Seit mehr als zwei Jahren warten viele im Westen darauf, dass Russlands Wirtschaft unter der Last der Sanktionen zusammenbricht. Doch schon im vergangenen Jahr wurde diese Hoffnung enttäuscht – da stieg das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 3,6 Prozent. 2022 war es gerade einmal um 1,2 Prozent zurückgegangen. Und auch für dieses Jahr werden die Prognosen nach oben korrigiert. Der Internationale Währungsfonds rechnet mittlerweile mit einem Wachstum von 3,2 Prozent – deutlich mehr als etwa in Frankreich und Deutschland.
Auch andere Kennzahlen scheinen ein Triumph für den Kreml zu sein: So lagen die Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf im ersten Quartal um 79 Prozent über denen des Vorjahreszeitraums, die Einnahmen aus anderen Wirtschaftsbereichen waren um 24 Prozent höher. Das Haushaltsdefizit lag mit 0,3 Prozent des BIP im Rahmen des Jahresplans.
Ölpreise steigen
Der Zuwachs bei den Öl- und Gaseinnahmen hat wenig mit dem Gas zu tun, dessen Export nach dem Verlust des europäischen Marktes eingebrochen ist. Ausschlaggebend waren der im Vergleich zum Frühjahr 2023 deutlich höhere Ölpreis sowie Steueränderungen: Die Mineralgewinnungsteuer wird inzwischen auf die geförderte, nicht auf die exportierte Menge erhoben. Dass auch die sonstigen Einnahmen steigen, liegt am allgemeinen Wachstum, das vor allem durch die hohen Staatsausgaben für militärische Zwecke angestoßen wird – sie umfassen mittlerweile ein Drittel aller Ausgaben.
Auch der Anstieg des Leistungsbilanzüberschusses um 43 Prozent im ersten Quartal – die Importe gingen um 10 Prozent zurück, die Exporte nur um 5 Prozent – kommt dem Haushalt gelegen. Laut Alexandra Prokopenko, die bis zum Februar 2022 die russische Zentralbank beriet und nun für die Denkfabrik Carnegie arbeitet, führte Russland vor allem wegen amerikanischer Drohungen mit Sekundärsanktionen gegen chinesische Banken weniger Waren ein. Es fänden zwar noch viele Finanztransaktionen statt, schrieb Prokopenko kürzlich in einem Beitrag für Carnegie, diese brauchten aber länger und seien teurer als zuvor.
China ist für Russland zum mit Abstand wichtigsten Partner geworden – als Abnehmer von Öl und Gas, aber auch als Lieferant von Waren, die wegen der Sanktionen nicht mehr aus dem Westen kommen, besonders Mikrochips und andere Güter, die für die Waffenproduktion gebraucht werden. Wie lange Russland sein Wachstum aufrechterhalten kann, ist unklar, da sich hinter den guten Zahlen enorme Probleme verbergen. Besonders drängend ist der Mangel an Arbeitskräften, da Hunderttausende Russen einberufen wurden, Zehntausende wegen des Krieges das Land verlassen haben und viel weniger Arbeitskräfte aus Zentralasien kommen.
Arbeitslosenquote auf historisch niedrigen Stand
Der schwache Rubel, die Gefahr, an die Front zu müssen und zunehmende Drangsalierungen nach dem Terroranschlag durch Attentäter aus Tadschikistan Ende März tragen dazu bei. So fehlt es überall an Personal. Die Arbeitslosenquote lag im vergangenen Jahr mit 3,2 Prozent so niedrig wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen 1992 und sank im März dieses Jahres auf 2,7 Prozent. Präsident Wladimir Putin brüstet sich gerne mit diesen Rekorden, dabei ist der Arbeitskräftemangel eine der Hauptursachen für die Inflation, die bei 8 Prozent liegt und damit doppelt so hoch ist wie von der Zentralbank angestrebt: Der Leitzins liegt seit Dezember bei 16 Prozent, was die zivile Wirtschaft schwer belastet.
Die Rüstungsbetriebe werden dagegen mit geförderten Krediten versorgt und können mit immer höheren Löhnen Arbeitskräfte aus anderen Branchen abwerben. Sogar aus dem Öl- und Gassektor, der lange als einer der attraktivsten Arbeitgeber galt, werden Probleme gemeldet – viele nehmen lieber einen Job in einer Fabrik am Heimatort an, als für das gleiche Gehalt wochenlang fern von der Familie auf Ölfeldern zu arbeiten.
Doch längst nicht alle Russen profitieren vom Krieg. Überproportional steigen die Gehälter in den Regionen mit starker Rüstungsindustrie sowie in solchen, aus denen besonders viele Russen an die Front geschickt wurden – etwa arme Regionen wie Tuwa, Burjatien oder der Nordkaukasus. Auch wenn Staatsangestellte wie Lehrer und Ärzte kaum mehr verdienen und Rentner unter der Inflation leiden, steigen die real verfügbaren Einkommen so stark wie seit vielen Jahren nicht: 2023 nahmen sie im Vergleich zum Vorjahr nach offiziellen Angaben um 5,8 Prozent zu, was den Konsum und in der Folge das Wirtschaftswachstum antrieb. Ähnliche Zahlen werden auch für dieses Jahr erwartet.
Ökonomen weisen allerdings darauf hin, dass die russische Wirtschaft dank der hohen Militärausgaben wie „auf Steroiden“ sei und kein nachhaltiges Wachstumsmodell aufbieten könne: Die produzierten Panzer und Waffen schüfen keinen Mehrwert für die Zukunft, und die hohen Löhne sowie Zahlungen an Soldaten und ihre Familien führten zu einer Blase auf dem Kredit- und Hypothekenmarkt, die nach einem Ende des Krieges platzen könnte.
Für dieses und mindestens auch noch das nächste Jahr aber erwarten die meisten Experten, dass dem Kreml dank der hohen Einnahmen genug Geld für seinen Angriffskrieg und die Subventionierung der Kriegswirtschaft zur Verfügung stehen wird.