Bei der Analyse von menschlichen Knochen aus der letzten Eiszeit, die in Südpolen gefunden wurden, haben Wissenschaftler eine grausige Entdeckung gemacht. Die Toten waren offenbar von Artgenossen verspeist worden. War Bevölkerungswachstum der Grund?
Als vor etwa 20.000 Jahren die letzte Eiszeit ihren Höhepunkt erreichte und die Gletscher von Skandinavien aus bis nach Berlin und von den Alpen aus bis nach München vorgedrungen waren, entwickelten die Menschen in den eisigen Steppen zahlreiche Schutztechniken. Mit der Speerschleuder gewannen sie eine Waffe, mit der sich große Säugetiere leicht erlegen ließen. Aus Geweih und Knochen zusammengesetzte Gerätschaften ermöglichten das effektive Zerlegen der Beute. Und mit der Erfindung der Nähnadel konnten Leder- und Fellstücke so zusammengefügt werden, dass sie optimalen Schutz gegen die Witterung boten.
Dass die Kultur des Magdalénien, wie diese Epoche des mittleren Jungpaläolithikums vor etwa 20.000 bis 14.000 Jahren genannt wird, trotz der herrschenden Kälte nicht von großer Not geprägt war, zeigen die berühmten Höhlenmalereien oder Figurinen aus jener Zeit. Aber Homo sapiens entwickelte damals offenbar auch Praktiken, die weniger hinreißend erscheinen: Er ging dazu über, Artgenossen zu verspeisen.
Zu diesem Schluss kommt ein internationales Forscherteam, das menschliche Knochenreste in der Maszycka-Höhle nördlich von Krakau untersucht hat. Seit Ende des 18. Jahrhunderts kamen dort zahlreiche Skelettreste von Menschen und Tieren ans Licht, die ins Magdalénien datiert werden. Für ihre Studie, die in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“ erschienen ist, hat die Gruppe 63 Knochen von zehn Individuen aus der Zeit vor 18.000 Jahren analysiert. Dabei wurden in 36 Fällen Spuren entdeckt, die auf eine Zerlegung der Individuen unmittelbar nach ihrem Tod hindeuten.
Schnittspuren an Schädelfragmenten zeugen von einer Abtrennung von Muskelansätzen und der Kopfhaut, während lange Knochen zerschlagen wurden, um an das Knochenmark zu gelangen. „Die Position und Häufigkeit der Schnittspuren sowie die gezielte Zerschlagung von Knochen lassen keinen Zweifel, dass hier nahrhafte Bestandteile der Toten gewonnen werden sollten“, erklärt Erstautor Francesc Marginedas vom Catalan Institute of Human Paleoecology and Social Evolution in einer Mitteilung der Universität Göttingen, die an dem Projekt beteiligt ist.
Dass Hunger und Not der Anstoß für diese kannibalistischen Praktiken gewesen sind, halten die Forscher jedoch für unwahrscheinlich. Thomas Terberger vom Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen verweist auf die „vielfältigen künstlerischen Zeugnisse“, die „günstige Lebensbedingungen in dieser Zeit“ bezeugten. „Daher erscheint es unwahrscheinlich, dass der Kannibalismus aus Not praktiziert wurde.“
Vielmehr könnte die Gewalt, die sich in den Knochenfragmenten spiegelt, auf ein Bevölkerungswachstum hindeuten. Vielleicht stießen hier die Träger der Magdalénien-Kultur, deren Zentrum in Frankreich verortet wird, auf Gruppen, die die Kaltsteppen Osteuropas als ihr Jagdrevier verstanden. Ausgrabungen lassen den Schluss zu, dass vor etwa 23.000 Jahren besonders hochgewachsene Vertreter des Homo sapiens von Südwestasien aus in diese Region eingewandert waren.
Bei den untersuchten Toten aus der Maszycka-Höhle kann es sich daher um Opfer von „Gewaltkannibalismus“ handeln, erklärt Francesc Marginedas: „Nach dem Kältemaximum der letzten Eiszeit kam es zu einem Bevölkerungswachstum, und das kann zu Konflikten um Ressourcen und Territorien geführt haben.“ Kannibalismus sei vereinzelt bereits im Zusammenhang mit Gewaltkonflikten bezeugt. Hinzu komme, dass in der Maszycka-Höhle menschliche Überreste mit Siedlungsabfall vermischt seien. Da deute „auf keinen respektvollen Umgang mit den Toten“ hin, so der Anthropologe.
Dieser Befund würde auf den ersten Blick einem rituellen Kontext widersprechen, wie er für andere Fundstätten des Magdalénien angenommen wird. Man hat dort sogar von einem „rituell geprägten Schädelkult“ (Hermann Parzinger) gesprochen, weil Köpfe an anderen Orten deponiert wurden als die übrigen Teile des Skeletts. Allerdings sprechen auch in diesen Fällen Spuren an Knochen von erheblicher Gewalteinwirkung, waren die Nackenmuskulatur durchtrennt und Weichteile wie die Nase entfernt worden.
Ob es sich dabei um Zeugnisse magischer Rituale handelt, ist eine offene Frage. „Zweifellos handelt es sich in diesen Fällen jedoch um rituell begründete Aktionen, die vielleicht Ausdruck einer bereits beim Frühmenschen vorhandenen Tendenz waren, lebensweltliche Erfahrungen, die nur schwer oder gar nicht zu verstehen waren, zu transzendieren“, urteilt der Prähistoriker Hermann Parzinger in seiner „Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“. Vielleicht erklärt das auch die Toten der Maszycka-Höhle.
Schon in seiner Geschichts-Promotion beschäftigte sich Berthold Seewald mit Brückenschlägen zwischen antiker Welt und Neuzeit. Als WELT-Redakteur gehörte die Archäologie zu seinem Arbeitsgebiet.
Source: welt.de