Im Gespräch | Online-Aktivistin Susanne Siegert: „Wir zu tun sein dasjenige Holocaust-Gedenken demokratisieren“

Mit ihrem Instagram-Kanal klärt Susanne Siegert über die Verbrechen der NS-Zeit auf und erreicht damit fast 200.000 Menschen. Jetzt hat sie ihr erstes Buch Gedenken neu denken veröffentlicht. Siegert zeigt darin nicht nur Lücken im Holocaust-Gedenken auf, sondern appelliert für ein Holocaust-Gedenken, das sowohl die eigene Familiengeschichte als auch die Tätergesellschaft stärker einbindet.

der Freitag: Frau Siegert, Sie haben vor fünf Jahren auf Instagram begonnen, jeden Tag einen Post über die Opfer des KZ-Außenlager Mühldorfer Hart, nahe ihrem Heimatort, zu veröffentlichen. Was hat Sie motiviert, das durchzuhalten?

Susanne Siegert: Da war so eine Mischung aus Neugier, Verpflichtung gegenüber den Leuten, die mir gefolgt sind und gegenüber den Verfolgten, ihnen einen Platz zu widmen. Ich habe schnell gemerkt, wie viel man über die Menschen, die dort hin deportiert wurden, rausfinden kann, wenn man mal ein bisschen recherchiert. Gerade weil man noch so wenig über die vermeintlich kleinen Verbrechensorte weiß, war es mein Wunsch, so vielen Personen, wie es geht, einen Platz zu widmen.

Sie haben irgendwann auch angefangen, über die Rolle Ihrer eigenen Verwandten in der NS-Zeit zu recherchieren – für viele ein Tabuthema. Wie war das in Ihrer Familie?

Meine Familie war da sehr offen, über sowas wurde bei uns schon immer gesprochen. Mir fiel nur irgendwann auf, dass das Wissen doch nur sehr oberflächlich war. Ich wusste beispielsweise zwar, dass meine Uropas Teil der Wehrmacht gewesen, aber nie, wo sie stationiert waren. Das war der Moment, an dem ich auch angefangen habe, Anfragen für Dokumente beim Bundesarchiv zu stellen.

Man muss nicht nach Auschwitz fahren, um sich einen Tatort der Nazi-Verbrechen anzusehen. Oft reicht es schon, mal zu Hause vor Ort zu recherchieren

Susanne Siegert

In ihrem neuen Buch plädieren sie dafür, das Gedenken über die NS-Zeit stärker an die eigene Familiengeschichte zu binden. Was verändert diese Art des Gedenkens?

Die NS-Geschichte fühlt sich einfach für viele, da schließe ich mich nicht aus, wie eine sehr abstrakte und weit entfernte Geschichte an. Die eigene Familiengeschichte hingegen ist viel näher an einem dran und bietet viele Anknüpfungspunkte, die Geschichte greifbar zu machen. Wenn man sich seinen Stammbaum anschaut, sind da oft nur zwei Zeilen zwischen einem selbst und den Menschen, die in der Wehrmacht gekämpft haben oder bei der SS waren. Man muss nicht nach Auschwitz fahren, um sich einen Tatort der Nazi-Verbrechen anzusehen. Oft reicht es schon, mal zu Hause vor Ort zu recherchieren. Da findet man häufig Orte, die man mit dem Fahrrad erreichen kann.

Was muss sich aus Ihrer Sicht in Zukunft am Gedenken verändern?

Mein Ziel ist es, das Gedenken zu demokratisieren. Das heißt, dass wirklich alle mitmachen. Dass man versteht, dass es ein Gedenken abseits von institutionalisierten Gedenkveranstaltungen geben kann, das auch im Privaten stattfindet, wenn man mit offenen Augen durch die Gegend geht. Das führt dann hoffentlich dazu, anders als bisher über die Dinge zu sprechen, wenn es um Widerstandserzählungen oder Nazi-Tatorte geht. Das soll nicht bedeuten, dass wir als Angehörige der ehemaligen Tätergesellschaft den Überlebenden oder deren Angehörigen das Gedenken entreißen, sondern dass wir uns unserer eigenen Rolle bewusst werden, statt selbst die Rolle der Opfer zu spielen.

Öffentliches Gedenken ist kein begrenztes Spielfeld. Mehr Wissen über den Holocaust bedeutet nicht weniger Wissen über Kolonialverbrechen, ganz im Gegenteil

Susanne Siegert

Stimmen wie der Historiker A. Dirk Moses behaupten, dass das Holocaust-Gedenken in Deutschland andere Verbrechen in den Hintergrund rücken würde. Werden da Verbrechen gegeneinander ausgespielt?

An manchen Stellen geht es natürlich auch um einen Kampf von Ressourcen. Im Lehrplan hat man nur ein begrenztes Kontingent an Stunden, da gibt es eine gewisse Anzahl für den Holocaust. Wenn man mehr für Kolonialverbrechen bereitstellen möchte, muss man die vermutlich an irgendeiner Stelle wieder wegnehmen. Öffentliches Gedenken aber ist kein begrenztes Spielfeld. Mehr Wissen über den Holocaust bedeutet nicht weniger Wissen über Kolonialverbrechen, ganz im Gegenteil: Das Beschäftigen mit dem Holocaust finde ich sogar förderlich, um Kolonialverbrechen überhaupt einordnen zu können. Ich habe zwar ein Buch über das Holocaust-Gedenken geschrieben, aber ich habe in der Zeit so viel wie noch nie über Kolonialverbrechen gelernt.

Der verbreitete Mythos vom sogenannten Befehlsnotstand besagt, dass Wehrmachtssoldaten während des Zweiten Weltkriegs aus Angst vor drakonischen Strafen gezwungen waren, jeden Befehl auszuführen. Sie hingegen zeigen, dass das nur bedingt zutrifft?

Aus meiner Dachgeschosswohnung heraus lässt sich natürlich leicht behaupten, dass alle eine Wahl gehabt hätten. Das war natürlich nicht so. Es war an vielen Stellen schlicht lebensgefährlich, sich zu widersetzen – denken wir nur mal an die Fahnenflucht in der Wehrmacht, diese Menschen wurden häufig erschossen. Es gibt aber genug Beispiele, in denen sich Menschen widersetzt haben und nicht mit dem Tod bestraft wurden. Zu dieser Alltagssolidarität war ein Großteil der Menschen aus der Tätergesellschaft aber nicht bereit. Stattdessen haben Sie die Häftlinge teilweise noch gequält, selbst wenn gar keine vermeintliche Notwendigkeit geschweige denn Befehlsnotstand bestand.

Wir müssen wegkommen von diesen leeren Worthülsen hin zu einer Sprache, die die Tatsachen klar benennt

Susanne Siegert

Wie kann denn ein Gedenken aussehen, das die Tätergesellschaft in den Vordergrund rückt?

Ich denke, wir müssen von diesem leeren Sprechen abkommen, bei dem alle zu einer homogenen Masse werden. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Ich habe neulich ein Video über die Bücherverbrennung aufgenommen und schrieb dabei zunächst in mein Skript, die Bücher seien von Nazis verbrannt worden. Dabei waren das nicht Nazis, sondern Studierende, Privatpersonen, die total begeistert vom NS-Regime waren! Und das meine ich: Dass wir wegkommen von diesen leeren Worthülsen hin zu einer Sprache, die die Tatsachen klar benennt. Das geht bestimmt nicht überall, aber wo man das kann, sollte man das machen.

In Deutschland wird immer wieder diskutiert, einen Gedenkstättenbesuch zur Pflicht zu machen. Sie halten es für einen Irrglauben, dass das Holocaustgedenken uns zu besseren, demokratischeren Menschen macht. Was kann Gedenken denn dann überhaupt leisten?

In einem Land, in dem nach wie vor Nachfahren von Menschen leben, die von den Nazis verfolgt oder ermordet wurden, hat Gedenken in erster Linie etwas mit Respekt zu tun. Die Nachfahren leben in einem Land gemeinsam mit Menschen wie mir, die von Tätern und Täterinnen abstammen. Ich fand diese Frage schon immer befremdlich, warum wir gedenken sollen. Das ist doch absurd in einem Land, in dem vor nicht allzu langer Zeit der Holocaust stattgefunden hat und in dem es immer noch zahlreiche Spuren davon gibt. Auch die Beziehungen innerhalb der Familien, seien es Nachfahren von Täterinnen und Tätern oder Opfer, sind doch davon geprägt. Wie hätte die Erziehung meiner Mutter wohl ausgesehen, wenn ihr Vater nicht ohne Vater aufgewachsen wäre, weil der im Krieg gefallen ist? Wenn man Gedenken nur nach seinem Nutzen bewertet, werden die historischen Zusammenhänge auf eine Schablone reduziert, die der Geschichte nicht gerecht werden.

Der Raum für Empathie mit den jüdischen Opfern der Shoa ist seit dem 7. Oktober 2023 nochmal deutlich kleiner geworden

Susanne Siegert

Der Überfall der Hamas auf Israel ist mittlerweile zwei Jahre her. Hat sich das Gedenken aus ihrer Sicht seitdem verändert?

Wenn ich in meinen Kommentarbereich schaue, sehe ich definitiv eine Veränderung. Der Raum für Empathie mit den jüdischen Opfern der Shoa ist seit dem 7. Oktober 2023 nochmal deutlich kleiner geworden. Als ich ein Video über griechische Jüdinnen und Juden gemacht habe, die über Wochen von einer kleinen Insel nach Auschwitz deportiert wurden, war einer der ersten Kommentare: „Ah ja, jetzt machen die dasselbe in Gaza“. Das ist komplett absurd. Ich sehe meine Aufgabe darin, danach zu fragen, was die Verfolgungsgeschichte von Jüdinnen und Juden durch die Nazis so beispiellos macht. In damaligen Formulierungen und Denkmustern erkennt man automatisch auch Dinge, die man bis heute im Sprechen über Jüdinnen und Juden, aber eben gerade auch im Sprechen über Israel feststellen kann.

Was können die sozialen Medien für die Gedenkarbeit leisten, was traditionelle Gedenkarbeit nicht leisten kann?

In den sozialen Medien können die Personen selbst entscheiden, was sie sich wann anschauen. Gedenkarbeit findet ja häufig in der Schule über Gedenkstätten- oder Museumsbesuche statt, die auch einem gewissen Zwang unterworfen sind. Wenn man in der Bahn sitzt, auf TikTok herumscrollt und irgendwann meine Videos entdeckt, kann man allerdings selbst entscheiden, wie viele man sich davon anschaut, wann man die App zumacht oder ob man weiter recherchiert. Das ersetzt keine klassischen Gedenkformen, aber kann ein Türöffner sein, jemanden überhaupt dafür zu interessieren, eine Gedenkstätte zu besuchen, sich einen Film anzuschauen oder ein Buch zum Thema zu lesen. Ich würde mir wünschen, dass Institutionen wie Stiftungen, Gedenkstätten oder Museen diesen Vorteil der sozialen Medien stärker nutzen, um Menschen zu erreichen, die sich sonst vielleicht nicht mit dem Thema beschäftigen würden. Das ändert einfach viel, wenn ich Menschen auf den Plattformen erreiche, auf denen sie viel Zeit verbringen, auf denen in einer Sprache gesprochen wird, die ich verstehe, von einer Person, die ich vielleicht auch sympathisch finde.

In ihrem Buch machen Sie auch auf Opfergruppen aufmerksam, die lange nicht als solche anerkannt wurden.

Sinti und Roma wurden noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg kriminalisiert, da wurde teilweise die gleiche rassistische Sprache aus der NS-Zeit verwendet. Was nicht verwunderlich ist, wenn wir bedenken, dass dieselben Personen, die bei den Deportationen von Sinti und Roma geholfen haben, auch für die Gutachten der beantragten Entschädigungszahlungen an Sinti und Roma verantwortlich waren. Die Ideologie hört eben nicht mit einem Fingerschnipsen auf.

Susanne Siegert ist 1992 in Bayern geboren. Die Aktivistin klärt auf Instagram und TikTok unter @keine.erinnerungskultur über den Holocaust auf. Für ihre Arbeit erhielt sie 2024 den Grimme Online Award, 2025 den Margot Friedländer Preis. Siegert lebt in Leipzig. Ihr Buch Gedenken neu denken ist soeben bei Piper erschienen (240 S., 18 €)

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