Aus den Lautsprechern des Busses tönte „Scheiß AfD“. Das Zentrum für Politische Schönheit hatte das Fahrzeug im Juli am Spreeufer so platziert, dass die aus ihm schallende Chormusik das „Sommerinterview“ mit AfD-Chefin Alice Weidel störte – ein Gespräch war unter diesen Umständen kaum noch möglich. Einer der strategischen Köpfe hinter der Aktion: Philipp Ruch. War das der richtige Umgang mit der AfD? Oder müssen wir uns sogar mit Gewalt gegen sie wehren? Ein Gespräch mit Jakob Augstein.
Jakob Augstein: Philipp, warum haben wir alle so lange gebraucht, um den Aufstieg der AfD aktiv wahrzunehmen?
Philipp Ruch: Ich glaube, dass das, was vor sich geht, nicht mit unseren Grundannahmen zusammengeht. Wir haben in der Schule gelernt: Faschismus ist etwas total Widerliches, etwas Abstoßendes … das ist das Schlimmste der Welt! Dabei ist Faschismus pure Energie. Schauen wir in unsere Gegenwart: Es ist pure politische Schwerkraft. Faschismus ist sexy! Wir werden dem Phänomen nicht gerecht, wenn wir nicht sehen, welche Anziehungskräfte es in unserer Gesellschaft entfesselt. Es sind gerade nicht nur die Abgehängten und Deklassierten, die den Faschismus wählen. Es sind die Begeisterten. Die mit den glühenden Augen, die in die Kameras schauen und für ihre Partei kämpfen. Sie sind viel begeisterter von ihrer Partei als wir beide von unseren.
Woher willst du denn wissen, welche Partei ich wähle?
Hattest du mir nicht gesagt: die FDP? (Lacht.)
Guter Witz. In deinem neuen Buch „Wenn das Gestern anklopft“ geht es viel um Weimar und die Lehren daraus. Wo genau siehst du die Parallelen zu heute?
Mich treibt das schon länger um. Wie verhält sich eine neue, totalitäre Partei unter demokratischen Bedingungen? Wie müssen wir uns das vorstellen? Das lässt sich in der Weimarer Republik gut beobachten: Die NSDAP hat sich erst getarnt und wird dann zur stärksten Partei im bürgerlichen Lager, bevor sie alle Hüllen fallen lässt.
Tino Chrupalla hat letztes Jahr in Gotha angekündigt, die SPD aufs Schafott zu führen – und das ist plastisch gemeint
Aber ist die AfD wirklich vergleichbar mit der NSDAP?
Der deutsche Rechtsextremismus ist im 20. Jahrhundert für die größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte verantwortlich, für den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg. Wenn dieser Rechtsextremismus nun wiederkehrt, in den Parlamenten sitzt und laut Umfragen wieder stärkste Partei ist, sollten wir das nicht bagatellisieren.
Plant die AfD denn etwas Vergleichbares wie den Holocaust?
Wir müssen mit allem rechnen. Das wichtigste Augenmerk, auf das ich seit zwei, drei Jahren versuche, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu lenken, ist die Gewaltandrohung der AfD gegen unsere politischen Eliten. Die AfD hat da glasklare Vorstellungen. Sie haben schon angekündigt, was sie vorhaben. Wir schmunzeln darüber gesellschaftlich, wenn sie davon reden, mit den Altparteien abzurechnen. Aber Tino Chrupalla, der Bundesvorsitzende der Partei, hat letztes Jahr in Gotha angekündigt, die SPD aufs Schafott zu führen. So was ist plastisch gemeint: mit Guillotine, einer Volksmenge und Scharfrichter.
Florian Illies hat in der „Zeit“ geschrieben, Deutschland sei nach 1929 ein Land in einem kaum beherrschbaren Strudel aus Orientierungslosigkeit, Hungersnot und Straßenkämpfen gewesen. Davon könne heute keine Rede sein. Deshalb sei es unwahrscheinlich, dass sich die Geschichte des Faschismus des 20. Jahrhunderts wiederhole.
Das stimmt. Wir befinden uns aktuell in einem Strudel von Orientierungslosigkeit, Sattheit und höchstens Straßenbild-Diskussionen. Aber ich bin ganz anderer Meinung als Herr Illies. Die deutsche Geschichtswissenschaft führt den Aufstieg der NSDAP stets auf die Weltwirtschaftskrise 1929 zurück. Wer sich da aber tiefer einliest und sich auch mit internationalen Experten beschäftigt, bemerkt, wie einsilbig, ja geradezu unwissenschaftlich dieser Erklärungsansatz ist. Weltweit führende Historiker zu Weimar wie Peter Fritzsche haben längst ausgeschlossen, dass der Aufstieg des deutschen Faschismus irgendetwas mit der Weltwirtschaftskrise zu tun hatte. Wir müssen uns klarmachen, dass die AfD in den Umfragen aktuell auf bis zu 27 Prozent kommt. Sie ist stärker als die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930, wo sie den Status der Splitterpartei verliert. Deswegen sage ich in dem neuen Sammelband mit Thomas Weber auch: Wir müssen davon ausgehen, dass die NSDAP ohne Weltwirtschaftskrise noch viel erfolgreicher gewesen wäre 1930!
Es gibt offenbar nicht nur Omas gegen Rechts. Es gibt auch Omas für Rechts
Was ist denn der Grund für den Aufstieg der AfD?
Wir suchen gerade. Es scheint mir aber sehr direkt mit der Attraktivität von Faschismus und Gewalt zu tun zu haben. Die Zeit hat in diesem Sommer einen Reporter ins Hinterland von Sachsen-Anhalt geschickt. Auf einem Edeka-Parkplatz entdeckt der eine „freundliche Oma mit dicken Brillengläsern“, die ihm „ohne jegliches Zucken oder Zögern“ ganz offen sagt, „dass man alle aus der Regierung lynchen müsse“. Es gibt also offenbar nicht nur Omas gegen Rechts. Es gibt auch Omas für Rechts. Jan Böhmermann hat das auch in seinem Spiegel-Interview thematisiert: Er kriegt Zuschriften, in denen steht: „Wenn du noch einmal was gegen die AfD sagst, schlitz ich dir die Kehle auf, du linksextreme Systemsau!“ Und dann guckt er aufs Profilbild, und da sieht er einen Familienvater mit Kind auf dem Arm. Solche Indizien müssen wir sammeln. Jede Theorie, die den Aufstieg und die Attraktivität der AfD erklären will, muss dieses Phänomen mit einbeziehen: Die beinharten Nazis, denen man es ansieht, sind überhaupt nicht relevant für den Faschismus. Es sind die nette Oma vor dem Edeka und der Papi, die von dem Gedanken regiert werden.
Glaubst du, es wird ein Verbotsverfahren gegen die AfD geben?
Ja. Das Verbotsverfahren wird kommen, so oder so.
Warum?
Ich kann mir kein Szenario vorstellen, in dem die AfD ein großes Erweckungserlebnis hat und führende Politiker vor die Kameras treten und plötzlich sagen: „Wir wurden über Nacht zum Grundgesetz bekehrt!“ Es gibt die Lippenbekenntnisse schon heute. Björn Höcke hat fantastische Deklarationen zur Geltung der Menschenrechte unterschrieben. Lies das mal! Du wirst deinen Augen nicht trauen. Das Verbotsverfahren wird trotzdem kommen. Die Frage ist nur, ob wir der AfD vorher weiter die Gelegenheit geben, demokratische Institutionen zu demolieren.
Aber wie soll das Verbot konkret ablaufen? Die AfD ist mittlerweile eine wirklich große Partei …
Das ist ganz einfach: Die Mandate verfallen, das Parteivermögen fällt an den Staat, und die Partei wird aufgelöst.
Könnte es nicht auch anders kommen und die CDU schmiedet eine Koalition mit der AfD?
Ja, natürlich. Deswegen müssen wir auch ganz genau den rechten Flügel der CDU beobachten. Ich habe dieses Szenario schon 2019 in einem Buch durchgespielt: Die AfD wird stärkste Partei, Jens Spahn führt die Koalitionsverhandlung und hat eine geniale Idee! Aus historischen Gründen verbietet es sich, dass die AfD den Bundeskanzler stellt. Dann erinnert sich Spahn an die nuller Jahre und den „Superminister“ Wolfgang Clement. Also schlägt er ein Superministerium vor und sagt: „Ihr von der AfD müsst auf das Kanzleramt verzichten, das ist total schwierig, wissen wir alle. Aber dafür kriegt ihr das Innen- und das Gesundheitsministerium.“ Und dann sagt Tino Chrupalla: „Gesundheit ist eher dein Ding. Wir nehmen das Verteidigungsministerium.“ Dann haben sie das Innen- und Verteidigungsministerium in der Hand.
Ein AfD-Politiker hat gesagt, dass die Mauern am Spreeufer nicht lang genug seien, um die alte Elite in Reihe aufzustellen und zu erschießen. Die haben sich das alles schon ganz genau ausgemalt
Dann kontrolliert die AfD das Gewaltmonopol des Staates.
Du hast es erfasst! Und die Medien konzentrieren sich einzig auf die Sensation: Eine stärkste Partei verzichtet auf das Kanzleramt. Welch Großmut. Spahn wird gefeiert als Held, der es geschafft hat, den Löwen zu bändigen und ihr die Kanzlerschaft zu entreißen. Er merkt gar nicht, dass sie etwas viel Wertvolleres bekommen hat, womit sie loslegen kann.
In welchem Jahr könnte dieses Szenario eintreten?
Nach heutigem Stand: 2033, zum 100-jährigen Jubiläum der Machtübergabe an die NSDAP. Die Geschichte ist bitterböse.
Wenn das Verbotsverfahren nicht klappt: Welche Mittel gibt es sonst noch gegen die AfD?
Lächerlich machen und für dumm erklären hilft nicht. Ich hatte kürzlich einen wichtigen AfD-Aussteiger in meinem neuen Podcast Zeitsturz, der Maximilian Krahs hypererfolgreiche Tiktok-Kampagne angeführt hat. Der hält sie alle nur für Dumme und Asoziale. Ich denke, diese These konnte man gut bis vorletztes Jahr durchhalten – danach verbietet sie sich eigentlich. In der Weimarer Republik konnten die politischen Beobachter im August 1932 allerdings auch nicht fassen, dass der dicke Göring Reichstagspräsident wird. Die konnten sich nicht vorstellen, dass das Zentrum – die damalige CDU – sich darauf überhaupt einlassen würde. Dieselbe Fassungslosigkeit: bei Hitler. Da hieß es: „Dieser Bierzeltredner, dieser Agitator, der ist ja nicht mal deutscher Staatsbürger.“ Die Leute haben gelacht über die NSDAP. Hitler schien für die meisten die Anmutung eines Kellners oder Friseurs zu haben. Wir sollten daraus lernen, die Rechten sehr, sehr ernst zu nehmen und das, was sie sagen, auf die Goldwaage zu legen. Sie geben sich zugeknöpft, aber ab und an rutscht einem mal ein Satz raus. Ein AfD-Politiker hat beispielsweise gesagt, dass die Mauern am Spreeufer nicht lang genug seien, um die alte Elite in Reihe aufzustellen und zu erschießen. Die haben sich das alles schon ganz genau ausgemalt und stoßen auf Probleme.
Aktuell streitet die AfD unter anderem heftig über das „Remigrationskonzept“ von Martin Sellner. Vielleicht zerlegt sie sich eines Tages von selbst?
Es gibt viele, die bei Streitereien frohlocken. In der AfD herrscht aber ganz grundsätzlich ein Hauen und Stechen. Das war bei der NSDAP ganz genauso. Da hat jeder jedem den Kopf eingeschlagen und war bereit zum Äußersten. Kurz vor der Reichstagswahl am 14. September 1930 tritt der SA-Chef Franz von Pfeffer zurück. Die Presse schreibt: Jetzt ist die NSDAP am Ende. Otto Strasser, der den nationalen Sozialismus in der Partei vertritt, wird im Juli 1930 rauskatapultiert. Es ist die Sensation in der Presse. Zwei Monate später verneunfachen sie ihre Reichstagsmandate. Von 12 auf 107 Sitze. Auf Spaltung, Skandale und inneren Streit zu setzen, ist bei faschistischen Parteien fatal. Wir sollten in dieser Beziehung überhaupt nichts hoffen. Und die Medien machen sich mitschuldig, wenn sie immer suggerieren, gleich zerfällt die Partei und alles wird gut.
Vor ein paar Wochen war Jette Nietzard, damals noch Vorsitzende der Grünen Jugend, zu Gast im „Freitag“-Salon. Sie hat hier laut darüber nachgedacht, ob man die AfD zur Not mit Waffen bekämpfen müsse. Was denkst du darüber? Ist das notwendig?
In Artikel 20 des Grundgesetzes steht alles zur Abwendung von Tyrannei und zu den Notwehrrechten drin. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich sagen, dass wir viel mildere Mittel zur Verfügung haben. Im Januar, Februar und März 2024 waren fast zehn Millionen Menschen gegen die AfD auf der Straße. Wenn die kommen, ist Ende Gelände. Ich glaube auch, dass der rechte Flügel der CDU total unterschätzt, was für einen Sturm er losbrechen würde, wenn er mit der AfD zusammenarbeiten will. Jetzt kommt alles darauf an, so viele Menschen wie möglich festzunageln: Was würdest du tun, wenn Schwarz-Blau an die Macht kommt und die Jurist*innen sagen, das Grundgesetz gilt nicht mehr? Was wirst du dann tun?
Das Gespräch fand am 13. Oktober im Renaissance-Theater Berlin statt.