Als sich Payal Kapadia an diesem Vormittag zum Video-Interview aus Mumbai zuschaltet, donnert es im Hintergrund lautstark. Lachend entschuldigt sich die 38-jährige Filmemacherin im Voraus für die womöglich wackelige Internetverbindung, „bei dem Wetter weiß man nie“.
Die nächste halbe Stunde bleibt dann doch alles stabil, um über ihr Spielfilmdebüt All We Imagine As Light zu sprechen, mit dem sie als erste indische Regisseurin im Mai in Cannes mit dem Grand Prix der Jury ausgezeichnet wurde und das nun im Kino anläuft. Darin erzählt sie vom prekären Alltag dreier Frauen, die im Krankenhaus von Mumbai arbeiten. Eine Ode an weibliche Solidarität über Generationen hinweg und zugleich eine ambivalente Liebeserklärung an ihre Heimatstadt, die in Bildern eher angedeutet als ausbuchstabiert wird.
der Freitag: Frau Kapadia, wie ist die Idee zu „All We Imagine as Light“ entstanden?
Payal Kapadia: In meinem letzten Studienjahr an der Filmhochschule, 2018, war meine 95-jährige Oma nach einem Sturz lange im Krankenhaus. Ich besuchte sie oft und unterhielt mich viel mit den Krankenschwestern. Kliniken sind ein interessanter Mikrokosmos, weil es ein öffentlicher Raum mit vielen arbeitenden Frauen ist. Erst wollte ich nur einen Kurzfilm drehen, aber mit der Zeit entwickelten sich die Ideen. Ich selbst wurde älter, unabhängiger, Freundschaften wurden wichtiger als Familie. So wurde es immer mehr zu einem Film, der von Freundschaft handelt. Weil ich das Filmemachen nicht als etwas betrachte, das außerhalb von mir liegt, geht es um Fragen, die ich über die Welt um mich herum habe und über meine Beziehung zu ihr.
Im Mittelpunkt stehen dabei drei Frauen und deren Alltag …
Ich wollte Frauen aus verschiedenen Generationen zeigen, die Kluft zwischen ihnen, aber auch das Verbindende. Ich hinterfrage mich ständig selbst. Wie verhalte ich mich Freundinnen gegenüber? Was bedeutet es, ein guter Mensch zu sein? Eine gute Feministin? Das hat sich in den Film eingeschlichen. Die Jüngere, Anu, liebt einen Muslim und stellt Traditionen und ungeschriebene Regeln ihrer Hindu-Familie in Frage. Prabha hingegen befolgt eher die Konventionen. Sie hat das Patriarchat unserer Gesellschaft tief verinnerlicht. Und wegen dieses Patriarchats sind Frauenfreundschaften in Indien, oder zumindest unter den Frauen, die ich kenne, stets prekär. Wir werden gegeneinander ausgespielt. Der Film ist meine Utopie, solidarischer und freundlicher zueinander zu sein.
Wie haben Sie die Intimität und besondere Stimmung des Films geschaffen?
Ich muss zugeben, dass ich zunächst nicht genau wusste, welchen Ton ich treffen sollte. Vor den Dreharbeiten haben wir drei Wochen eine Art Workshop gemacht, sie wohnten alle bei mir. Wir sind jeden Morgen aufgewacht und haben Szenen gespielt, schon mit der Kamera, und haben so gemeinsam die Sprache des Films entwickelt und Vertrauen zueinander aufgebaut. Ein anderes Element war die Stadt selbst. Ich bin in Mumbai aufgewachsen. Hier gibt es nur zwei Jahreszeiten. Die eine ist der Monsun und die andere der Nicht-Monsun. Es ist eine sehr heiße und sehr feuchte Stadt. Vor allem die Monsunzeit ist speziell, weil das Licht sehr diffus ist. Tagsüber scheint kaum die Sonne, aber abends gibt es ein brillantes blaues Licht. Aber es ist auch furchtbar. Wenn es in Mumbai regnet, ist es wirklich schwierig, sich in der Stadt zurechtzufinden, weil alles überflutet wird. Es herrscht Alarmstufe Rot, man kann kaum das Haus verlassen. Diese Widersprüche wollte ich zeigen.
Inwieweit hat Ihre Erfahrung als Dokumentarfilmemacherin „All We Imagine as Light“ beeinflusst?
So seltsam das auch klingen mag, zuerst fühlte ich mich vom Rahmen des Fiktionalen eingeschränkt. Beim Dokumentarfilm muss man sich nicht so viele Gedanken über bestimmte Dinge machen, man kann es leichter fließen lassen. Wir fingen an, viel in den Straßen von Mumbai zu drehen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich die Stadt filmisch darstellen lässt. Wir liefen herum, improvisierten Szenen mit Freunden und überlegten erst danach, wie wir sie einbauen könnten.
Viele Szenen spielen an öffentlichen Orten, auf überfüllten Bahnsteigen und Nachtmärkten. Wie gelang das ganz praktisch?
Indem wir meist ohne Genehmigungen gedreht haben. Das hätten wir uns anders gar nicht leisten können. Mumbai ist eine Filmstadt, hier entstehen ständig große Kinofilme und Werbespots. Jeder weiß also, dass man für seine Drehorte viel Geld verlangen kann. Wir sind oft nur mit einer kleinen Digitalkamera losgezogen, damit wir nicht zu sehr auffallen. Wir haben auch viel aus dem Auto heraus gedreht, und wenn doch mal Polizei auftauchte, waren wir schnell wieder weg.
Im Film heißt es an einer Stelle, Mumbai sei keine Stadt der Träume, sondern eine Stadt der Illusionen. Sehen Sie das auch so?
Es ist eine Stadt der Träume, aber sie lässt einen oft im Stich. Bei großen Schwierigkeiten, einer Überschwemmung etwa, helfen sich die Leute gegenseitig, und jeder ist stolz auf sich selbst und nennt das den Geist von Mumbai. Aber das kann nicht verbergen, dass die Menschen eigentlich keine andere Wahl haben, als weiterzumachen. Was wir also den Geist von Mumbai nennen, ist im Grunde nur eine Art, zu überleben, denn es gibt keine andere Wahl.
In Cannes wurden Sie mit dem Grand Prix ausgezeichnet, als erste indische Regisseurin in der Festivalgeschichte …
Die Auszeichnung kam für mich unerwartet, und auch wenn das jetzt kindisch klingt, es war sehr cool! Mit meinem ersten Spielfilm gleich zum Wettbewerb von Cannes eingeladen zu werden, ist eine große Ehre. Seit dem Preis konnten wir den Film in über 50 Ländern präsentieren, und zu wissen, dass so viele unterschiedliche Menschen ihn sehen, ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
Wie waren die Reaktionen in Ihrer Heimat?
Sehr positiv, seit Ende November läuft er in den indischen Kinos. Aber man muss klar sagen: Es ist ein überschaubares, cinephiles Publikum, das in meinen Film geht.
Ihre Mutter ist die Malerin und Videokünstlerin Nalini Malani. War sie ein Einfluss für Sie, Filmemacherin zu werden?
Auf jeden Fall. Damals war Videoschnitt noch nicht digital, man musste ständig Bänder vor- und zurückspulen. Weil meine Mutter kein Budget hatte, konnte sie sich dafür kein Studio mieten, sondern saß mit ihrem Editor zwangsläufig immer an unserem Küchentisch. Dort sichteten sie ihre Bänder, fertigten Protokolle an und verbrachten Stunden mit dieser akribischen Tätigkeit. Als junges Mädchen war ich sehr fasziniert von dem, was sie da getan haben. Als sie mir ihre Arbeit erklärten, war ich völlig aus dem Häuschen, denn ich hatte mir nie vorgestellt, dass Schnitt etwas ist, das in Filmen vorkommt. Plötzlich fing ich an, Kino so zu sehen, als ob ich die Matrix betreten hätte. Ich erkannte das Design der Dinge und fühlte mich wahnsinnig klug. Ab dem Moment wollte ich Schnittmeisterin werden. Aber dann wurde ich nicht an der Filmhochschule für Schnitt aufgenommen und habe die nächsten fünf Jahre in Mumbai gejobbt, bevor ich mich für Regie bewarb und zugelassen wurde.
Ihre Vorbilder stammen vor allem aus dem europäischen Kino. Warum?
Während meines Filmstudiums habe ich die Filme der Nouvelle Vague verschlungen, auch Filme aus Osteuropa, der Sowjetunion. Das hat mich mehr geprägt als das Kino meiner Heimat. Vor allem Agnès Varda und Chantal Akerman, weil sie sich nie an eine bestimmte Form gehalten haben. Sie haben bei ihren Filmen immer experimentiert, jeder Film war anders, mal Musical, dokumentarische Elemente, mal Voiceover. Diese Neugierde, die Themen, aber auch das Wie haben mich begeistert. Auch Claire Denis und Alice Rohrwacher sind Filmemacherinnen, die ich sehr bewundere.
Warum schafft es indisches Kino jenseits von Bollywood selten zu internationaler Aufmerksamkeit?
Schwer zu sagen. Dabei gibt es einen großen Reichtum. Jeder Bundesstaat in Indien hat seine eigene Filmkultur, und jede ist anders. Es gibt das tamilische Kino, das Telugu-Kino, das Kannada-Kino und das Marathi-Kino. Indien ist im Grunde so divers wie Europa. Aber in Indien wird es immer schwieriger, künstlerisch anspruchsvolle Filme zu drehen. Seit zehn Jahren haben wir eine rechtsgerichtete Regierung. Sie hat die Filmförderung auf nationaler Ebene gekürzt. Die Stellen, die früher Geld für unabhängige Filme gaben, existieren nicht mehr. Die Filmabteilung, die Dokumentarfilme förderte, gibt es jetzt nicht mehr. Es ist sehr schwer geworden, unabhängig zu arbeiten, zumal als Frau. Auch deshalb haben wir in Kerala vor kurzem einen Fonds ins Leben gerufen, um Filme mit kleinerem Budget zu unterstützen, die von Frauen und Filmemachern aus unterrepräsentierten Kasten gemacht werden. Das ist ein großer Schritt nach vorn, und wir hoffen, dass andere Regionen folgen.
All We Imagine as Light Payal Kapadia Indien 2024, 118 Minuten
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Payal Kapadia (1986 in Mumbai als Tochter einer Künstlerin geboren) drehte nach dem Filmstudium zunächst Dokumentarfilme und war mit einem davon bereits 2021 beim Festival in Cannes vertreten. All We Imagine as Light ist ihr Spiel- und Langfilmdebüt.
All We Imagine as Light Payal Kapadia Indien 2024, 118 Minuten