Im Gespräch | Philosophin Lea Ypi: „Heimat ist beiläufig eine verlorene Zeit“

Mit Frei schrieb Lea Ypi vor vier Jahren einen Bestseller über ihre Kindheit im sozialistischen Albanien und das „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“. Erst als das System kollabiert, erfährt sie, wie verschlüsselt die Alltagskommunikation der Erwachsenen unter der Diktatur war.

Ihr neues Buch Aufrecht (Suhrkamp 2025) erzählt nun die Vorgeschichte ihrer Großmutter Leman Ypi, von deren Geburt 1918 in Thessaloniki über ihr Auswandern 1936 nach Albanien und zu dem, was folgte. Auch Lea Ypi selbst ist im Buch wieder präsent: Durch Kapitel, in denen sie ihrer inzwischen verstorbenen Großmutter heute hinterherrecherchiert.

der Freitag: Frau Ypi, Ihr Buch erscheint fast zeitgleich mit sehr unterschiedlichen Titeln. In Großbritannien, wo Sie leben, lautet er „Indignity“, was mit Demütigung oder Erniedrigung übersetzt werden kann. In Deutschland lautet er „Aufrecht“.

Lea Ypi: Es fiel mir sehr schwer, ein deutsches Wort zu finden, das „indignity“ wirklich entspricht. Mein Buch handelt vom Versuch, ein würdevolles Leben zu führen, wenn die äußeren Umstände das zu verhindern scheinen. Bei der deutschen Ausgabe verdeutlicht das der Untertitel: „Überleben im Zeitalter der Extreme“. Ich denke, beide Titel vermitteln, was es kostet, sich seine Integrität zu bewahren, rechtschaffen zu handeln und den Kopf oben zu behalten. Mir war wichtig, dass die Titel vermitteln, dass es nicht einfach um ein philosophisches Konzept geht, sondern um das, was für Einzelne daraus folgt. Im Englischen ist übrigens auch der Untertitel sehr anders: „A life reimagined“.

Die Ambivalenz ist noch schwerer ins Deutsche zu übertragen: Es kann bedeuten, dass ein Leben neu interpretiert wird oder dass es neu ausgedacht wird. Auslöser ist ein Foto, das ein Fremder in den sozialen Medien postet: Es zeigt Ihre Großmutter Leman 1941 in den Flitterwochen in Cortina im faschistischen Italien, sie trägt einen Pelzmantel und sieht glücklich aus, was zu Spekulationen und abfälligen Kommentaren führt, einer verdächtigt sie der Kollaboration. Sie versuchen dann in Staatsarchiven in Albanien und Griechenland herauszufinden, ob Ihre Großmutter eine andere Person war, als Sie dachten.

Es geht um eine Tote und die Frage, wer sie eigentlich war und was ihr Vermächtnis ist. Sie selbst ist nicht mehr da, um zu erklären, wer sie war. Und so gibt es unterschiedliche Autoritäten und ihre jeweilige Sicht auf sie: die staatlichen Archive, die Leute in den sozialen Netzwerken, Verwandte mit ihren Erinnerungen und ich als Autorin, die ihr Leben rekonstruiert. Im Kern handelt mein Buch davon, wie man durch diese unterschiedlichen Lesarten navigiert.

Social Media und die staatlichen Archive erweisen sich in Ihrem Buch als ähnlich unzuverlässig.

Wir haben die Illusion, dass wir in solchen Institutionen die Wahrheit finden, oder zumindest etwas Unverfälschteres als den Klatsch und Tratsch der sozialen Medien. Und dann entdeckt man natürlich, dass diese Institutionen auch Orte sind, an denen Macht ausgeübt wird und Geschichten manipuliert werden. Deshalb ist das Ende des Buches auch sehr offen, es soll beim Leser das gleiche Unbehagen hervorrufen, das ich im Archiv empfand.

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Zu Beginn des Romans beschreiben Sie die Welt, in der Ihre Großmutter in Thessaloniki aufwuchs, bevor sie mit 18 Jahren alleine nach Albanien ging. Dieses „Salonique la Magnifique“, wie ihre Ururgroßmutter es nennt, klingt fast magisch, im Haus gibt es einen Raum mit 100 Kanarienvögeln; stirbt einer, wird er umgehend ersetzt. Ist es Ihnen als Marxistin schwergefallen, über diese Welt beim Schreiben nicht zu urteilen?

In einem politischen Text hätte ich auf die Unterdrückung hinweisen müssen, die es auch im Osmanischen Reich gab. Die Position der marxistischen Philosophin unterscheidet sich sehr von der Position der Schriftstellerin. Als Philosophin habe ich eine kritische Brille auf und versuche, die Grenzen anderer Perspektiven aufzuzeigen und meine eigene Position zu vertreten. Wenn man literarisch schreibt, versucht man, den Standpunkt jeder dieser Figuren nachzuzeichnen. Und deshalb muss man sich mit jeder identifizieren, sei es meine Ururgroßmutter oder Gustav, der deutsche Geschäftsmann.

Gustav ist überzeugt, dass die liberalen Regierungen in Europa zu soft geworden sind und die Leute zu Recht genug haben von der Demokratie. Das erinnert an rechtsextreme Diskurse heute.

Gustav ist ein Proto-Faschist. Aber man schreibt keine gute Literatur, wenn man sich nicht mit seinen Charakteren identifiziert, selbst den problematischsten. Ich muss verstehen, wo kommt er her, was hat ihn geprägt, warum hängt er dieser Philosophie an, die im Grunde nietzscheanisch ist. Was die Saloniki-Nostalgie betrifft: Meine Familie war Teil der Elite und im Osmanischen Reich auf der Gewinnerseite, sie profitieren vom System. Und die Welt, an die ihr Status gebunden ist, zerfällt. Sie verlieren ihre Privilegien, ihre Identität, wer sie sind. Heimat stellen wir uns immer als Ort vor. Aber Heimat kann auch eine Zeit sein, die für immer verloren ist.

Wie würden Sie Ihr Genre nennen? Historische Autofiktion?

Gute Frage, ich weiß es nicht. Es ist ein Hybrid aus Fiktion und Sachbuch. Ich denke, es ist Teil dieses Buchs, dass man sich permanent fragt, mit welchem Genre man es zu tun hat. Was zunächst sachlich erscheint, verwandelt sich auch in Fiktion, denn die Überwachungsoffiziere und Autoritäten fabrizieren ihre eigenen Produkte, auf die wir uns einlassen. Mit Literatur verhält es sich umgekehrt, man beginnt mit etwas Fiktivem, einer Lüge, etwas Ausgedachtem. Aber diese Welt ist vielleicht wahrhaftiger, weil sie all diese verlorenen Leben zusammenfügt, die keinen Platz im Archiv haben. Vielleicht ist die Lüge der Literatur wahrhaftiger als die Wahrheit des Archivs.

Gelogen wird in diesem Buch oft. Angefangen beim Tod Ihres Ururgroßvaters, Ibrahim Pascha, der lange Zeit kaum etwas isst und dessen Organismus nach dem Verzehr von zu viel Baklava kollabiert. Ihre Ururgroßmutter ist nicht bereit, das anzuerkennen, und bittet den Arzt, den Totenschein zu modifizieren, sie einigen sich auf „Infarctus myocardii acutus“ – einen Herzanfall.

Das Osmanische Reich wurde „der kranke Mann Europas“ genannt. Der Verfall des Körpers von Ibrahim Pascha symbolisiert den Verfall des Staatskörpers. Die Frage der Würde hat eine private und eine kollektive Komponente. Mit der Geschichte kann meine Großmutter leben, sie soll der Nachwelt überliefert werden. Es ist wichtig für sie, dass sein Tod nicht lächerlich ist. Bei dieser Lüge geht es also um ein Vermächtnis und um Würde – dieselben Fragen, die sich mir für meine Großmutter stellten.

„Es ist wichtig, zu wissen, wer etwas gemacht hat, um zu verstehen, warum es passiert ist“, schreiben Sie. Enver Hoxha, der die Sozialistische Volksrepublik Albanien von 1946 bis 1985 zunehmend diktatorisch regierte, war ein Studienfreund Ihres Großvaters Asllan Ypi. In „Aufrecht“ erfahren wir dadurch einiges über Hoxhas Schwächen, er ist narzisstisch, hat einen Minderwertigkeitskomplex und glaubt, die Welt schulde ihm etwas. Lässt sich dadurch besser verstehen, wie es zur Diktatur kam?

Das ist ein Element, aber es hat auch viel mit den Kontinuitäten nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun und den Bedingungen, unter denen sich während des Krieges der Antifaschismus in Albanien entwickelte. Ich persönlich bin vorsichtig, politische Entscheidungen auf den Charakter des Staatschefs zu reduzieren …

So wie es bei Donald Trump heute oft versucht wird.

… aber er erklärt einige Aspekte. Zu den genannten Charaktereigenschaften würde ich das Bedürfnis nach Rache hinzufügen, auch persönlicher. Es ist Teil seiner Motivation, aber verbunden mit äußerst schwierigen politischen Umständen in einem Land, das nicht wirklich über einen öffentlichen Sektor verfügt, was ich anschaulich mache, wenn es um die 1930er geht. Das Bildungsniveau ist extrem niedrig, das Land fängt beim Aufbau seiner Institutionen bei Null an, denn es war immer abhängig vom Osmanischen Reich. Es gibt internationale Faktoren wie den Einfluss der Briten, die Gemengelage aus Partisanen, Monarchisten und Kommunisten. Und dann sieht sich das Land stets von außen bedroht, von Jugoslawien, von Griechenland. Es ist ein muslimisches Land, umgeben von christlichen und orthodoxen Ländern. Es gibt also eine ganze Reihe kultureller und politischer Faktoren, die erklären, warum der Kommunismus in dieser isolationistischen Form nach Albanien kam.

Sie haben jetzt zwei Romane geschrieben, der eine hat das Ende des Osmanischen Reiches als Hintergrund, der andere das Ende der Geschichte. Was könnte als drittes folgen? Das Ende der westlichen Vorherrschaft?

Ich denke, es könnte das Ende des Neoliberalismus sein. Ich plane eine Fortsetzung von Frei, die Equal heißen soll und in der es um das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus aus der Perspektive einer Migrantin im Westen gehen wird. Ich möchte an Themen aus dem Epilog von Frei anknüpfen, wo ich von den Schwierigkeiten erzähle, als Albanerin mit einer Linken im Westen konfrontiert zu sein, die wenig Sympathien und kaum Verständnis dafür hat, was es bedeutet, sich aus Osteuropa kommend im Westen integrieren zu wollen und gleichzeitig diese andere Welt immer mit sich herumzutragen. Es wird wohl wieder ein Hybrid aus Sachbuch und Fiktion. Jedes meiner Bücher kreist um ein Konzept. In Frei war es die Freiheit, in Aufrecht geht es um Würde und Erniedrigung, in Equal wird es um Gleichberechtigung gehen – was sie eigentlich bedeutet und wie man als Migrantin mit diesen Fragen zurechtkommt.

Lea Ypi wurde 1979 in Tirana geboren und lehrt Politische Theorie an der London School of Economics. 2024 hielt sie die Benjamin Lecture in Berlin zur Frage „Was ist moralischer Sozialismus?“. Ihr Buch Frei (2021) wurde in 35 Sprachen übersetzt

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