Im Gespräch | Gregor Gysi: „Es war nicht selbstverständlich, dass man sich mit uns Gangstern einließ“

Die allererste Freitag-Ausgabe fackelt nicht lange. Kein Editorial, warum es jetzt diese neue Zeitung gibt: Es wird nichts erklärt, man springt gleich mitten in die Themen rein. Und von einem Thema zum nächsten. Auf Seite 7 steht ein Streitgespräch zwischen Gregor Gysi, damals Parteivorsitzender der PDS, und Hans-Christian Ströbele, damals Bundessprecher der Grünen. Ströbele ist 2022 gestorben.

Wir wollen Gregor Gysi den ersten Freitag vorlegen, sehen, woran er sich erinnert. Er ist einverstanden, das Gespräch findet in seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus neben dem Reichstag statt. Gysi verströmt die Gelassenheit eines Rentners im Urlaub, doch der Eindruck trügt: Er macht gerade sowas wie eine Deutschland-Tour kreuz und quer durch die Republik, liest bald in Rostock und Berlin aus Mein Leben in 13 Büchern (Aufbau Verlag 2025). Wir blättern in einer gebundenen Ausgabe des ersten Freitag.

der Freitag: Das ist die erste Ausgabe, vom 9. November 1990. Hier steht’s: der „Freitag“, hervorgegangen aus „Sonntag“ und „Volkszeitung“. Aus heutiger Sicht mutet es fast witzig an: wie überhaupt nicht drinsteht, was der „Freitag“ ist oder sein will, das wird einem alles einfach völlig kommentarlos vor die Füße gekippt.

Gregor Gysi: Hier ist eine Karikatur, da sieht man: Robinson ist auf der Insel, und da kommt eine Flaschenpost mit dem Freitag drin. „Endlich“. Das ist doch ganz hübsch.

(Wir blättern weiter)

Und hier kommen Sie und Ströbele.

Ah ja. Er ist ja inzwischen verstorben. Er sah zum Schluss ganz anders aus.

Sie sehen nicht so anders aus.

Wissen Sie, was ich hier erkenne? Dass ich dem Fielmann in der Talkshow noch nicht begegnet war. Er hat gesagt, die Brille ist zu groß. Inzwischen gibt es aber die, die ich nun habe, nicht mehr, sodass ich die jetzt bis zu meinem Lebensende behalten muss, weil man sonst denkt, ich will mich tarnen.

Können Sie sich an das Gespräch mit Ströbele erinnern ?

Vage erinnere ich mich, aber inhaltlich nicht mehr. Ich weiß, dass ich damals noch geraucht habe, das sieht man ja auch, und dass das eine Art intellektueller Streit war: ein linker Grüner und ich als Parteivorsitzender der PDS.

Es war einen Monat vor der Bundestagswahl 1990.

Ja klar. Und nach unserem Finanzskandal (die Verschiebung von SED-Vermögen u.a. in die Schweiz, nach Luxemburg u. Russland, um es dem Zugriff der BRD zu entziehen, Anm .d Red.). Insofern war es ja nicht selbstverständlich, dass Ströbele sich überhaupt mit uns Gangstern einließ. Machte er aber.

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Er steigt allerdings gleich damit ein: „Ich halte Ihre Entscheidung, weiterzumachen, für einen schlimmen Fehler.“

Ich weiß, aber wir haben weitergemacht. Was vielleicht doch nicht falsch war, wenn ich an das Bundestagswahlergebnis 2025 denke.

Liest man Ihr Gespräch mit Ströbele, dann versteht man als Heutiger bei sehr vielem fast nicht mehr, worum es ging. Was mir aber aufgefallen ist: Ströbele kritisiert Sie hartnäckig, und immer von links: Die Grünen seien linker, sozialistischer, antiautoritärer und freier als die PDS.

Ja, das hat sich ja alles als wahr herausgestellt.

Sie meinen das nicht ernst.

Nein, natürlich nicht. Die Grünen sind ja seit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien auf einem völlig anderen Kurs.

Was auch auffällt: Ihr Gespräch ist konfrontativ, aber trotzdem sehr offen. Sie reden nicht, wie ein Politiker heute redet. Ernsthafter, weniger auf die Pointe hin, als man heute reden würde.

Ja, das war eine ganz andere Situation. Nach unserem Finanzskandal kurz vor der Bundestagswahl stand die Existenz der Partei auf dem Spiel. Ich wurde im Westen, aber auch im Osten damals stark angegriffen, weil ich nun mal der Vorsitzende war und mich damit zum zentralen Angriffspunkt gemacht hatte. Da kannst du mit Platitüden wie heute oder auch mit Witzeleien nicht kommen, das ist eine völlig andere Situation. Ströbele selbst war auch an einer ernsten Auseinandersetzung interessiert, er war eben einer, der sich unterhalten wollte und sich selbst ja auch als sehr links definierte, und seine Partei ebenfalls. Als er dann die Wahlniederlage erlitt, war das ein Grund, dass die ganze Garde um Joschka Fischer stärker wurde, weil sie gesagt haben: Dein linker Kurs hat ja nichts gebracht. In Wirklichkeit lag es auch daran, dass sie sich zur Einheit nicht richtig verhalten konnten.

Der Freitag war eine Vereinigung von Ost und West auf Augenhöhe

Wie haben Sie den „Freitag“ damals wahrgenommen? Sie haben sich immerhin mitten im Wahlkampf die Zeit genommen für das Gespräch.

Ja, das Streitgespräch mit Ströbele war mir wichtig. Und der Freitag war mir auch wichtig, weil es eine Vereinigung war, von zwei Zeitungen aus Ost und West, und zwar wirklich auf Augenhöhe.

Wollen wir über heute sprechen? Wenn wir auf die jüngste Geschichte Ihrer Partei blicken, dann hat sie eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Dahinsiechen, Spaltung, Überraschungswahlsieg …

Die Partei war in einer existenziellen Krise, ohne es zu merken. Dann kam das verheerende Wahlergebnis bei der Europawahl 2024, 2,7 Prozent, da haben sie es nun gemerkt! Dann kam eine neue Fraktionsführung, ein neuer Bundesvorstand, wir haben die Mission Silberlocke gestartet. Dadurch sind wir wieder in die Medien gekommen, was wichtig war, und stiegen in den Umfragen allmählich an. Und dann hat Friedrich Merz den politischen Fehler begangen, zu versuchen, ein Gesetz mithilfe der AfD zu beschließen. Heidi Reichinnek hat mit Leidenschaft dagegengesprochen, was bei den jungen Leuten sehr, sehr gut ankam.

Die wollten eine klare linke Positionierung.

Richtig, eine klare Position gegen die AfD. Da waren wir glaubwürdiger – durch Heidi Reichinnek – als die Grünen und die SPD.

Wie erleben Sie als dienstältester Abgeordneter die ganzen neuen Mitglieder, die die Linkspartei jetzt hat?

Natürlich haben junge Leute immer andere und radikalere Vorstellungen als ältere. Das war ja aber auch so, als wir jung waren, das darf man nicht vergessen, das ist völlig normal. Und trotzdem verändern sie das Denken und natürlich auch bestimmte Strukturen in der Partei. Da gibt es, wie ich finde, wichtige neue Mitglieder, es gibt natürlich auch ein paar schwierige Fälle,die meinen, man muss gar nicht zu Wahlen antreten, sondern alles außerparlamentarisch machen. Aber das ist normal, dass es solche Ansätze gibt, sie dürfen bloß nicht mehrheitsfähig werden. Zukunft hast du nur durch die Jugend. Also ich mag die jungen Mitglieder.

Sollte die Linkspartei nächstes Jahr bei der Wahl in Berlin so gut abschließen, dass sie regieren könnte: Was sollte ihr wichtigstes Projekt sein?

Sie muss die Bildungsstrukturen verändern. Sie muss ein Angebot machen, an die Eltern natürlich und auch an die Lehrerinnen und Lehrer, dass wir Schritt für Schritt eine Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung und Ausbildung erreichen. Davon sind wir auch in Berlin noch weit entfernt.

Okay, das überrascht mich. Bildung ist ohne Frage wichtig, aber ich hätte gedacht, Sie nennen die Wohnungsfrage.

Wir haben ja einen Mietendeckel auf Landesebene versucht, der ist uns aber vom Bundesverfassungsgericht gekippt worden. Also werden wir dafür im Bundestag ringen, dass das eine Mehrheit beschließt. Aber natürlich muss man auch den staatlichen Wohnungsbau voranbringen.

Wir wollen jetzt nicht übers Stadtbild sprechen, aber über den dahinterstehenden Kampf, die AfD kleinzukriegen. Wie kriegt man die wirklich klein? Merz ist das bis jetzt ja überhaupt nicht gelungen.

So wird es auch nicht gehen. Wenn man das AfD-Wahlprogramm übernimmt, dann gewinnt immer nur die AfD, nie man selbst. Das war bei der CSU 2018 so, das ist jetzt bei der CDU so, und auch beim BSW. Damit legitimierst du bloß die Wahl der AfD, die Leute wählen lieber das Original als den Abklatsch. Nein, sie müssten wirklich mal ehrlich darüber nachdenken, was wir alles falsch gemacht haben, dass so viel AfD gewählt wird. Das macht die CDU nicht. Wir haben darüber nachgedacht und haben festgestellt, ja, wir haben einen Fehler begangen: Nach der Vereinigung von PDS und WASG dachten viele bei uns, jetzt kommt unsere große Stunde in Bayern und Nordrhein-Westfalen, und daraufhin wurde der Osten von uns politisch etwas vernachlässigt. In diese Lücke ist auch die AfD hineingegangen. Das hätten wir nicht zulassen dürfen.

Sie meinen die Lücke als Protestpartei?

Nicht nur, wir hatten immer die ostdeutschen Themen im Vordergrund stehen, das haben wir dann nicht mehr so gemacht. Das geht nicht.

Eine letzte Frage, Herr Gysi: Was bedeutet das für Sie heute, eine linke Zeitung?

Es müsste eine Zeitung sein, die die soziale Frage bei allen anderen Fragen immer auch in den Mittelpunkt stellt, was die anderen vergessen. Also natürlich muss sie für ökologische Nachhaltigkeit sein, aber immer die soziale Frage dabei mitdenken, und das gilt für alle anderen Gebiete auch. Sie muss sich für die Gleichstellung, die Chancengleichheit von Menschen einsetzen. Und zwar unabhängig von Glauben, Hautfarbe, Nationalität, und vor allen Dingen unabhängig vom Geschlecht. Das macht für mich immer noch eine linke Zeitung aus. Und eine Friedenszeitung muss sie unbedingt auch sein.

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Gregor Gysi, geboren 1948, Anwalt u.a. von Bärbel Bohley und Robert Havemann. Gysi wurde Ende 1989 Parteichef der SED-PDS, war 1990 bis 2002 und ist seit 2005 Abgeordneter des Bundestags, direkt gewählt in Treptow-Köpenick in Berlin. Im Archiv auf freitag.de finden sich sechs von ihm verfasste Artikel

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Der Freitag wird 35 Jahre alt!

Am 9. November 1990 erschien die erste Ausgabe des Freitag – einer Fusion des ostdeutschen Sonntag und der westdeutschen Volkszeitung. Mit dem Untertitel Die Ost-West-Wochenzeitung begleitete er die deutsche Einheit von Anfang an aus einer kritischen Perspektive.

Wir wollen bloß die Welt verändern: Mit unserem Ringen um die Utopien der Gegenwart, mit unserem lauten Streiten und Nach-Denken, mit den klügsten Stimmen und der Lust am guten Argument finden wir heraus, was es heißt, links zu sein – 1990, die vergangenen 35 Jahre, heute und in Zukunft.

Dazu gratulieren uns Slavoj Žižek und Christoph Hein, Tahsim Durgun und Margot Käßmann, Svenja Flaßpöhler, Sahra Wagenknecht, El Hotzo und viele weitere Interviewpartnerinnen, Autoren und Wegbegleiterinnen des Freitag.

Lesen Sie dies und viel mehr in der Jubiläumsausgabe der Freitag 45/2025 und feiern Sie mit uns!

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