, die ich aus meiner Heimatstadt kenne, Dinkeldunst, schwarze und grüne und rote Regenschirme und Schuhe, die Enten tragen würden, würden Enten Schuhe tragen, diese abgerundeten Spitzen, die schon gar keine Spitzen mehr sind, halbherzige Kurven, als wäre der Schuh noch als Rohmasse zusammengedrückt worden, aus Versehen, vorne, gegen eine Wand, als wäre er in der falschen Form erkaltet, als würde er sich nichts trauen, dieser Schuh, bloß niemanden stören, bloß niemanden treten, bloß kein Loch in die Luft stechen beim Gehen, Entenschuhe eben, quakige Sohlen, quakige Hosen, quakige Fleecejacken. Dazwischen Falk Schloßer. Weiße Sneaker.
Natürlich weiß ich noch nicht, dass es Falk Schloßer ist, ich sehe aber: Er ist das Zentrum. Redet nicht mit denen, die Katja umringen. Frau Oberbürgermeisterin, wie hier schon gelacht wird. Katja Stötzel. Vielleicht bald Oberbürgermeisterin von Grenzlitz, Rand von Sachsen, Rand der Republik, beinahe Osteuropa. Falk Schloßer. Trägt seine Arme verschränkt vor der Brust, der sichtbar trainierten Brust. Breite Schultern, ein Körperpanzer, gebaut aus Muskeln. Sehr kurze Haare, an den Seiten stark rasiert, oben ein wenig länger, fast ein Seitenscheitel, aber nur fast. Dunkle Haare. Breiter Hals, sehr breiter Hals. Weißes Polohemd, schwarze Streifen an den Ärmeln und, was blitzt da von innen aus dem Kragen hervor, halt nein, sind das echt schwarz-rot-goldene Streifen?
Ich gehe nicht zu Katja, ich finde es entwürdigend, wie sie alle um sie herumstehen, und wer nicht bei ihr steht, schielt zu ihr hinüber, darauf lauernd, dass in dem Kreis um sie eine Lücke entsteht. All die Nasen hier, die sich in Richtung Macht drehen, sobald eine Macht den Raum betritt, da kann ich es immer platschen hören, wenn sich jemand sofort nach einer Autorität umdreht, dann platscht mein Respekt vor mir auf den Boden. Sie wird ihre Sache schon gut machen.
Ich setze mich. In dieselbe Reihe wie er, vier Stühle entfernt. Seine Jacke: nicht an der Garderobe, wie die anderen, nein. Über die Lehne gehängt. Meine auch. Tropft auf den Boden. Die Kapuze zwischen mir und der Lehne, mein Pulli saugt sich voll, von hinten in meinen Nacken rein. Kalt. Nicht schlimm. Falk Schloßers Aftershave dringt zu mir durch, durch den Kaffee-und-Dinkel-Geruch in Janines Café. Heute Morgen noch nicht, heute Morgen: Zimt und Kaffee, jetzt: Dinkel, es müssen die Entenschuhe sein, sie riechen nach Dinkel, immer. Dinkel und Zimt. Dinkel und Zimt, jetzt gemischt mit Menthol. Falk Schloßers Menthol. Auf gebräunter Haut.
Es kommt Bewegung in den Kreis um Katja, sie geht nach vorne, klack, klack, braune Lederstiefel mit Absätzen und ordentlicher Schuhspitze, positioniert sich neben Janines Tresen, faltet die Hände, stellt ihren rechten Absatz kantig nach vorne auf den Boden, Klima und Grenzlitz, sagt sie und klatscht in die Hände, Klima und die Limesregion, oh je, das sei ja so eine Sache. Gelächter. Arbeitsplätze, sagt Katja. Das Lachen verstummt. Ja, Arbeitsplätze. Aber sie wolle nicht über die Arbeitsplätze am Limes sprechen, über den Kohleausstieg, »das K-Wort«, grüne Augen, sprühende grüne Augen, die blonde, feine Augenbraue geht hoch, als sie es sagt: »das K-Wort«, wieder Gelächter in den Fleecejacken, quietschende Entenschuhe. Heute sei das Thema ein anderes: Klimaanpassung. Wenn die Temperatur im Sommer auf 40 Grad klettert. Wenn die Wolken so viel Regen auf Grenzlitz niederprasseln lassen, dass die Straßen zu Flüssen werden. Wie damals, bei dem großen Hochwasser, 2010. Falk Schloßer nickt. Das Hochwasser, 2010.
Katja klickt auf ihren Laptop, ein Foto vom Kopfsteinpflaster in der Kesselstraße erscheint an der Wand. Sie klickt weiter, und eine Steinplatte erscheint im Querschnitt, kein runder Kopfstein, sondern eine durchlöcherte Steinplatte, wie zusammengepresster Kies, durchlässig für Wasser, darunter eine Kanalisation, so soll das Wasser schön abfließen und zum Trinkwasser gesammelt werden. Sie spricht über das Anpflanzen von Bäumen, ein Bild von einer großen, breiten Eiche erscheint an der Wand, ein dicker Stamm, starke Äste, Quercus Robur steht da. »Hier haben wir eine Maßnahme für die Patriotinnen unter euch«, schmunzelt Katja, »das wird die Blauen sicher freuen, denn ein sehr guter Speicher für Treibhausgase ist ausgerechnet ein Baum, der in Deutschland eine lange Tradition hat: die deutsche Eiche.« Gemurmel in den ersten Reihen, ich sehe zu ihm rüber, zum einzigen Blauen im Raum, gerader Rücken, gerade Schultern, Falk Schloßer: ein leichtes Schmunzeln.
Das Licht geht an.
Falk Schloßers Arm schnellt hoch. Seine Hand. Seine rechte Hand zerschneidet die Luft. Ratsch. »Ja?« »Manche sind halt wirklich drauf angewiesen.« Stille. »Auf das Auto. Hier in der Region. Meine Ex-Frau etwa«, kollektives Schlucken für das »Ex«, »die pendelt jeden Tag nach Grünlau und zurück. Bringt auf dem Hinweg unsere Tochter zur Kita. Würde ohne Auto nicht gehen. Wieso muss man mit dem CO₂-Sparen denn beim Bürger anfangen? Wieso nicht bei der Wirtschaft?«
Falk Schloßer, Zentrum. Zwanzig Köpfe in die Mitte des Raumes gerichtet, vierzig Augen, aber er sieht nur ein Paar, das grüne Paar von Katja Stötzel. Nur Schloßer und Stötzel, wegen ihr ist er hier, jetzt kapiere ich, der will es echt wissen. Wie sie ist. Was sie denkt. Die Grüne. Wie das gehen soll. »Mal ehrlich, wenn ich hier in Grenzlitz nicht mehr Auto fahre und mein Auto verkaufe, dann fährt mein Dieselauto doch da hinten weiter, zehn Kilometer von hier entfernt, in Polen, und das soll dann dem Klima helfen? Jetzt mal ernsthaft. Ein Auto verpestet das Klima nicht so viel wie die Schwerindustrie. Fangt doch bei denen an! Nicht bei uns.«
Ich kann es spüren, auf meiner Haut, wie ein ganzer Raum voller Dinkelduft anfängt, Falk Schloßer zu hassen, er spürt es auch, die feinen Haare in seinem Nacken, sie vibrieren, Gänsehaut auf Falk Schloßers Nacken, er lehnt sich zurück, wendet den Blick nicht von Katja Stötzel. Dinkelgestank. Füllt den Raum. Kopfschütteln, Augenrollen, Geflüster, »von denen«, hört man, »den Blauen«. Als gäbe es die Frage nicht. Als gäbe es die Frage nicht, wie es denn dem Klima helfen soll, wenn das Dieselauto zehn Kilometer weiter fährt, wenn die Wärme weiter über Kohle und Erdgas läuft, und die Schwerindustrie, das nervt doch, dass jetzt so getan wird, als gäbe es diese Frage nicht, das nervt mich jetzt und das nervt Falk Schloßer jetzt, und zack. Sind wir beide raus. An meinem ersten Tag in Grenzlitz bin ich mit Falk Schloßer zusammen rausgefallen. Aus dem Dinkelgestank.
Katja nicht. »Ja«, sagte sie, »verstehe, natürlich, das geht ja vielen hier so. (…) Mein Mann pendelt auch jeden Tag rüber zur Uni in Grünlau, mit dem Auto, und auf dem Weg setzt er Emma in der Kita ab, das weißt du ja, Falk, denn wisst ihr«, jetzt geht sie ein paar Schritte auf uns zu, »wisst ihr, Falk hat auch eine kleine Tochter, Elli, sie und meine Tochter Emma sind gut befreundet, sie gehen in die gleiche Kita, und sie werden dort morgens von meinem Partner und Falks Partnerin abgesetzt – mit dem Auto.« Katja blitzt mich kurz an, aus dem Augenwinkel blitzt sie zu mir herüber, ich nicke, das macht sie wirklich gut. »Natürlich pendeln wir mit dem Auto, das tun wir alle, solange es keine besseren Alternativen gibt, und das sagte ich ja: Dass wir hier eine bessere Infrastruktur brauchen!«
Am Ende stehen sie alle auf, murmelnd, sie quietschen mit ihren Entenschuhen und versammeln sich zu kleinen Pulken, lachen, kratzen sich am Hinterkopf, nicken, und immer, immer wieder schielen sie rüber, durch den Raum hinüber, zu ihm. Falk Schloßer. Auch er steht auf, langsamer als die anderen, er nimmt seine Jacke, legt sie zusammen, geht zu Katja. Er redet mit ihr, die Jacke unter seinem Arm, ein perfektes viereckiges Paket, darüber sein muskulöser Arm, weißes Polohemd, schwarze Streifen. Von einem Bein auf das andere. Sie lacht. Er lacht. Sie gibt ihm die Hand. Er nickt. Er dreht sich um. Kommt zu mir. Schmunzelt.
»Hallo.« »Hallo?« »Schon überzeugend, oder?« »Katja Stötzel?« »Ja.« »Findest du? Bist aber nicht gerade ein Zukunftsgrüner, oder?« Da. Feuer. Er lacht, und seine Augen: Feuer. In seinen – blauen? Grauen? Blaugrauen Augen.
»Was verrät mich? Das Shirt?«
»Das Shirt. Ich meine: schwarz-rot-gold?!«
»Ist doch schick!«, er ruckelt seinen Hals zurecht.
»Deine Haare.«
»Was ist mit meinen Haaren.«
»Deine Sneaker.«
»Was ist mit meinen Sneakern.«
»Sind keine Entenschuhe.« Er lacht.
»Wer weiß schon, was ich wähle. Die Gedanken sind frei, oder nicht?«
»Sicher.«
»Und was wählst du?«
»Ich bin Katjas Coachin.«
»Oha.«
»Und du – ein Blauer?«
Ich ärgerte mich. Was soll das Fragezeichen. Ich wollte feststellen. »Und du ein Blauer.« Wie er sie genießt. Meine Unsicherheit. Er grinst. Schaut zur Seite. Verlagert das Gewicht auf sein anderes Bein. Starke Waden. Er streicht sich über den Kopf. Sachte, um die gegelten Haare nicht zu verformen. »Wär das ein Problem?« Ich denke an die Balken. Blaue Balken, wie sie länger werden, immer länger auf dem Bildschirm, blau wachsende Balken, über zwanzig Prozent, über dreißig Prozent. Und jetzt. Weiße Sneaker, weißes Poloshirt, und ja, schwarz-rot-gold schimmert der Kragen von innen, »ist das ein Problem?« »Kommt drauf an für wen, vermute ich.«
»Für dich?«
»Fragst du immer fremde Leute, was sie von deiner politischen Einstellung halten?«
»Du siehst anders aus.«
»Als wer?«
»Als die.«
»Wieso?«
»Deine Sneaker.«
»Was ist falsch mit meinen Sneakern?«
»Keine Entenschuhe.«
Ich muss lachen. »Und dein Regenschirm.« Leopardenmuster. »Deine Brille.« Runde Gläser.
»Ich komme aus Berlin.«
»Oh je.«
»Aus Berlin-Neukölln. Sonnenallee.«
»Oh Gott!«
Seine Funken sprühen mich an. Ich spüre sein Brennen hinter meinen Augen. Und wie sie zu ihm zurücksprühen.
Elsa Koester, stellvertretende Chefredakteurin des Freitag, führt mit ihrem neuen Roman in die sächsische Provinz, in die fiktive Stadt Grenzlitz. Hier stößt die Aufbruchsgeneration von 1989, die heute um ihre ostdeutsche Heimat ringt, auf jene, die aus Verzweiflung und Wut falschen Propheten anhängen.
Der Roman der 1984 in Berlin geborenen Autorin ist kein Erklärstück über den Aufstieg der Rechten, sondern erzählt von einer vom Wahlkampf erhitzten Stadt, von den Rückkehrer:innen und jenen, die sich zurückgesetzt und abgehängt fühlen.
Nach ihrem Debütroman Couscous mit Zimt (2020), in dem sie die Geschichte ihrer tunesischen Pied-noir-Familie erzählt, und dem autobiografisch geprägten Sachbuch Stiefmütter (2023) legt Koester mit Im Land der Wölfe ihren zweiten Roman vor. Am 16. September 2024 wird sie in der Historischen Villa in Frankfurt am Main aus daraus lesen.
Im Land der Wölfe Elsa Koester Frankfurter Verlagsanstalt 2024, 320 Seiten, 24 €