Hörbuch von Angela Winkler: Alles ist wichtig

Das Theater ist eine Kunst nur für den Augenblick – es ist vorbei, wenn die Lichter im Saal angehen und der Vorhang fällt. Kann schon sein, dass am nächsten Abend das gleiche Stück wieder aufgeführt wird, aber es ist trotzdem anders. Man steigt eben nicht zweimal in den gleichen Fluss, wie es der griechische Philosoph Heraklit formulierte. Deswegen ist es vielen Theaterleuten oft ein wenig suspekt, sich schriftlich zu erklären und festzulegen, erst recht durch die Veröffentlichung von Memoiren. Etwas vom fahrenden Volk mit seinem leichten Gepäck steckt ihnen allen in den Knochen.

Umso höher ist die Dramaturgin Brigitte Landes zu loben, der es gelungen ist, die Schauspielerin Angela Winkler zu einer Autobiographie anzuregen, die 2019 unter dem Titel „Mein blaues Zimmer“ erschienen ist. Eine lineare Lebenschronik von der Geburt bis zur Rente war da nicht zu erwarten, weil Angela Winkler, ein Luftikus von höchsten theatralischen Gnaden, ihre Freiheit über alles liebt. Insgesamt ergaben die Skizzen und Szenen indes einen plastischen, humorvollen, warmherzigen Querschnitt einer außergewöhnlichen Karriere – und zeigten darüber hinaus eine hinreißend eigensinnige, bodenständige wie ungebundene Persönlichkeit.

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Nun hat Angela Winkler „Mein blaues Zimmer“ als Hörbuch eingelesen. Eine gute Idee, denn so eindrucksvoll ihr Buch auch ist, durch die Stimme und die anarchische Präsenz der Autorin gewinnt ihre „autobiographische Erzählung“ eine zusätzliche Dimension. „Soll ich mal anfangen? Ja? Okay?“, fragt sie zu Beginn vermutlich den Tontechniker, und dann legt sie los. Den besonderen Charme dieser Aufnahme macht es aus, dass die beiläufigen, „inoffiziellen“ Momente, die normalerweise vor dem Erscheinen weggeschnitten werden, hier nicht entfernt wurden. „Ich habe eine Ablehnung, ‚perfekt‘ zu sein“, erläutert Winkler genau in diesem Sinne: „Jeder Mensch muss heute, ob er will oder nicht, 100 Prozent perfekt sein, um allem gerecht zu werden. Und genau das will ich nicht, ich sträube mich dagegen.“

Also hört man sie einen Schluck trinken, sie seufzt, stöhnt auf, hustet, wenn ihr danach ist, singt und schreit, Papier raschelt. Und häufig hört man sie spontan auflachen – über ihre Worte, über ihre Abenteuer, über den Lauf der Welt. Obwohl sie den Text ja eigenhändig geschrieben hat, behält sie eine professionelle Distanz, wägt ab, prüft, horcht nach, weicht gelegentlich von der Vorlage ab und extemporiert geographisch etwas unscharf: „Ich wurde in Templin geboren“ – Pause – „wie Angela Merkel!“ – Gelächter. So farbig wie unsentimental erzählt sie von ihrer Entwicklung, von ihrer Kunst, vom Alltag mit ihrer Familie, dem Ehemann Wiegand Wittig, einem Bildhauer, und den vier gemeinsamen Kindern, von ihren Eltern. Alles ist wichtig, die ganze Welt ist ihr Inspiration. Hemmungslos ruft sie aus: „Ich liebe das Leben, verdammt noch mal!“

Bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs

Ihre Stimme, die immer schon kostbar dunkel nuanciert war, klingt jetzt, da Angela Winkler über achtzig Jahre alt ist, deutlich sonorer und verschatteter, fast schwarz, eine erlesen raunende, samtig-vollmundige Beschwörerin des Imperfekts. Trotzdem bricht sie gern, von sich amüsiert, in das unbeschwerte Lachen eines jungen Mädchens aus, das jede Bedeutungsschwere vergnügt beiseiteschiebt. Einerseits geht es ums Unkrautjäten in einem der vielen Gärten, die sie im Lauf der Zeit betreute, um Apfelkuchen oder Haustiere. Andererseits erinnert sie sich an die Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Peter Zadek, Robert Wilson, Klaus Michael Grüber, wie sie alle in Paris, Wien, Mailand und querbeet in Deutschland gefeiert wurden, wie sie selbst in bedeutenden Inszenierungen Theatergeschichte mitgeprägt hat. Klar und offen, hellsichtig und verschmitzt, spricht Angela Winkler über ihre Kunstauffassung und darüber, auf welch schwierigen Wegen – mitunter bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs – sie sich verschiedenen Rollen angenähert hat.

Als „Hamlet“ bei Zadek 1999 musste sie sich besonders anstrengen, floh von den Proben in Frankreich bis nach Niedersachsen, wo sie an der Elbe den Wildgänsen in der Luft ihren Text zurief: „Die Wildgänse schnatterten und da hab ich das erste Mal, glaub ich, etwas von Shakespeare begriffen.“ Weshalb sie ihren Beruf so liebt? „Weil ich ihm nicht ausweichen kann und will. Ich versuche, wahr und einfach zu sein. Aber manchmal habe ich keinen Schutzmantel um mich.“

Angela Winkler verschweigt neben allen Erfolgen die schwierigen Situationen nicht, in die sie gerät, seien es die Sorgen um ihre Tochter Nele, die mit dem Down-Syndrom geboren wurde, oder die Erfahrungen des Älterwerdens mit Schwächephasen und Krankheit. Einmal stürzt sie, um die siebzig Jahre, im Schwimmbad und wacht mit einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus auf: „Zum ersten Mal fühlte ich mich alt.“ Das Theater rettet sie aus der Depression, sie wagt sich 2016 in eine Produktion des Regisseurs Simon Stone, der Ibsens „Peer Gynt“ am Schauspielhaus Hamburg „überschreibt“. Dort trat sie bereits vor fünfzehn Jahren bei einem Gastspiel als Hamlet auf, und wie sie sich dessen entsinnt, verrät viel vom Humor und Freimut der Angela Winkler: „Aus dem Publikum rief jemand bei dem berühmten Sein-oder-Nichtsein-Monolog: ‚Lauter!‘ Ich sagte: ‚Sie kennen das doch alle‘, und habe weitergespielt.“

Um Angela Winkler in diesem ­großartigen Hörbuch zu begreifen und zu bewundern, muss man nicht sämt­liche ­Inszenierungen und Filme mit ihr ­gesehen haben – ein bisschen Liebe zum Metier genügt. Dann kann man sich ­bedingungslos dieser unvergleichlichen Schauspielerin anvertrauen und, sanft gebettet in die lebensweisen Mo­dulationen ihrer wohltönenden ­Theaterwindsbrautstimme, die schönsten Einblicke, Reisen, Tollheiten genießen.

Angela Winkler: „Mein blaues Zimmer“. Gelesen von Angela Winkler. Speak low, Berlin 2025. 240 Min., 1 MP3-CD, 22,– €.

Source: faz.net