Hengameh Yaghoobifarahs „Schwindel“: Szenen einer Situationship

Ava datet gern, viel und locker. Kein Commitment, also keine Verpflichtung, nur eine gute Zeit, gern dirty, gern berauscht. Doch die „Matrix der Lover“ fällt in sich zusammen, als Delia und Silvia, zwei ihrer drei „Situationships“ unerwartet bei ihr zu Hause auftauchen und ihr Date mit Robin stören. Überfordert und ohne Wohnungsschlüssel flieht Ava aufs Hochhausdach, wohin ihr die anderen drei folgen. Was sich anschließend entspinnt, ist ein multiperspektivisches Kammerspiel über queeres Begehren, Verantwortung und die Widersprüchlichkeit der eigenen Identität.

Autor*in Hengameh Yaghoobifarah gelingt es auch im zweiten Roman, Schwindel, die Lebensrealität queer orientierter und damit oft marginalisierter Menschen kompromisslos abzubilden. Wie in Yaghoobifarahs viel gelobten Debüt Ministerium der Träume aus dem Jahr 2021 geht es um Beziehungen, die durch eine queere Linse erzählt werden. Diesmal geht es aber nicht um die Konstellationen in einer Wahl- und Zwangsfamilie, sondern um romantisch-sexuelle Verstrickungen.

Aus vier Perspektiven erzählt, schwenkt das Buch schwindelerregend schnell vom Kopf einer Liebhaber*in zum nächsten, füttert die Lesenden nur nach und nach mit Informationen, die jedoch sprachlich pointiert und so gehaltvoll sind wie warme Spaghetti direkt aus dem Parmesanlaib. Gabel für Gabel sticht man tiefer, schabt an der fettigen Substanz und kann gar nicht genug bekommen. Im Zentrum steht dabei die Lust, die jede Szene überspannt, mal subtil, mal sehr explizit. Sie fungiert als Tor zur eigenen Identität und wird – insbesondere von Ava – offen ausgelebt. Doch manchmal ist ein Tor eben auch ein Notausgang, und manchmal wird Begierde zur Flucht. So auch für Avas Liebhaber*innen, für die die Affäre mit ihr sehr unterschiedliche Funktionen erfüllt.

Muss man eben googeln

Da gibt es die deutlich ältere Silvia, die keine Lust auf ihren einsamen Alltag hat und das Gefühl, die beste Zeit hinter sich zu haben. Delia, deren Körper sich erst durch Ava nicht mehr wie das verhasste Gefängnis anfühlt, oder Robin, die sich selbst „unfreiwillige Hete“ nennt und durch Ava die Frage verdrängen kann, ob ihre Langzeitbeziehung mit ihrer eigenen sexuellen Identität zu vereinen ist. Ava selbst sucht in ihren Beziehungen „some kind of heaven“, kann aber keine langfristige Nähe zulassen, will nur die, die sie nicht haben kann. Yaghoobifarahs Figuren wandeln stets zwischen potenzieller Utopie und brutalem Realismus.

Stoff, der das Potenzial hat, ins Klischeehafte abzudriften, wird von Yaghoobifarah gekonnt durch eine Fülle an Tabuthemen gelenkt, ohne diese je wie Tabuthemen klingen zu lassen. Queerness wird im Roman zur Normalität, cis-Männer zur Nebensache.

Sexualisiert wird ständig, dabei immer ausgehend vom „queer gaze“. Queer Gaze? Nicht jedem geläufige Begriffe wie TERF, Fag und Dyke werden so beiläufig wie selbstverständlich erwähnt. Wer sich nicht auskennt, muss eben googeln. Dass das den Leser*innen zugetraut wird, tut gut.

Die vier auf dem Hochhausdach verhandeln hitzig queere sowie generationelle Diskurse, am Ende dreht es sich fast immer um Lust und die eigene Identität. Das ist sehr unterhaltsam, manchmal fragt man sich allerdings, ob die Figuren noch mehr sind als die Summe ihrer Begierden.

Die Sprache, in der Hengameh Yaghoobifarah schreibt, ist gespickt mit Anglizismen, provokativ und bildhaft. Die Fülle an sexuell aufgeladenem Vokabular wird durch Bezeichnungen wie „emotionales Squirten“ anstelle von Weinen ad absurdum getrieben. Auch wenn sich die Figuren in deren Ausdruck sehr ernst zu nehmen scheinen, kommt man teilweise um eine komödiantische Lesart kaum herum. Durch Delia zeigt Yaghoobifarah außerdem, wie man mühelos über eine nicht-binäre Person mit den Pronomen dey und demm sprechen kann. Es gibt immer wieder kurze poetische Einschübe und abstrakte Illustrationen, die die klassische Erzählform aufbrechen und dazu führen, dass der Roman sich schneller liest, als es durch die angestachelten Gespräche ohnehin schon der Fall wäre. Schwindel ist ein Roman darüber, wie selbstverständlich und kompliziert Begehren abseits von Heteronormativität ist, und fragt, was es zur queeren Utopie braucht.

Schwindel Hengameh Yaghoobifarah Aufbau-Verlag 2024, 240 S., 23 €

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