Im Gespräch | Katja Kipping: „Die negative Sicht uff Arme ist nicht vom Himmel in jemanden verliebt sein“

Als Politikerin war Katja Kipping für die Linke im Berliner Senat für Sozialpolitik verantwortlich, seit 2024 verwaltet sie als Geschäftsführerin einen der größten Wohlfahrtsverbände. Dieser ist Heimat für über 10 000 Organisationen, die unter seinem Dach versammelt sind. Ein Gespräch über Bürgergeld, Misstrauen und Zuversicht.

Der Freitag: Frau Kipping, laut der frisch erschienen Studie „Bürgergeld im Realitätstest“ aus Ihrem Hause können über die Hälfte der Menschen im Bürgergeld ihre Möbel nicht ersetzen und ein Drittel kann sich keine neue Kleidung leisten. Was denken Sie, warum ist dieser Missstand so wenig im Fokus der derzeitigen gesellschaftlichen Debatten?

Katja Kipping: Sie zitieren aus einer aktuellen Expertise der Paritätischen Forschungsstelle. Bei dieser Veröffentlichung war uns wichtig herauszuarbeiten, dass Bürgergeld-Beziehende weit unter der Armutsgrenze liegen und unter materiellen Entbehrungen leiden. Dabei beziehen wir uns auf offizielle Daten: Diese Zahlen zeigen, wie sehr all jene Politiker danebenliegen, die den Eindruck erwecken, diese Sozialleistungen seien viel zu großzügig. Das Gegenteil ist der Fall: Zwischen der durchschnittlichen Leistung für einen Alleinlebenden und der Armutsgrenze liegt eine Armutslücke von 474 Euro. Leider haben einige Medien und einige Politiker seit Jahren ein Zerrbild gezeichnet. Das beherrscht jetzt die Vorstellung von vielen Menschen. Aber die negative Sicht auf Arme ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist das Ergebnis von Armuts-Bashing und sich verstärkenden Falschbehauptungsschleifen.

Bundeskanzler Friedrich Merz hat eine Sozialstaatsdebatte angestoßen mit dem Tenor „Wir können uns diesen Sozialstaat nicht mehr leisten“. Landauf, landab nehmen es viele Medien auch so auf. Wie wirkt das auf Sie und die Mitglieder Ihres Wohlfahrtsverbands?

Viele, die beispielsweise in der Eingliederungshilfe arbeiten, erleben solche Aussagen als Geringschätzung, ja Verächtlichmachung ihrer tagtäglichen Arbeit. Das führt zu Verletzungen. Unter unserem Dach befinden sich viele Schuldner- und Sozialberatungen. Die Mitarbeitenden dort haben also direkt mit Menschen zu tun, die mit den sozialen Entbehrungen tagtäglich konfrontiert sind. Wir erfahren die Problemlagen also sehr direkt: Wir wollen, dass jeder Mensch an der Gesellschaft teilhaben kann, und dieser Anspruch wird mit Leben gefüllt. Was wir nun von der Regierung hören, geht komplett in die andere Richtung.

Es wird kolportiert, dass die Diskussion um den Sozialstaat eher eine Kampfansage an die SPD war und ist, um den Koalitionspartner an die Kandare zu nehmen, und gar nicht so sehr auf die Betroffenen gemünzt ist. Sehen Sie das ähnlich?

Ich kann mir vorstellen, dass die Union glaubt, dass es sich nur um ein Seilziehen innerhalb der Koalition handeln würde. Aber ich kann Ihnen nur sagen, was uns Menschen spiegeln, die in der Sozialen Arbeit tätig sind. Es kommt bei Ihnen wie eine Geringschätzung der eigenen Arbeit an. Und viele Arme haben das Gefühl, sie seien jetzt der Punchingball.

Stichwort „Totalverweigerer“.

Wenn die Regierung über Bürgergeld-Beziehende redet, scheint es, als gäbe es nur noch Totalverweigerer. Es sind aber nur etwa 23.000 Fälle im Jahr, in denen ein konkretes Jobangebot abgelehnt wird. Ein Angebot abzulehnen, ist noch keine Totalverweigerung. Womöglich gibt es auch einen Grund dafür, etwa weil die Bezahlung zu schlecht ist oder es gegen das eigene Gewissen verstößt. Im Gegenzug gibt es viele Menschen, die aus dem Bürgergeld heraus in ein Beschäftigungsverhältnis gehen: Auf ein abgelehntes Jobangebot kommen 21 Abgänge in ein Arbeitsverhältnis. Die Zahlenbasis liefert keinerlei Begründung dafür, warum Carsten Linnemann und Friedrich Merz so sprechen, wie sie derzeit sprechen.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Die Regierung geriet vom ersten Tag an unter Druck, teilweise war das auch unfair. Früher gab es noch die 100-Tage-Regel für eine neue Regierung, die gilt leider nicht mehr. Und was macht sie? Sie versucht abzulenken und den Frust auf andere Gruppen umzulenken. Und sucht sich dafür ausgerechnet Gruppen wie die Ärmsten und Menschen mit Migrationshintergrund aus.

Können wir uns einen Sozialstaat denn nun in einem der wirtschaftsstärksten Länder der Welt noch leisten?

Was wir uns auf keinen Fall leisten können, ist, die Axt daran anzulegen. International gibt es ja Akteure, die stolz darauf sind, die Kettensäge an den Staat anzulegen. Ich kann nur sagen: Wer die Axt oder die Kettensäge an den Sozialstaat anlegt, der schafft maximal Brennholz. Was wir aber brauchen, ist, die Demokratie und die Gesellschaft zusammenzuhalten. Und dass etwas wächst, das erreicht man wahrlich nicht mit einer Axt.

In der Arbeit der Sozialstaatskommission der Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas ist vorgesehen, dass die Anträge für Leistungsbezüge vereinfacht werden sollten. Würde das eventuelle Barrieren minimieren?

Auch wir sehen einen Bedarf für Entbürokratisierung und Vereinfachung. Was ich mir vorstellen kann, ist, dass es wirklich nur ein digitales Formular gibt, in das man einmal alle seine Daten einträgt, und das dann an all die Stellen gelangt, bei denen man Leistungsanspruch haben könnte. Dass man also gar nicht an fünf unterschiedlichen Stellen etwas beantragen muss. Eine solche Vereinfachung haben wir vorgeschlagen.

Lädt das aber nicht zum Missbrauch ein?

Entbürokratisierung und Misstrauenskultur, das wird nicht zusammengehen. Wenn ich bei jedem Menschen, der einen Antrag stellt, das Verwaltungspersonal anweise, ihn als potenziellen Sozialbetrüger zu behandeln, dann ist das einerseits eine Belastung für die Betroffenen, aber auch für die Verwaltungsmitarbeitenden. In meinen früheren Leben als Berliner Sozialsenatorin hatte ich ein schlankes Verfahren für einen Härtefallfonds, um Energiesperren zu vermeiden, aufgesetzt und erlebt, wie Mitarbeitende aufatmeten, als die zentrale Aufgabe darin bestand, zu helfen. Auch für die Verwaltungsmitarbeitenden ist es viel schöner, wenn sie nicht das Gefühl haben, sie müssten ihr Gegenüber als potenziellen Betrüger behandeln.

In der Sozialstaatsdebatte finden auch Angriffe in Bezug auf die Sozialkassen statt, das zielt auch auf die Mitte der Gesellschaft. Mit welchen Folgen?

Die Kranken- und Pflegekassen bekommen in diesem Haushalt nicht die Zuschüsse, die sie für den sozialen Ausgleich brauchen. Für die soziale Pflegeversicherung ist gar kein Geld vorgesehen, sondern nur ein Darlehen, das zurückgezahlt werden muss. Was dazu führen wird, dass Personal nicht gut genug bezahlt werden kann oder die Eigenanteile steigen. So stellen wir uns auch angesichts der demografischen Entwicklung nicht zukunftsfest auf. Und ich würde auch sagen, je mehr soziale Verunsicherung es gibt, desto leichter haben es die Feinde der Demokratie. Eine Gesellschaft, in der die soziale Verunsicherung zunimmt, spielt den Feinden der Demokratie in die Hände.

Bundesgesundheitsministerin Nina Warken schlug vor, den Pflegegrad 1 abzuschaffen. Dieser wurde 2017 mit großem Beifall in die Pflegeversicherung aufgenommen, um zu verhindern, dass die Leute wirklich pflegebedürftig werden. Welche Folgen hätte die Abschaffung?

863.000 Menschen wären von diesem Plan betroffen. Ich habe mich gefreut, dass es selbst aus der Union kritische Nachfragen gab. Das Vorhaben war so wohl nicht abgesprochen. Denn was wird damit bezahlt? Mit Pflegegrad 1 erhalten die Betroffenen einen pauschalen Entlastungsbetrag, nicht viel, 131 Euro, auch um damit den Umzug in eine Einrichtung oder die Hochstufung in einen höheren Pflegegrad zu verhindern. Es handelt sich also um einen unausgegorenen und wissenschaftlich nicht fundierten Vorschlag, der uns teuer zu stehen kommen wird.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband befürwortet eine Bürgerversicherung. Vor einigen Jahren schien das noch in greifbarer Nähe, die Lobbygruppen haben das aber scheitern lassen. Glauben Sie, dass der Finanzdruck der Kassen zu einem Systemwechsel führen wird?

Die Pessimistin in mir sagt: Das geht gerade alles in die andere Richtung. Die Optimistin in mir sagt: Die jetzigen Finanzprobleme beweisen noch einmal, wie recht wir hatten. Und deswegen machen wir auch weiter. Zum Beispiel mit dem Bündnis für eine Pflegevollversicherung. Ich würde sagen, bei den jetzigen Mehrheiten im Bundestag muss diese Erkenntnis noch reifen.

Wie sehen Sie als Wohlfahrtsverband Ihre Aufgabe in der Zukunft und vielleicht auch Ihre eigene?

Wir haben unter unserem Dach über 500 000 Haupt- und ganz viele Ehrenamtliche sowie rund 39 000 soziale Einrichtungen und Dienste. Von der Schwangerschaftskonfliktberatung bis zum Hospiz, von Pflege bis Kita gibt es für so ziemlich jede Lebenslage soziale Unterstützung. Eine Aufgabe von uns besteht darin, bestmögliche Bedingungen für diese Arbeit zu schaffen. Es geht schließlich um einen wichtigen Beitrag für die Demokratie. Zudem arbeiten wir mit unserer Expertise und Politikberatung darauf hin, dass jeweils die bestmögliche Version der politischen Entscheidungsträgerinnen zum Tragen kommt.

Wie froh sind Sie eigentlich, nicht mehr in der tagesaktuellen Politik aktiv zu sein?

Das Schöne ist, dass ich konzentriert das Thema Sozialpolitik bearbeiten kann – auch weiterhin tagesaktuell. Zwei Unterschiede zu früher: Als Paritätischer arbeiten wir erstens übergreifend mit allen demokratischen Parteien zusammen. Zutiefst parteiisch sind wir jedoch, wenn es um unsere Werte geht: Gleichheit aller in ihren Rechten und Vielfalt. Zweitens: Die Willensbildung in einer Partei und in einem Wohlfahrtsverband unterscheidet sich. Im Verband sind wir im Austausch mit der sozialen Praxis. Deren Erfahrung ist unsere Grundlage.

Katja Kipping, Jahrgang 1978, in Dresden geboren, war zusammen mit Bernd Riexinger von 2012 bis 2021 Bundesvorsitzende der Linkspartei und von 2021 bis 2023 Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. Seit 2024 ist sie Geschäftsführerin und Leiterin der Abteilung Sozialpolitik beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband.

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