Im Gespräch | Stanišić: „Ich verfalle selbst gelegentlich in Schockstarre. Aufrichten, weiterkämpfen“

Saša Stanišić strahlt in der Begegnung große Freundlichkeit und Zufriedenheit aus. Das Glück einer von Literaturpreisen beschleunigten Karriere? Eines zumindest äußerlich bürgerlichen Lebens in Hamburg mit Frau und Kind und Einladungen ins Literaturhaus? Seine Leser wissen, dass sein Leben weit weniger friedlich mitten in den jugoslawischen Zerfallskriegen begonnen hat.

Geboren 1978 in Višegrad, nahe dem Fluss Drina, zwischen hegemonialen Ansprüchen der Serben auf der einen und der Kroaten auf der anderen Seite. Der Zufall der Geburt wäre beinah tödlich gewesen. Die bosnische Mutter, Politikdozentin, der Vater, ethnisch serbischer Betriebswirt, flüchteten 1992 mit ihm nach Heidelberg. Die Mutter kam in einer Wäscherei unter, der Vater auf dem Bau.

Der 14-jährige Saša hatte wenig zum Unterkommen, anfangs nicht einmal die deutsche Sprache. Den Rest der Familie hatte der Krieg über ganz Europa verstreut. Auch deutsche Ausländerbehörden taten das Ihrige, denn 1998 wurde den Eltern das Bleiberecht entzogen.

Sie wanderten in die USA aus. Saša durfte nach dem Abitur wegen eines aufmerksamen und wohlwollenden Sachbearbeiters bleiben. Er studierte, erst in Heidelberg, dann in Leipzig am Literaturinstitut. Was ihn leitete, war der Kindheitstraum vom „nur schreiben“. Aber nicht nur diesen Traum hatte er mitgebracht, auch das Erlebnis des Krieges. Dass nicht die Schulklingel die Mathestunde beendete, sondern eine Detonation. Als er 28 war, erschien sein Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert, der versucht, das Unvereinbare in eins zu setzen: das kindliche Erleben eines Krieges und die Lust am Schreiben.

Sein Widerspruchsgeist ist groß. Er bezweifelt die ihm schon im ersten Satz zugeschobene Zufriedenheit. Wie kann er heute zufrieden sein, womit zufrieden? Ein Missverständnis ist zu klären. Anlass für unser Gespräch ist sein gerade erschienener Band mit Reden. Er trägt einen für Stanišić-Bücher nicht ungewöhnlichen Titel: Mein Unglück beginnt damit, dass der Stromkreis als Rechteck abgebildet wird (Luchterhand, 160 S., 22 €).

der Freitag: Herr Stanišić, Sie beginnen die Auswahl Ihrer Reden mit einem Satz von Albert Camus: „Mir sind Menschen, die sich engagieren, lieber als engagierte Literatur.“ Warum diese Unterscheidung?

Der Satz beschreibt eine der zentralen Spannungen zwischen Schreiben und Leben, zwischen Wort und Tat, in der Frage: Was (be)wirkt mehr? Tat, natürlich die Tat. Camus sagt aber nicht, engagierte Literatur sei etwas Schlechtes. Er sagt nur: Mir sind Menschen lieber, die sich engagieren. Literatur tut ja ihres, bloß indirekter: Sie klärt auf, kann, wenn gut gemacht, erschüttern oder Trost spenden. Aber sie kann kein Kind aus der Armut holen, keine Lehrerin einstellen, keinen Genozid verhindern. Hier und dort kann sie aber diejenigen, die handeln, mit Argumenten und Bildern versorgen, ihnen Mut machen, weiterzumachen.

Und ganz ehrlich: Wir können 1.000 leidenschaftliche Essays über Bildungswesen schreiben, am nächsten Tag sitzt dasselbe Kind weiterhin in seiner maroden Schule. Literatur kann also zeigen und deuten und sogar voraussagen und warnen, sie kann aber nicht wirklich eingreifen. Wir brauchen sie dennoch, aber noch mehr brauchen wir engagierte Menschen.

Sie haben in Ihrem Buch „Herkunft“ Ihre neue Heimat in Besitz genommen. Das ist die Gabe eines Schriftstellers. Die meisten Migranten fühlen sich beim Thema Heimat mit einem Verlust konfrontiert. Was läuft an der Migration, so wie sie in Deutschland abläuft, falsch?

Migration ist stets eine individuelle Reise mit individuellen Umständen, auch individuellen Verlusten, mit Gepäck und Ängsten, mit Sprachbarrieren und Hoffnungen, mit Abschieden und Neuanfängen. Bei erzwungener Migration, bei Vertreibung oder Flucht, läuft bei uns schon bei der Organisation der Ankunft einiges schief. Der Prozess ist – so war das bei mir in den 1990ern auch schon – ein kühler, überkomplexer Verwaltungsakt, statt selbstverständliche und menschliche Aufgabe zu sein, den Schwächeren zu helfen, die oft nur noch das besitzen, was sie mitgebracht haben. Dann folgt das Warten. Das Warten auf ein Aktenzeichen, das Warten auf Sprachkurse, das Warten auf Anerkennung von Abschlüssen, Warten auf die Arbeitserlaubnis, hoffnungsloses Warten auch auf weniger Vorurteile und auf einen Vermieter, der bei einem nicht deutschen Namen nicht zusammenzuckt.

Mir sah und sieht man nicht an, dass ich nicht deutsch bin

Ein Verwaltungsakt folgt dem anderen. Wie kann dabei das Gefühl des Willkommenseins intakt bleiben?

Das Zugehörigkeitsgefühl und damit ein glückliches Ende einer Migrationsbewegung (aber auch das Glück von uns allen eigentlich) entsteht durch Vertrauen und Teilhabe, durch einen Job, der dich nicht ausbeutet, eine bezahlbare Wohnung, dann durch soziale Kontakte und ehrliche Behandlung von dir als Mensch auf Augenhöhe und nicht als Mensch zweiter Klasse. Was mich als Schriftsteller besonders interessiert, ist aber auch, dass wir mit einer Sprache der Vorverurteilung die Erzählung der Migration bestimmen.

Wenn Politik und Medien von „Wellen“ fantasieren, von „Obergrenzen“ träumen, von „Sicherheitsrisiken“ und nun von „Problemen im Stadtbild“, so sprechen sie nicht von echten Lösungen, sondern sie schüren Ängste. An deren Ende wird wieder eine Erzieherin abgeschoben. Dümmer geht es eigentlich kaum. Wir erzählen Migration nach wie vor eher als Problem und nicht als Chance.

Wer aber so erzählt, der übertreibt und erzeugt eine unnötige Spaltung zwischen „uns“ und „denen“. Ja, es gibt reale Integrationsherausforderungen. Gleichzeitig war Deutschland noch nie so divers wie heute und auch noch nie so sicher. Zu unserer deutschen „Heimat“ – und ich benutze den Begriff bewusst – gehört alles, was wir hier zusammen und konstruktiv füreinander erbauen. Der türkische Bäcker, bei dem du auf dem Weg zur Arbeit die Brötchen kaufst. Die vietnamesische Näherin, die ukrainische IT-Spezialistin und der afghanische über Konrad Adenauer Promovierende.

In Ihrer Rede zum Weilheimer Literaturpreis gehen Sie auf die Schutzbedürftigen ein, die vor Krieg, Armut oder Klimakatastrophen fliehen, und fragen, was eine Demokratie wert ist, wenn sie die Schwachen, Gefährdeten und Mittellosen im Stich lässt. Ja, was ist die Demokratie wert, wenn sie statt Teilhabe Ausgrenzung praktiziert?

Ausgrenzung von Schutzbedürftigen korreliert mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und erhöht die Wahrscheinlichkeit von rechtsextremen Tendenzen. Studien zeigen: Wer Geflüchtete als „Bedrohung“ wahrnimmt, stimmt mehrheitlich auch abwertenden Aussagen über andere Minderheiten zu. Auch die Methode „pars pro toto“ kennen wir, nach der von Einzelnen (migrantischen Straftätern zum Beispiel) Vorurteile auf ganze Gruppen übertragen werden (Migranten generell). Solcherlei Ausgrenzung und Übergeneralisierung von „Fremden“ stärkt kurzfristig das „Wir-Gefühl“ der Mehrheit, langfristig aber nimmt dadurch auch die Akzeptanz gegenüber aggressiven Handlungen gegen die Ausgegrenzten zu, und das Misstrauen zwischen den Gruppen wird größer. Polarisierung und Radikalisierung oder auch ein Rückzug in die eigene „Blase“, wie wir es in Deutschland gegenwärtig erleben, können die Folgen sein.

Ist das nicht am Ende systemisch?

Menschenfeindlichkeit existiert inzwischen in der Breite der Bevölkerung. Auch institutionelle diskriminierende Strukturen gibt es vielerorts, hier der Feuerwehrverein, dort der Polizeichat, drüben die politische Duldung und Öl-ins-Feuer-Gießen. Eine Demokratie, in der man sich gegen solcherlei Abwertungshandlungen gegenüber Gruppen politisch und auch medial nicht entschieden positioniert (Hallo, Talkshows!), verliert nicht nur ihre moralische Glaubwürdigkeit, sie schädigt sich auch selbst, indem sie antidemokratische Kräfte stärkt.

Dagegen besitzen Länder mit hoher und gezielter Inklusion von Migranten und gerade auch Schutzsuchenden laut Studien auch eine höhere Demokratiequalität. Das Vertrauen in demokratische Prozesse, so etwa in Kanada, ist insgesamt größer. Teilhabe korreliert also mit innerer Stabilität. Zwei Faktoren noch, die gern vergessen werden. Erstens: Ausgrenzung und erschwerte/bürokratisch umständliche Integrationsprozesse kosten. Und ein syrischer Arzt rettet nicht nur Leben, sondern zahlt auch Steuern. Und zweitens: Dieser Arzt tut das, was er gelernt hat. Was er kann. Meine Utopie ist die einer Gesellschaft, in der alle, unabhängig von ihrer Herkunft, die gleichen Chancen auf einen selbstbestimmten Zugriff auf ihr Leben und Handeln haben, statt über 1.000 Hürden springen zu müssen auf ihrem Weg.

Beim Rückblick auf Ihre Ankunft in Deutschland sprechen Sie über Menschen, die an Sie geglaubt und Ihnen Halt gegeben haben. Womit Sie sagen, dass Sie ein gutes Verhältnis von Deutschen zu Geflüchteten erlebt haben. Andere erleben Ausländerhass. Warum findet sich beides nebeneinander?

Die einfache Antwort lautet: Mir sah und sieht man nicht an, dass ich nicht deutsch bin. Die Deutschen haben sich traditionell eher dann nicht im Griff, wenn sie jemanden äußerlich als „anders“ wahrnehmen. Die komplexere Antwort: Beides existiert nebeneinander. Ausländerhass und Menschen also, die selbstverständlich und hilfsbereit auf dich zugehen, ganz egal, wo du herkommst. Mein Glück war, dass ich fast ausnahmslos Bekanntschaften machen durfte mit wohlwollenden, großartigen Menschen. Lehrer waren darunter, gute Nachbarn, Vereine, die uns unterstützt haben, auch ein Sportverein, immer wichtig. Gute Erfahrungen, wie ich sie hatte, sind also kein Beweis für ein gutes System, sondern für das Glück im System. Das System selbst bleibt selektiv wohlgesinnt, aber leider auch selektiv feindlich.

Recherche kann nicht nur eine Qual sein, wie Sie schreiben. Gerade wenn man wie Sie über Krieg und Genozid schreibt, bedeutet Recherche auch eine ethische Aufgabe. Sie haben Peter Handke vorgeworfen, dass er mit seiner Verteidigung der serbischen Seite daran gescheitert ist. Wollte er Tatsachen nicht akzeptieren, oder konnte er sie aus dem persönlichen Winkel seiner Herkunft nicht sehen?

Recherche ist ethische Pflicht, ja, besonders bei Texten zu Krieg. Handke sehe ich allerdings nicht an der „Verteidigung der serbischen Seite“ gescheitert, sondern als einen gescheiterten Autorund Intellektuellen im Kosmos seiner Aussagen und Texte zu „Jugoslawien“, etwa mit seiner Apologie für Milošević und seiner Leugnung der Kriegsverbrechen, inklusive des Srebrenica-Genozids und der Tausende ermordeter Bosniaken; einer Tat, die Handke als „Rachemassaker“ relativiert. Mit anderen Worten: Serbien selbst hat gegen Milošević demonstriert, Handke hat ihm eine Grabrede gehalten. Das ist keine allein persönliche Entscheidung, sondern eine ideologiegetriebene. Herkunft ist und sollte niemals sein: eine Scheuklappe gegen die Wahrheit, die einem nicht gefällt.

Sie beschreiben in der in Ihrem Buch nachzulesenden Poetikvorlesung die Literatur der Zukunft, wie Sie sie sich vorstellen. Sie wollen von ihr, dass sie Form mit Wahrheit verbindet, ästhetische Wucht mit ethischer Belastbarkeit. Was verlangen Sie von Literatur in Zeiten von Krieg und Umweltkrisen?

Eigentlich wünsche ich mir am ehesten einfach noch mehr Texte dazu. Und vor allem solche, in denen die Betroffenen mit ihren Geschichten zu Wort kommen. Und dass wir das Hoffnungsvolle mitdenken. Also nicht nur klagen, sondern informiert über die Lösungen und Auswege in unserer Sprache nachdenken.

Ich verfalle selbst gelegentlich in eine Schockstarre. Nur nicht in den Zynismus

In der Rede zum Wilhelm-Raabe-Preis haben Sie gesagt, Ihre Überzeugung sei, dass man aus einem Text als anderer, wenn es gut läuft, sogar als besserer Mensch heraustreten kann. Mit der Erfahrung der Entwertung der Worte stellt sich mir die Frage, ob das nicht naiv gedacht ist?

Vermutlich ist es das, ja. Aber nach den letzten Lesungen aus dem Buch hat das Publikum jeweils immer alle am Büchertisch ausliegenden Flyer der von mir unterstützten Organisationen und Vereine mitgenommen. Das macht die Menschen nicht per se besser, es zeigt aber, dass Worte zum Wirken ermutigen.

Ich entnehme Ihren Reden immer wieder einen Gedanken, der für mich nicht naiv ist, sondern mittlerweile sogar überlebensnotwendig. Mit den Worten von Wolf Biermann aus seinem Gedicht „Ermutigung“ (1968) heißt dieser: „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …“ Wie gelingt das, wenn man dabei nicht Verdrängung meint?

Ich klinge jetzt bestimmt wie ein billiger Ratgeber, aber here we are: trotz allem immer hinschauen und sich seriös informieren. Nachrichten, Dokus, Gespräche mit Betroffenen. Ohnmachtsgefühle (kurz) zulassen – warum nicht? –, Wut, Trauer, Hilflosigkeit. Ich verfalle selbst gelegentlich in eine Schockstarre. Nur nicht in den Zynismus. Dann sich aufrichten und weiterkämpfen. U

nd das Wichtigste vielleicht: sich engagieren. Im Kleinen reicht, wenn die Zeit es zulässt. Ehrenamtlich, Nachbarschaftshilfe, Leseförderung … es gibt so vieles. Wer keine Zeit hat, dafür aber Geld: spenden. Sich einbringen, das verhindert Verdrängung, und es lässt auch nicht verhärten.

Mein Unglück beginnt damit, dass der Stromkreis als Rechteck abgebildet ist Saša Stanišić Luchterhand 2025, 160 S., 22 €

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