
Mit der Zwangskollektivierung setzte Stalin Anfang 1930 den Krieg gegen die sogenannten Kulaken auf die Tagesordnung. Millionen dieser bäuerlichen „Kapitalisten“ wurden enteignet und deportiert. Entsetzliche Hungerkatastrophen waren das Ergebnis.
Was der Sieg Stalins über seine innerparteilichen Gegner und damit der aufkommende Stalinismus für die überwiegende Mehrheit der Sowjetbürger bedeuten sollte, machte die Direktive vom 30. Januar 1930 deutlich. Der Titel, den die Kommission unter Leitung von Stalins treuem Gefolgsmann Wjatscheslaw Molotow gewählt hatte, war drastisch genug: „Über Maßnahmen zur Eliminierung von Kulakenhaushalten in Gebieten mit vollständiger Kollektivierung“. Noch am selben Tag wurden die „Maßnahmen“ vom Politbüro der KPdSU beschlossen. Es war die Kriegserklärung an Dreiviertel der Bewohner der Sowjetunion.
Im Zuge der Oktoberrevolution 1917 hatten die Bauern auf dem Land ihre eigene Revolution durchgeführt und die riesigen Ländereien von Adel und Großgrundbesitzern unter sich aufgeteilt. Zwar hatten während des Bürgerkriegs rote und weiße Armeen die Ernten geplündert und viele Soldaten mit Gewalt von den Höfen rekrutiert. Aber nach ihrem Sieg mussten die Bolschewiki erkennen, dass die Versorgungsprobleme nur mit einer funktionierenden Landwirtschaft bewältigt werden konnten.
Im Rahmen der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP) wurde den Bauern gegen die Lieferung einer Naturalsteuer Produktion und Vertrieb von Überschüssen in Eigenregie zugestanden. Damit gewährte Lenin dem ländlichen Russland und seiner traditionellen Gesellschaft und Mentalität zähneknirschend Freiheiten, die in der kommunistischen Ideologie nicht vorgesehen waren. In ihr blieben die Bauern ein kleinbürgerlicher Überrest aus kapitalistischen Zeiten, den es auszumerzen galt. Daher war die NÖP allenfalls als kurze Übergangszeit vor dem vollständigen Aufbau des Sozialismus vorgesehen.
Um diesen angestrebten Zustand endlich zu starten, hatte Stalin, der seit 1922 als Generalsekretär des ZK der KPdSU amtierte, 1929 den ersten industriellen Fünfjahresplan durchgesetzt, der die Produktion zu neuen Rekorden treiben sollte. Mit diesem „großen Sprung“ sollte zugleich die Arbeiterschaft vergrößert werden. Aber die eklatanten Mängel an Erfahrung, Organisation und Material sorgten dafür, dass viele Projekte bereits im Rohbau steckenblieben und verrotteten.
Da viele Bauern es vorzogen, ihre Produkte weiterhin zu reellen Preisen auf dem Schwarzmarkt zu vertreiben, weitete sich die Versorgungskrise aus, die in den Städten zu Rationierungen führte. Auch fehlte das Korn für den Export, der wichtige Devisen ins Land brachte.
Stalin erinnerte sich daher an die brutalen Methoden, mit denen sich die Rote Armee während des Bürgerkriegs ernährt hatte und die er selbst bei einer Inspektionsreise nach Sibirien wieder zur Anwendung brachte. Die Abgabequoten wurden erhöht, was viele Bauern jedoch zu umgehen wussten. Daraufhin setzten Stalin und seine Gefolgsleute im ZK die Zwangskollektivierung auf die Tagesordnung. Die Bauern sollten ihr Land und ihre Geräte in die Kolchosen einbringen, die trotz aller Werbung nach wie vor ein Nischendasein fristeten.
Damit wurden die „Kulaken“ zum Feindbild. Ursprünglich beschrieb der Begriff Bauern, die in der Lage waren, Landarbeiter einzustellen oder Maschinen zu verleihen. Nun wurde „Kulak“ zum Schlagwort für „Kapitalisten“, die es auszulöschen galt, nicht, indem man sie ihrer Habe beraubte und als Arbeiter in die Kolchosen zwang, sondern indem man sie buchstäblich liquidierte. Oder, wie Stalin es ausdrückte: „Wenn der Kopf abgehackt ist, weint man nicht mehr um die Haare.“
Damit, so das Kalkül, würde der übrigen Dorfbevölkerung ein deutliches Signal gegeben, sich endlich der Kollektivierung anzuschließen. Zum anderen würde der Opposition das Rückgrat gebrochen, nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Partei. Denn dort votierten Stalins Gegenspieler um Nikolai Bucharin, Alexai Rykow und Michail Tomski weiterhin für die Beibehaltung der NÖP.
Bereits am 5. Januar 1930 fiel im Politbüro die Entscheidung, die Kulaken als Klasse zu eliminieren. Wie das zu geschehen hatte, stellte die Molotow-Kommission 25 Tage später klar: Die Gruppe der „konterrevolutionären Aktivisten“ sollte ihres Eigentums beraubt und deportiert werden. Widerstand war als „terroristischer Akt“ mit der Todesstrafe zu ahnden. Als Quote wurden 63.000 Familien angegeben.
In der zweiten Gruppe wurden „die reichsten Kulaken“ und „Halbgrundbesitzer“ zusammengefasst, rund 150.000 Familien, die mit einem Minimum an Habe in den hohen Norden, den Ural, Sibirien und Kasachstan abgeschoben werden sollten. Alle übrigen – bis zu 800.000 Haushalte – sollten auf die schlechtesten Böden am Rand eines Dorfes versetzt werden.
„Nun begann die systematische ,Liquidierung‘ all derer, die aufgrund ihrer materiellen Lage oder ihrer – eventuell auch zugeschriebenen Haltung als Feinde der bestehenden Ordnung galten“, urteilt der Historiker Manfred Hildermeier. Dabei waren die Kriterien ebenso vielfältig wie beliebig, sodass jeder Bauer in die Lage geraten konnte, als „Kulake“ identifiziert (oder denunziert) zu werden.
Umgehend wurden 25.000 Arbeiter-Aktivisten in die Provinz gesandt, um die Kulaken zu jagen und die Kollektivierung in Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei (OGPU) und örtlichen Parteikadern abzuschließen. Man hat errechnet, dass 1929 in der Sowjetunion nur eine halbe Million Familien (etwa drei Millionen Individuen) existierten, die Landarbeiter einstellen oder Produktionsmittel verleihen konnten. Indem deutlich höhere Quoten festgelegt worden waren, provozierte das völlig willkürliche Zuschreibungen. Gerade in den fruchtbaren Schwarzerdegebieten der Ukraine und an der Wolga erlitten bis zu zehn Prozent einer Dorfgemeinschaft ein Kulaken-Schicksal.
Der „Krieg“ gegen die „Klassenfeinde“ wurde mit äußerster Brutalität geführt. In Nacht- und Nebelaktionen wurden Familien aus ihren Häusern geholt. „Was konnten wir denn innerhalb einer Stunde einpacken?“, erinnerte sich ein Betroffener: „Alles blieb zurück: unser Haus, unsere Scheunen, unser Vieh, unsere Bettwäsche, die Kleidung und das Porzellan.“
Die Landstraßen waren voll mit Kolonnen verzweifelter Menschen, die sich mit wenigen Habseligkeiten zu den Sammelstellen schleppten. Sie wurden bei winterlichen Temperaturen in ungeheizte Viehwaggons gesteckt und, wenn sie die Strapazen der Fahrt überlebten, im nördlichen Nirgendwo nur mit dem ausgesetzt, was sie in aller Eile hatten mitnehmen können. An den Ankunftsorten gab es weder Organisation noch Infrastruktur, sodass bereits in den ersten Wochen zehn Prozent der Deportierten starben.
Von den 2,1 Millionen Opfern dieser Kategorie dürften 315.000 bis 420.000 „vorfristig“ gestorben sein, schätzt Hildermeier. Weitere zwei bis drei Millionen wurden in ihren Heimatregionen umgesiedelt. Bis 1935 zählten die Slums ehemaliger Bauern in den Großstädten 17 Millionen Bewohner.
Mit den Deportierten verloren die Dörfer die agilsten Mitglieder ihrer Gemeinschaft. Da Gewalt und Willkür jeden treffen konnten, schlachteten viele Bauern ihr Vieh und verbrannten überschüssiges Getreide, um es nicht in die Hände der Täter fallen zu lassen. Bis zu zwei Millionen Menschen sollen sich an regelrechten Aufständen und Widerstandsaktionen beteiligt haben, denen mehr als 1000 Aktivisten und Funktionäre zum Opfer fielen.
Gleichwohl meldeten die Jagdkommandos binnen weniger Wochen Kollektivierungsraten von mehr als 50 Prozent, was selbst Stalin als „Schwindel“ erkannte. Kurzfristig wurden die Gewaltaktionen gestoppt. Aber Ende 1930 begann eine zweite Welle der Zwangsmaßnahmen.
Die Verluste an Menschen, Zugtieren und Erfahrung, der Mangel an Saatgut und die von der Moskauer Zentrale drastisch erhöhten Abgabequoten führten 1932/33 zumal in der Ukraine zu Missernten, die zu dramatischen Versorgungskrisen führten. Stalin erklärte den Hunger zur Waffe gegen Kulaken und Konterrevolutionäre, die allein in der Ukraine zwischen fünf und zehn Millionen und in Kasachstan 1,5 Millionen Opfer forderte. Nicht umsonst nennt die Ukraine den Holodomor (Hungertod) einen – auch vom Deutschen Bundestag anerkannten – Genozid, wurde er von der KP-Führung doch bewusst zur politischen und sozialen Disziplinierung eingesetzt.
Das Opfer war das alte Russland, ein ganzer über Jahrhunderte gewachsener „Kontinent“, wie es der russische Schriftsteller und Dissident Lew Kopelew formuliert hat. „Die Kollektivierung … war der gewaltsame Versuch, das alte Russland aus der Welt zu schaffen und Widerstand mit Gewalt zu brechen“, urteilt der Historiker Jörg Baberowski. „Die Kolchose war das Instrument, mit dem diese Unterwerfung vollbracht werden sollte. Sie nahm den Bauern die Früchte ihrer Arbeit, führte sie in die Leibeigenschaft zurück, aus der der Zar sie befreit hatte, und verwandelte Bauern in Sklaven, über die das Regime nach Belieben verfügen konnte.“
Schon in seiner Geschichts-Promotion beschäftigte sich Berthold Seewald mit der Geschichte Ost- und Südosteuropas. Als WELT-Redakteur gehörte Russland zu seinen Arbeitsgebieten.
Source: welt.de