Im Gespräch | „Auch zehn Jahre nach 2015 hören wir: Du bist nicht deutsch genug“

Für sie war der Sommer 2015 lebensverändernd: Die Autorin Kefah Ali Deeb, die Journalistin Sharmila Hashimi und der Theaterautor Mohammad Al Attar mussten aus ihren Heimatländern Syrien und Afghanistan fliegen und arbeiten nun seit zehn Jahren in Deutschland. Auch sie haben den Satz Angela Merkels gehört: „Wir schaffen das“, sagte sie Ende August 2015 angesichts der drohenden humanitären Katastrophe. Tausende von Flüchtenden wurden in Ungarn daran gehindert, nach Deutschland weiterzureisen. Doch Merkel entschied, sie ins Land zu lassen: Mehr als eine Million Menschen waren es zwischen 2015 und 2016. Die Grenzen wurden dafür im grenzenlosen Schengen-Raum nicht „geöffnet“, sondern die Bundesregierung setzte am 4. September die Dublin-Regelungen für Asylbewerber aus Ungarn und Österreich aus.

Drei Geflüchtete von damals ziehen eine Bilanz: Haben „wir“ es tatsächlich geschafft?

der Freitag: Frau Hashimi, Frau Ali Deeb und Herr Al Attar, Sie alle kamen rund um das Jahr 2015 nach Deutschland und leben seitdem in Berlin. Wie blicken Sie auf das Jahr 2015 zurück?

Sharmila Hashimi: Wenn ich auf den Sommer 2015 zurückblicke, denke ich daran, wie ich mich etwa ein Jahr lang verloren fühlte. Ich kam im August 2014 an und musste dann neun Monate lang auf meine Asyl-Anerkennung warten. Im Sommer 2015 war Berlin dann voller Menschen. Ich war schockiert.

Warum?

Hashimi: Ich habe damals wirklich gekämpft, weil ich bis zum Erhalt meines positiven Asylbescheids nichts machen durfte – keine Deutschkurse, keine Wohnung für meine Familie, ich durfte nicht arbeiten, mein Sohn durfte nicht zur Schule gehen. Und genau in dem Moment, als ich mein Leben aufbauen wollte, war alles überfüllt. 2017 war der erste Sommer, den ich genießen konnte.

Wenn Sie auf die vergangenen Jahre zurückblicken, Frau Ali Deeb, was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn?

Kefah Ali Deeb: Heute denke ich anders darüber, aber damals hatte ich das Gefühl, dass alles chaotisch war, besonders wegen der großen Menge von Menschen, die in dem Zeitraum ankamen. Man sieht, dass der Staat oder die Regierung damals nicht wirklich bereit oder vorbereitet waren, all diese Flüchtlinge aufzunehmen. Es kam zu vielen Fehlern, insbesondere bei der Aufnahme der Menschen und ihrer Verteilung an verschiedene Orte. Jetzt, nach zehn Jahren und nachdem ich schon sehr lange in Deutschland arbeite, verstehe ich die deutsche Mentalität in Bezug auf Arbeit und Bürokratie besser.

Und für Sie persönlich?

Ali Deeb: Wenn ich auf diese zehn Jahre zurückblicke, bin ich stolz auf mich. Ich musste fast ein Jahr warten, bis ich eine Aufenthaltsgenehmigung bekam, arbeiten oder studieren durfte. 2015 war verloren und ich konnte das Jahr kaum als Teil meines Lebens zählen. Das Schwierigste war, dass ich arbeiten wollte. Ich bin ein Workaholic. Ich wollte unabhängig sein und keine staatliche Unterstützung erhalten. Insgesamt denke ich, dass ich mich gut geschlagen habe. Es waren viele Kämpfe, aber ich habe es geschafft, weiterzumachen. Deshalb sage ich: Gut gemacht, Kefah! Ich bin inzwischen deutsche Staatsbürgerin.

Hashimi: Du hast Glück. Ich habe die Staatsbürgerschaft schon 2019, vor der Corona-Pandemie, beantragt. Die Ämter haben meine Akte verloren und ich musste den Antrag 2022 erneut mit allen Unterlagen einreichen. Seitdem warte ich auf eine Antwort. Es dauert Jahre, bis ein Ergebnis feststeht. In dieser Zeit habe ich viele Arbeitsangebote, Konferenzen und Reisen ausschlagen müssen, da ich mit meinem derzeitigen Aufenthaltsstatus nicht außer Landes reisen darf. Für mich ist mit der deutschen Staatsbürgerschaft noch etwas sehr Wichtiges verbunden: Ich würde gern hier wählen. Wir leben jetzt in diesem Land, aber leider scheint die Politik sich nicht um uns – die ehemals Geflüchteten – zu kümmern.

Im Rückblick bin ich stolz auf mich

Herr Al Attar, im Vorgespräch zu diesem Interview erzählten Sie, dass Sie bereits in den Jahren zuvor als international arbeitender Künstler beruflich oft in Berlin waren. Dann mussten Sie 2015 in diese Stadt fliehen und von hier aus Ihr Leben neu ausrichten.

Mohammad Al Attar: Entgegen dem allgemeinen Trend hatte ich das Privileg, nach meiner Ankunft arbeiten zu können, weil ich bereits einige Verbindungen in Deutschland hatte. Ich mache Theater und dank des bereits bestehenden Netzwerks konnte ich gleich anfangen. Im Theater brauchte ich keine Deutschkenntnisse und war gut vernetzt.

Eigentlich ein guter Start, oder?

Al Attar: Ironischerweise verzögerte meine Arbeit das, was das System von dir verlangt, um dich zu integrieren. Später erkannte ich, dass man der Bürokratie, die Kefah und Sharmila erwähnt haben, nicht entkommt. In aller Bescheidenheit darf ich Ihnen erzählen, dass zwei Jahre nach meiner Ankunft zwei meiner Theaterstücke an der Volksbühne und am HKW in Berlin inszeniert wurden. Und ich hatte andere große Projekte in Europa. Das bedeutet aber nichts für das System. Denn man muss den Integrationskurs machen, obwohl ich von Anfang an Steuern gezahlt habe. Ich bin kein Experte, aber ich frage mich manchmal, warum diese Systeme manchmal so starr sind, dass sie ignorant werden, und ihnen das Wissen über die Nuancen fehlt.

Was meinen Sie damit?

Man sollte in der Lage sein, die humanitären Bedingungen von Flüchtlingen besser zu verstehen und sie nicht als homogene Masse zu behandeln, als wären sie Kopien voneinander und nicht Individuen mit unterschiedlichen Lebensumständen. 2015 war ein Moment der Hoffnung, sowohl für die Helfenden als auch die Geflüchteten. Ich hatte das Glück, kurz nach meiner Ankunft mit anderen Flüchtlingen zusammenzuarbeiten. Die ersten Jahre verbringen sie damit, Schule, Leben, Arbeit zu regeln. Das Trauma kommt erst später, und genau das ignoriert das System.

Können Sie nachvollziehen, dass so viele in Deutschland das Jahr 2015 als historischen Wendepunkt markieren?

Ali Deeb: Ich halte 2015 ebenfalls für historisch. Ich glaube, es ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt für die deutsche Regierung und Bevölkerung, heute die Entscheidungen von damals zu bewerten.

Sie meinen die politischen Entscheidungen?

Wenn ich damals deutsche Staatsbürgerin gewesen wäre und die Schutzsuchenden wären ins Land gekommen – wie würde ich dann all die Entscheidungen der Regierung bewerten? Aus dem Gefühl der Verantwortung für das Land würde ich die Umsetzung wahrscheinlich kritisieren. Wenn wir uns den gesamten Integrationsprozess ansehen, führt er letztendlich zu vielen Lücken innerhalb der Gesellschaft, weil die Deutschen – ich meine nicht alle, aber im Allgemeinen – nur auf sich selbst hören. Sie glauben, es besser zu wissen als diejenigen, die die Hilfe brauchten.

Haben Sie denn Hoffnung, dass es noch zu einer ehrlichen politischen Bilanz des vergangenen Jahrzehnts kommen wird?

Ali Deeb: Genau jetzt ist es an der Zeit, alle Entscheidungen und deren Umsetzungen zu evaluieren – die Flüchtlingshilfe, die Programme zur Integration. Nach zehn Jahren in Deutschland habe ich teilweise mein Vertrauen in Menschenrechte, Demokratie und grundlegende Werte verloren – und das liegt an der Politik. Wenn Deutschland seine grundlegenden Probleme lösen will, sollte dies nicht auf dem Rücken der hiesigen Migranten und Geflüchteten passieren.

Al Attar: Ich meine, dass der „Migrationssommer 2015“ im Rückblick sehr übertrieben dargestellt wird. Denn bei genauerer Betrachtung waren es doch nur wenige Monate, bis der berüchtigte Deal zwischen den europäischen Staaten und der Türkei im März 2016 geschlossen wurde. Paten waren damals die Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Türen schlossen sich also nur wenige Monate nach dieser humanen Geste wieder. Die AfD stand, das darf man nicht vergessen, ein Jahr später bei den Bundestagswahlen 2017 bei knapp 13 Prozent. Syrische und andere Geflüchtete mussten schwer kämpfen, um hier anzukommen. Ich möchte nicht zynisch klingen, aber Schutzsuchende aus der Ukraine wurden sicher nach Deutschland gebracht, was richtig ist …

Kommt man aus Afghanistan oder Syrien, gilt man automatisch als potenziell gefährlich und fremd

Hashimi: Ich habe mich immer gefragt, ob die deutsche Regierung uns überhaupt wollte. Nach der Ukraine-Krise hat man nämlich gesehen, dass dieses Land Tausende von ukrainischen Flüchtlingen problemlos integrieren konnte und wollte. Ohne Wenn und Aber – das zeigt, dass es möglich ist.

Al Attar: Ich möchte die positive Stimmung der Aufnahme im Jahr 2015 nicht schmälern, aber Menschen haben für die Flucht mit ihrem Leben bezahlt. Sie haben ihre Immobilien verkauft und sind schmerzhafte Kompromisse eingegangen: Die Mutter blieb, der Sohn ging, der Vater blieb, und dann ging der Vater im Krieg verloren oder wurde getötet. Die Menschen, die hier erst herzlich willkommen geheißen wurden, klopften lange Zeit noch heftig an den Türen. Im Vergleich erhielten die Ukrainer alle Mittel, um sicher nach Deutschland zu kommen. Das ist auch richtig so. Das sollte doch aber allen Menschen zustehen.

Woran könnte das liegen? War Deutschland 2015 nicht vorbereitet?

Hashimi: Ich vermute, dass Rassismus dabei eine große Rolle gespielt hat. Wenn man nicht aus der Ukraine kommt, sondern aus Afghanistan oder Syrien, gilt man automatisch als potenziell gefährlich und fremd. Mit den ukrainischen Flüchtlingen hingegen lief alles reibungslos: keine Konflikte, keine Wartelisten, keine langen politischen Diskussionen. Es gab bei der Aufnahme von Flüchtlingen in den letzten Jahren doppelte Standards.

Frau Hashimi, Sie erklären als Journalistin Geflüchteten, wie Deutschland funktioniert. Haben Sie diese Erfahrungen der doppelten Standards auch bei Ihrer Arbeit bemerkt?

Hashimi: Bei meinem ersten Job habe ich mit Familien aus vielen verschiedenen Ländern gearbeitet. Und ich habe gesehen, wie ganz einfache Dinge, wie eine Wohnung oder ein Schulplatz, schwer zu erreichen sind. Selbst für mich als gut ausgebildete Frau war es am Anfang kompliziert. Es macht mich traurig, wenn ich an all die Familien mit kleinen Kindern denke, die vielleicht nicht so gut ausgebildet sind. Wie schwer das sein muss und wie wir glauben, dass sie sich so gut in Deutschland einleben können. Wenn die Politik es wollte, könnte man das viel besser machen. Wir haben es ja gesehen und erlebt.

Wie sah Ihr Leben vor der Flucht aus?

Ali Deeb: Bevor ich Syrien verließ, erlebte ich, glaube ich, die goldenen Jahre meines Lebens. Ich arbeitete als Autorin für eine Kinderzeitschrift und schloss mein Kunststudium an der Universität von Damaskus ab. Ich hatte große Träume. 2012, etwa ein Jahr nach Beginn der syrischen Revolution, wurde ich vom Assad-Regime wegen meiner humanitären Arbeit und meines politischen Aktivismus gegen die Assad-Diktatur verhaftet. Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis änderte sich alles für mich, insbesondere nachdem ich im Gefängnis geliebte Menschen verloren hatte. Ein Jahr später, im September 2013, war ich bereits mehrfach verhaftet worden und mein Leben war unmittelbar bedroht. So beschloss ich, aus Syrien zu fliehen.

Hashimi: Ich arbeitete mit verschiedenen Organisationen wie der Friedrich-Ebert-Stiftung und USAID zusammen und hatte ein eigenes Projekt, das Afghan Journalism Center. Als 2014 die NATO beschloss, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen, wurde es für uns Aktivisten und Journalisten brenzlig. Seit 2012 gab es Repressionen, vor allem gegen arbeitende Frauen in meiner Stadt Herat. Sie wurden getötet oder misshandelt. Als auch in meine Wohnung zweimal eingebrochen wurde, musste ich Hals über Kopf nach Pakistan, hatte aber vor, wieder zurückzukehren. Mein Sohn kam damals gerade in die Kita, meine Wohnung, mein Auto, mein Leben ließ ich zurück. Ich dachte, ich komme wieder. Doch mir wurde klar, dass ich in meiner Heimat weiterhin in Gefahr sein würde. Mein Sohn und ich flohen aus Pakistan weiter nach Deutschland.

Im Dezember 2024 wurde das Assad-Regime in Syrien gestürzt. Für Sie, Frau Al Deeb und Herr Al Attar, muss diese Zeit des Umbruchs sehr aufwühlend gewesen sein. Wie war es, diesen historischen Moment in der syrischen Geschichte aus der Ferne mitzuerleben? Vor allem, als kurz nach dem Sturz Stimmen aus der CDU und der AfD dazu aufriefen, dass die Syrer doch wieder zurückkehren könnten?

Al Attar: Ja, es gab diese politischen Statements aus Deutschland, ich glaube auch aus Österreich und anderen Ländern. Der Witz waren die Gegenstellungnahmen, die sagten: Aber lasst bitte die Ärzte hier. Und das ist noch beleidigender. Ich glaube, die Entscheidung, die dann sofort getroffen wurde, war, laufende Asylverfahren von Syrer*innen einzufrieren.

Ali Deeb: Aber das ging überraschend schnell! Wenn die Deutschen wollen, können sie plötzlich unbürokratisch sein.

Al Attar: Es ist auch traurig. Ich sage Ihnen, warum: Einige Menschen haben wirklich hart dafür gearbeitet, um Staatsbürger dieses Landes zu werden. Die Staatsbürgerschaft bedeutet mehr, als nur den Integrationskurs zu absolvieren, es bedeutet, dass man mit der Zeit ein aktiver Teil dieser Gesellschaft wird. Sharmila hat gerade den Wunsch und die Notwendigkeit erwähnt, wählen zu dürfen, weil wir hier leben. Diese politischen Aussagen der Rückkehr sind eine brutale Erinnerung daran: Du bist nicht deutsch genug. Dieser subtile Alltagsrassismus betrifft Menschen mit Migrations- oder Flüchtlingshintergrund täglich. Man soll immer wieder daran erinnert werden: Du bist nicht deutsch genug. Wohnungen suchen, auf Jobs bewerben, sogar emotionale Beziehungen – überall diese subtilen Hinweise, dass man nicht dazugehört.

Frau Ali Deeb, seit dem Sturz Assads waren Sie bereits zwei Mal in Syrien. Wie schätzen Sie die Lage dort ein?

Ali Deeb: Ja, ich war kurz nach dem Sturz für eine Woche in Syrien und vor etwa sechs Wochen in diesem Sommer erneut. Es ist interessant, dass die deutsche Regierung Syrien mit seinen islamistischen Extremisten und den bewaffneten Fraktionen – von denen einige nach dem Eingeständnis der aktuellen Regierung mit dem IS verbunden waren – und Afghanistan trotz der Präsenz der Taliban als sichere Herkunftsländer einstufen kann.

Wie sicher ist es, Sie waren ja vor Ort?

Im vergangenen März kam es an der syrischen Küste zu Massakern an Alawiten, bei denen über tausend Menschen ums Leben kamen. Im vergangenen Monat, im Juli, kam es in Sweida zu Massakern an den Drusen. Beide Vorfälle beweisen, dass die derzeitige syrische Regierung nicht in der Lage ist, ihre Bürger zu schützen. Ich war in Damaskus und habe mich keinen Moment lang sicher gefühlt. Die Leute sind wirklich verzweifelt, die wirtschaftliche Lage ist schlimm. Aber das Wichtigste ist, dass man sicher sein Haus verlassen kann und zu seinen Kindern zurückkommt, ohne dass man auf der Straße getötet wird.

Menschen sind viel zu komplex, als dass sie auf die Rolle wie „Flüchtling“ oder „Exilautor“ reduziert werden sollten

Wer entscheidet also, nach welchen Kriterien, was ein sicheres Land ist und welches nicht?

Al Attar: Ich stimme Kefah vollkommen zu, dass Syrien kein sicherer Ort ist, um Menschen dorthin zurückzuschicken. Aber Leute, die freiwillig zurückwollen, sollten es können. Die Situation in Syrien ist nach 55 Jahren Assad-Diktatur und 14 Jahren blutigem Stellvertreterkrieg im Aufbau. Die syrische Diaspora kann hier eine große Rolle spielen. Sie können Brücken bauen zwischen ihrer Heimat Syrien und ihren neuen Gesellschaften, neue Ideen vermitteln und die Zivilgesellschaft wieder beleben.

Wie schnell wird sich Syrien in die Staatengemeinschaft integrieren können? In welcher Form werden die beiden Länder, Deutschland und Syrien, wieder zusammenarbeiten können?

Al Attar: Ich denke, wir müssen das umfassender sehen, weil ich persönlich gegen die Isolierung von Ländern oder gegen die Fortsetzung dieser Politik der Wirtschaftssanktionen bin, weil die Menschen im Land den höheren Preis dafür zahlen. Die Zeichen, die wir von der De-facto-Regierung sehen, sind eindeutig nicht vielversprechend. Einerseits möchte ich Regierungen und Politiker, die diplomatische Kanäle zu diesem mangelhaften Regime öffnen, stets daran erinnern, Menschenrechtsfragen immer die oberste Priorität einzuräumen. Andererseits kann ich aber auch nicht verlangen, dass diese Kanäle nicht geöffnet werden. Es besteht die Notwendigkeit, Syrien wieder aufzubauen und zurück in die internationale Gemeinschaft zu bringen. Ohne diplomatische Kanäle wird man das nicht erreichen können.

Frau Hashimi, Sie können nicht nach Afghanistan reisen. Wie bewerten Sie die derzeitigen Kontaktbemühungen zwischen der Bundesregierung und den Taliban?

Hashimi: Deutschland kämpfte 20 Jahre in Afghanistan, gab viele Steuergelder aus, viele deutsche Soldaten und Tausende Afghanen starben, nur um am Ende wieder mit den Taliban zu kooperieren. Die Menschen in Afghanistan zahlen den Preis für 20 Jahre Krieg. Und sie lassen die Menschen in Afghanistan zusammen mit den Taliban dort zurück, wo sie vor 20 Jahren angefangen haben. Es ist eigentlich komisch, dass die Taliban für uns, die Menschen aus und in Afghanistan, immer noch eine Terroristengruppe sind. Sie gehen gegen die Menschen in Afghanistan vor, insbesondere gegen Frauen und Kinder. Der Sicherheitsdienst Afghanistans und die afghanische Armee beteiligen sich weiterhin an Massakern. Das Töten der eigenen Bevölkerung geht also immer noch weiter. Aber die deutsche Regierung ist bereit, das zu akzeptieren. Und auch, mit den Taliban zu kooperieren. Die deutsche Regierung ist die erste in Europa, die Taliban-Diplomaten akzeptiert.

Sie werden immer noch als Exilkünstler vorgestellt. Sind Sie das Wort „Exil“ eigentlich leid?

Al Attar: Nein, das ist mein rechtlicher Status. Aber seit meinen frühen Tagen in Deutschland habe ich versucht, gegen dieses Label zu kämpfen, besonders im Kulturbereich, weil es die Wahrnehmung meiner Arbeit beeinflusst.

Wie blicken Sie auf die kommenden zehn Jahre?

Ali Deeb: Vor zehn Jahren hat mir ein Journalist die gleiche Frage gestellt. Ich würde heute dasselbe sagen: Ich habe Angst um die Menschenrechte weltweit, nicht nur in Deutschland. Ich fürchte um Demokratie und Freiheit. Und hoffe, dass die Menschen in Deutschland, Deutsche und Nicht-Deutsche, den Mut haben, diese Werte zu verteidigen. Ansonsten wird Deutschland nach rechts rücken.

Al Attar: Es ist wichtig, dass Politiker und Medien nicht den Rechtsextremen in die Hände spielen, indem sie den Fokus allein auf Migration und Geflüchtete lenken, als Kern aller Probleme, während Themen wie Klima, Inflation oder Infrastruktur vernachlässigt werden. Deutschland braucht Migranten, um die Wirtschaft aufrechtzuerhalten. In den vergangenen zehn Jahren gab es drei wichtige Momente, die für mich und viele neu Angekommene Deutschland verändert haben: der Krieg in der Ukraine und wie die Geflüchteten hier empfangen wurden. Dann der hiesige Umgang mit dem Krieg in Gaza sowie die vergangene Bundestagswahl. Diese Momente haben uns aufgezeigt, wie struktureller Rassismus und gesellschaftliche Polarisierung in diesem Land funktionieren.

Hashimi: Ich fühle mich weder in Deutschland noch in Afghanistan zu Hause. Ich kann nicht nach Afghanistan zurück, und in Deutschland bin ich immer noch Flüchtling. Die Situation in beiden Ländern macht mir Angst. Ich habe zwölf Jahre in der Flüchtlingsarbeit gearbeitet, viel erreicht, aber dann meinen Job verloren. Das zeigt, wie schwierig die Lage für Flüchtlinge in Deutschland ist. Ich muss laut sein gegen Rassismus, sowohl hier als auch in Afghanistan.

Kefah Ali Deeb 1982 in Latakia, Syrien, geboren, hat bildende Kunst in Damaskus studiert und war dort Kinderbuchautorin und Aktivistin. Seit 2014 lebt sie in Berlin, seit 2024 hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Als Autorin schrieb sie u. a. für Zeit online und die taz

Sharmila Hashimi 1987 in Herat, Afghanistan, geboren. Sie studierte Journalismus, Jura und Politikwissenschaften und arbeitete seit 2006 als Journalistin und Projektleiterin in Herat. Auf Farsi informiert sie über 200.000 Follower*innen in den sozialen Medien über die aktuellen Geschehnisse in Deutschland

Mohammad Al Attar 1980 in Damaskus, Syrien geboren. Er studierte Theaterwissenschaften und Dramaturgie in Damaskus und London. Der Essayist und Theaterautor lebt seit 2015 in Berlin. Seine Stücke wurden auf vielen international renommierten Festivals und an Theatern gezeigt

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