
Gefangen in einer toxischen Ehe, psychisch krank und Mutter einer Aids-kranken Fixerin in den 80ern: Die Briefe der Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel gewähren einen Einblick in die Hölle.
Einmal, im Herbst 1982, hält Joseph Duvanel seiner Frau sogar eine geladene Pistole an den Kopf. „Mir war es total gleichgültig, erschossen zu werden“, schreibt die Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel hinterher 1993 an ihre Intimfreundin Maja Beutler. „Ich sah für mich keine Zukunft mehr.“
Es ist nur eine von vielen verstörenden Stellen in den Briefen der Autorin, die einen erschüttern. Denn die darin geschilderte Lebenstragödie der 1996 früh verstorbenen (und nun gerade furios wiederentdeckten) Meistererzählerin Duvanel wirkt so abgrundtief verhängnisvoll, dass man oft nicht weiß, ob man weinen oder lachen soll.
Vom vermeintlich harmlosen Buchtitel des Bands mit ihren Briefen – „Nah bei Dir“ – sollte man sich also nicht täuschen lassen. Denn darin steckt tatsächlich ganz harter Unglücksstoff. Wobei dieser Briefband im Grunde nur aus zwei Korrespondenzen der Basler Autorin besteht: Zum einen aus Duvanels Schriftverkehr mit ihrem Luchterhand-Lektor Klaus Siblewski – und zum anderen aus ihrem Briefwechsel mit Maja Beutler, einer gleichaltrigen Schriftstellerin aus Bern.
Die Freundin als Beichtmutter
Vor allem Beutler wurde für die labile Duvanel ab 1981 schnell zu einer engen Vertrauten. Fünfzehn Jahre lang schrieb sie dieser erklärten Seelen-„Schwester“ geradezu obsessiv Briefe, in denen sie sich sehr offenherzig über ihre Ängste und Sorgen aussprach. Auf diese Weise wurde Beutler schon bald zu einer therapeutischen Beichtmutter für Duvanel, wodurch die Freundschaft jedoch auch früh in Schieflage geriet
Denn während Adelheid Duvanel darin von vornherein die Position des hilfsbedürftigen Opfers einnahm, fühlte sich Beutler (deren Antwortbriefe leider verschollen sind) zunehmend unbehaglicher in die Rolle der Retterin gedrängt. Die Briefe Duvanels an die Freundin klingen darum oft reuevoll und voller Sorge, diese könne sich, entnervt von den Zudringlichkeiten, abwenden. „Liebe Maja“, heißt es da etwa am 17. April 1982 zerknirscht. „Ich wurde von den schwärzesten Gedanken gequält, dachte, Du würdest mir nie mehr schreiben. Dieses Gefühl, nicht zu genügen, anderen Menschen zur Last zu fallen, ist immer gegenwärtig; mein Gegenüber braucht nur ein unfreundliches Wort zu brauchen – schon ist die Katastrophe da.“
Angesichts solcher entlarvenden Zeilen erkennt man früh, dass Adelheid Duvanel, obwohl hochbegabt, offensichtlich unter einem gravierenden Mangel an Selbstachtung litt – und dessentwegen allzu erpicht darauf war, anderen Menschen unbedingt gefallen zu wollen. Nicht von ungefähr bezeichnete sie sich selbst als „Liebesnärrin“. Denn tatsächlich ging ihre Bereitschaft, sich für andere, vor allem für ihren Ehemann und ihre Tochter regelrecht aufzuopfern, weit über das sogenannte Normalmaß hinaus.
Sie schaffe es halt einfach nicht, „böse“ auf jemanden zu sein, gestand sie Beutler am 5. Mai 1985 – ganz egal, wie schlimm derjenige sie auch behandelt hätte. „Weißt du“, bekennt sie in diesem Brief erschütternd, „ich komme mir der Verwandtschaft gegenüber so blöd ‚schicksalsbeladen‘ vor“. Die denken wahrscheinlich von mir: ‚Sie ist lieb, aber ein armer Teufel.‘ Ich wäre lieber bös und kein armer Teufel. Vielleicht kann man das Bös-Sein lernen?“
Leider jedoch hat die sanfte Duvanel das „Bös-Sein“, also das „Nicht-Gefällig-Sein“, zeitlebens nie gut „gelernt“. Eine eklatante Ich-Schwäche der Schweizer Poetin, die sich vermutlich aus ihrer traumatischen Jugend erklärt. 1936 als Tochter des Gerichtspräsidenten Georg Feigenwinter geboren, geriet die junge Adelheid nämlich als Teenagerin alterstypisch mit ihren Eltern in Konflikt. Diese steckten das Mädchen daraufhin in ein strenges Nonnen-Internat. Doch als das nicht den erwünschten Besserungseffekt erzielte, brachten sie die Siebzehnjährige 1953 schließlich in die Basler Psychiatrie, wo man bei ihr eine angebliche Schizophrenie feststellte.
Die Patientin wurde danach (wie damals üblich) mit Insulin- und Elektroschocks behandelt. Eine Therapie, für die Duvanel später gegenüber Beutler nur Sarkasmus parat hatte. Böse bilanzierte sie in einem Brief 1983: „Mit zwölf redete ich kaum mehr, mit fünfzehn wollt ich mich – nur in Gedanken – zum ersten Mal umbringen. … ; mit sechzehn (im katholischen Internat) wollte ich – wiederum nur in Gedanken – zum zweiten Mal Selbstmord begehen, weil ich unter 200 Mädchen sehr einsam war … ; mit siebzehn … hatte ich den ersten Nervenzusammenbruch und kam in die Klinik, wo ich mit Insulinschocks behandelt wurde. Da wurde Insulin gespritzt: ich fiel ins Koma, weil der Blutzuckerspiegel sank, und wurde nach zwanzig Minuten vom Arzt … wieder ‚zurückgeholt‘. Einmal konnte man mich fast nicht mehr zurückholen. … Erst mit 22 Jahren begann ich wieder zu leben.“
Zur weiteren Tragik von Duvanels Leidensbiografie gehört, dass sie sich dann, kaum aus der Psychiatrie entlassen, treffsicher in einen toxischen Mann verliebte: in den bereits erwähnten Maler Joseph Duvanel, kurz „Joe“ genannt. Ein fünf Jahre jüngerer, attraktiver und zunächst charmanter Bohemian, der das Herz der Außenseiterin sofort per „Love-Bombing“ eroberte, wie man heute sagen würde.
Stundenlang spielte er der schüchternen Adelheid nachts Chopin auf dem Klavier vor. Sie war daraufhin hingerissen. 1962 heiratete das Paar überstürzt. 1964 kam die gemeinsame Tochter zur Welt, die auf Drängen von Joe Duvanel allerdings denselben Vornamen wie ihre Mutter erhielt. Und schon das wirkt im Nachhinein wie ein Warnzeichen. Denn offenbar hatte der launische Joe bereits zwei Jahre nach der Hochzeit genug von seiner unauffälligen Ehefrau – und wollte sie in Gestalt der Tochter gewissermaßen durch eine neue „Adelheid“ ersetzen.
Tatsache jedenfalls ist, dass sich die Ehe für Adelheid Duvanel danach in ein Martyrium verwandelte, weil ihr zunehmend despotischer Mann sie nicht nur bei der Kinderbetreuung im Stich ließ, sondern auch ständig mit anderen Frauen betrog. Ja, mehr noch: Obwohl verheiratet, holte sich Joe Duvanel nun schon bald eine Zweitfrau ins Haus, mit der er 1969 ebenfalls ein Kind bekam, den Sohn Francois.
Doch statt dem treulosen Ehemann den Laufpass zu geben, erduldete die anhängliche Adelheid devot dessen Eskapaden – und verharrte lange treu an der Seite ihres selbstsüchtigen „Bombo“. Woraufhin dieser erst recht den Respekt vor ihr verlor – und seiner auch zeichnerisch talentierten Ehefrau sogar das Malen verbot und aus Konkurrenzneid viele Bilder von ihr zerstörte.
1982 wurde die toxische Ehe dann zwar nach zwanzig Jahren geschieden. Wirklich los aber kam Adelheid Duvanel tragischerweise von ihrem manipulativen Ex-Mann nie. Auch, weil dieser sie selbst nach der Scheidung bis zu seinem Selbstmord 1986 stur weiter belagerte – und weiter quälte. „Mein Mann hat immer Angst, ich würde ihn alleinlassen; er spielt die ganze Nacht Klavier, ich muss zuhören, obwohl ich vor Müdigkeit fast umfalle“, gestand sie Beutler mehrere Monate nach der Scheidung 1982. „Mein Mann will, dass ich nur ihn anschaue, nur ihn berühre, dass ich eine Frau bin, die ihn gesund zaubert.“
Besonders bizarr an Duvanels Liebessucht-Drama wirkt jedoch dessen Missverhältnis zwischen öffentlichem Erfolg und privatem Elend. Denn so krachend die Autorin einerseits auch persönlich immer wieder scheiterte (und wegen ihrer Nervenzusammenbrüche ständig in der Psychiatrie landete), so frenetisch wurde sie doch andererseits ab 1980 als Literaturentdeckung gefeiert – und erhielt mehrere renommierte Preise, darunter den Literaturpreis ihrer Heimatstadt Basel 1987. Beides, ihr literarischer Ruhm und sozialer Abstieg, bedingten sich auf perfide Weise gegenseitig, weil Duvanel ausgerechnet in der Basler Psychiatrie jenen sehnlich gesuchten Schutzort fand, an dem sie endlich in Ruhe schreiben konnte.
Abgeschirmt vom toxischen Ehemann und ihrer früh drogensüchtigen Tochter wurde die Klinik für sie zum Refugium, in das sie sich oft ganze Monate lang zurückzog. Trotzdem schaffte sie es letztlich nie, sich von ihrer Liebessucht zu befreien. Wahrscheinlich auch aus Schuldgefühlen. Hatte sie ihre Tochter doch nicht davor schützen können, dass diese mit zwölf vom Vater sexuell missbraucht wurde. Ein besonders schändliches Vergehen von Joe Duvanel, das seine Ex-Frau erst sehr spät 1992 Beutler beichtete: „Es war nur ein einmaliger ‚Ausrutscher‘ von Joe“, redete Duvanel hier den Missbrauch ihres Mannes klein, „Er war betrunken. Aber sie [Adelheid] kam jahrelang nicht darüber hinweg. Ich übrigens auch nicht.“
Es liegt nahe, dass diese Missbrauchserfahrung wiederum zum entscheidenden Auslöser für die frühe Heroin-Sucht von Duvanels Tochter wurde. Schon als Jugendliche rutschte diese in die Prostitution ab, bevor sie ungeplant schwanger wurde – und 1985 Duvanels Enkelin zur Welt brachte, ohne sich aber als Fixerin um ihr Kind kümmern zu können.
Völlig im Abseits
Auch diese Aufgabe blieb also wieder an der Mutter hängen. Als die Tochter 1985 außerdem auch noch an Aids erkrankte, krachte das sowieso schon fragile Konstrukt von Adelheid Duvanel quasi endgültig zusammen. Denn als Mutter einer HIV-positiven Fixerin geriet sie nun völlig ins Abseits und wurde sogar in ihrer eigenen Familie gemieden. „Ich bin die unbelehrbare Mutter einer Pestkranken“, resümierte sie ihren Paria-Status einmal 1986 zynisch gegenüber Siblewski.
Und das war keineswegs übertrieben. Denn zum Terror ihres Ex-Manns und dem Drogenelend der Tochter kam nun noch die allgemeine Aids-Hysterie hinzu. Da HIV-Infizierte zu jener Zeit als hochriskante Krankheitsüberträger galten, wurden sie samt ihrer Angehörigen damals brutal ausgegrenzt und oft nur notdürftig medizinisch betreut. Die Folge war, dass sich Adelheid Duvanel ab 1985 quasi völlig allein um ihre dahinsiechende Junkie-Tochter kümmern musste. Womit sie natürlich endgültig überfordert war.
Die letzten dreihundert Seiten des Briefbands lesen sich darum wahrlich wie ein Blick in die Hölle und dermaßen unheilvoll, dass man sich ständig fragt, wie diese moderne Hiob-Frau es überhaupt noch schaffte, nebenher ihre großartigen Kurzgeschichten zu schreiben. Das wirkt angesichts ihrer absolut desaströsen Lebensumstände in den letzten zehn Jahren wirklich wie ein Wunder!
Denn immer wieder brach Adelheid Duvanel nun unter der enormen Belastung der Tochter-Pflege zusammen, wurde aus Verzweiflung zeitweise selbst kokainabhängig – und schrieb 1994 herzzerreißend an Beutler: „Ich habe nun so deutlich gesagt, dass ich Adelheid nicht mehr betreuen kann. Warum geht man so über mich hinweg?? … Ich habe telefoniert, telefoniert, telefoniert. … Ich könnte nur weinen und weinen.“
Die Ärzte rieten der völlig verzweifelten Schriftstellerin damals, sich radikal von ihrer Tochter loszusagen. Sie müsse die Aidskranke hinaus „auf die Straße jagen“, um sich selbst zu retten. Doch welche, auch weniger aufopferungswillige Mutter hätte einen solchen Ratschlag befolgen können?!
Duvanel jedenfalls brachte es nicht übers Herz, ihre todkranke Tochter in der Gosse verenden zu lassen, sondern nahm sie immer wieder bei sich auf. Womit sich ihr Elendskarussell dann jedoch weiter gen Abgrund drehte. „Nah bei dir“ ist von daher keine angenehme, aber eine wichtige Lektüre. Kreisen Duvanels Briefe doch letztlich um die bis heute schwer zu beantwortende Frage, wann eine fürsorgliche Liebe in die pathologische Selbstzerstörung kippt – oder ob wir es uns heute als überzeugte „Optimierer“ nicht vielleicht doch manchmal zu einfach machen mit unserer Trenddiagnose „toxisch“. Denn mit diesem schicken Wissenschaftsbegriff können wir uns eben auch sehr bequem vor jedem dilemmatischen Lebensproblem abschirmen – und müssen uns etwa mit dem verhängnisvollen Schicksal einer Adelheid Duvanel erst gar nicht beschäftigen.
Adelheid Duvanel: „Nah bei Dir – Briefe 1978-1996“. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Angelica Baum. Limmat Verlag, Zürich. 896 Seiten, 44 Euro.
Source: welt.de