Nach jahrelangen Sozialstaatsdebatten hat die Bundesregierung eine Reform des Bürgergelds auf den Weg gebracht. Verabschiedet vom Bundeskabinett, soll sie im kommenden Jahr im Bundestag verabschiedet werden.
Jobcenter können dann schneller und weitreichender Leistungsminderungen verhängen – was vor allem jene kritisieren, die täglich mit den sozialen Folgen dieser Sanktionen konfrontiert sind. Menschen wie Freitag-Kolumnistin Helena Steinhaus. Wer vom Jobcenter sanktioniert wird, findet bei ihr Hilfe: Ihr Berliner Verein Sanktionsfrei bietet juristische und finanzielle Unterstützung für Bürgergeld-Bezieher an. Die geplante Verschärfung beunruhigt Steinhaus.
der Freitag: Frau Steinhaus, mit dem am Mittwoch im Kabinett beschlossenen Gesetzesentwurf will die Bundesregierung die Möglichkeit, Sozialhilfebezieher zu sanktionieren, erheblich ausweiten. Sogar die Wohnkosten sollen gestrichen werden können. Rechnen Sie mit einer Zunahme von Leistungsminderungen unter den neuen Regelungen?
Helena Steinhaus: Auf jeden Fall, die Zahl und die Intensität werden steigen. Es sollen jetzt viel höhere Abzüge möglich werden als beim Bürgergeld, wo Sanktionen zumindest formal auf 30 Prozent begrenzt waren – außer in Ausnahmefällen, wenn zweimal eine Arbeit abgelehnt wurde und 100 Prozent gestrichen werden können. In der neuen Grundsicherung soll bereits bei der ersten (!) Ablehnung einer Arbeit der Regelsatz komplett gestrichen werden können! Und genau darauf ist diese Reform ja angelegt. Auch wenn die SPD behauptet, es werde nicht unbedingt zu einer Zunahme von Sanktionen kommen – das reden die sich wahrscheinlich gern ein. Aber die CDU legt es ja ganz offensichtlich darauf an, dass mehr sanktioniert wird. Und so wird es auch kommen.
Wie bereiten Sie sich bei dem Verein Sanktionsfrei auf diesen Anstieg vor?
Tatsächlich haben wir unser Team schon aufgestockt, wahrscheinlich brauchen wir auch dauerhaft mehr Leute. Und natürlich intensivieren wir auch unsere Pressearbeit, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Mussten Sie aus Kapazitätsgründen schon Hilfesuchende abweisen?
Wir können jetzt schon nicht alle unterstützen, die uns kontaktieren. Aber unsere Kapazitäten steigen, weil wir auch immer mehr Spenden bekommen für den Solidartopf, mit dem wir von Sanktionen betroffene Menschen finanziell unterstützen – und für die Rechtshilfe. Je mehr Leute sich uns anschließen und dauerhaft spenden, desto besser können wir auch damit umgehen, was auf uns zukommen wird.
Was macht es mit Ihnen, wenn Sie jemandem nicht helfen können?
Das ist schwierig. Natürlich fühlt es sich besser an, wenn wir praktisch helfen können. Aber am Ende geht es auch nicht um uns, sondern um die Millionen Menschen, die unter diesen Verschärfungen leiden werden.
Alle Studien belegen, dass erhöhte Sanktionen keine nachhaltig positiven Auswirkungen haben
Wen werden die Neuregelungen besonders treffen?
Es wird ja immer betont: „Wer mitmacht, hat nichts zu befürchten.“ De facto gibt es aber Leute, die können gar nicht „mitmachen“. Das sind Menschen, die sich zum Beispiel in psychischen Ausnahmesituationen befinden. Sie leiden unter Depressionen, Suchtkrankheiten oder Angststörungen. Aber es gibt auch ganz andere Beispiele: Leute, die ins Krankenhaus eingewiesen werden und deshalb nicht erreichbar sind. Die kommen nach zwei Wochen nach Hause, öffnen dann den Sanktionsbescheid und stehen vor einem sozialen Scherbenhaufen.
Nun würden die Reformbefürworter einwenden, dass es ja Menschen gibt, die das bisherige System ausnutzen. Kann der Druck bei diesen Menschen nicht sinnvoll sein?
Es ist absurd, dass behauptet wird, man würde mit diesen Verschärfungen die Leute treffen, die das System ausnutzen. Wer das will – und das betrifft nur extrem wenige Leistungsempfänger –, geht natürlich zum Termin. Sonst wäre man ja blöd. Sanktionen sind der komplett falsche Weg. Alle Studien belegen, dass erhöhte Sanktionen keine nachhaltig positiven Auswirkungen haben. Es ist Symbolpolitik auf dem Rücken der Schwächsten, um eine Drohkulisse für die arbeitende Bevölkerung aufzubauen.
Bisher war die Übernahme der Wohnkosten von Leistungsminderungen ausgenommen – jetzt nicht mehr.
Damit droht Betroffenen nun die Obdachlosigkeit. Solche Sanktionen werden jetzt schon durch die Hintertür verhängt. Sie werden nicht Leistungsminderung genannt, aber haben denselben Effekt: Man entzieht Leistungen einfach komplett unter Zuhilfenahme anderer Paragrafen und dann werden auch die Mietzahlungen eingestellt. Und deshalb haben auch schon Menschen ihre Wohnung verloren, sogar Familien mit Kindern. Jede dritte Sanktion trifft Haushalte mit Kindern. Es ist unfassbar, was da jetzt beschlossen wird.
Zu Zeiten der Ampel-Koalition hat die SPD sendebewusst eine Abkehr von Hartz IV verkündet. Wundert sie, dass die Sozialdemokraten nun widerspruchslos bei der Verschärfung des Sanktionsregimes mitwirken?
Das wundert mich gar nicht. Die SPD hat jede Rückabwicklung des Bürgergelds mitgetragen. Sie schwimmt im politischen Trend mit, rechte Sozialstaats-Positionen zu übernehmen – in der Hoffnung, dass sie irgendwie in der Gunst der Wähler steigt.
Was laut Umfragen ja nicht zu gelingen scheint. Sehen Sie noch eine Möglichkeit, die Reform zu verhindern? Etwa durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts?
Karlsruhe hat 2019 ganz klar gesagt, dass die Kosten der Unterkunft niemals angetastet werden dürfen. Dennoch wird das Bundesverfassungsgericht nichts verhindern können. Für das damalige Urteil gegen die Hartz-IV-Sanktionspraxis hat es 17 Jahre gebraucht. Wenn wir wieder so lange warten müssen – und ich gehe davon aus, dass es zumindest Jahre dauern wird – hilft das nicht den Menschen, die schon sehr bald unter den Verschärfungen leiden werden.
Bliebe die Zivilgesellschaft …
Genau, man kann zum Beispiel seinen Abgeordneten schreiben. Wir haben gemeinsam mit Campact eine Mail formuliert, die man den jeweiligen Abgeordneten unkompliziert schicken und dazu auffordern kann, gegen die Totalsanktionen zu stimmen, wenn das Gesetz im Bundestag verhandelt wird. Menschen im Bürgergeld haben keine Lobby, da kann man seinen Abgeordneten zumindest wissen lassen: „Dafür habe ich euch nicht gewählt.“
Dieses Interview ist zuerst erschienen am 17. Dezember 2025
Helena Steinhaus ist Gründerin und Vorstand des Vereins Sanktionsfrei, der sich seit 2015 für eine menschenwürdige und sanktionsfreie Grundsicherung einsetzt. Im August 2023 erschien im Verlag S. Fischer ihr gemeinsam mit Claudia Cornelsen verfasstes Buch Es braucht nicht viel – Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair und armutsfest machen.